Polemik gegen Gauck im Netz: Tausendfaches Rülpsen

Geschrieben am 23. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.
Geschrieben am 23. Februar 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Online-Journalismus, Presserecht & Ethik.

Er hat mich betrogen, brach es aus Marianne heraus, der Ex-Ehefrau eines US-Präsidentschafts-Kandidaten. Im Fernsehen erzählt sie, ihr Ex-Ehemann habe seine Geliebte in ihr gemeinsames Washingtoner Schlafzimmer gelockt, als sie verreist war.

So garstig laufen in den USA die Wahlkämpfe vor einem ebenso neugierigen wie entrüsteten Publikum. Die Wähler sind anders gestimmt als im ruhigen Deutschland: Wer sich im Schlafzimmer daneben benimmt, der kann das Land nicht regieren. Das Privatleben ist der Test für das politische Wirken.

So tief sind wir in Deutschland nicht gesunken, selbst wenn nach den Wulff-Affären viele den Eindruck haben: Das Privatleben der Politiker ist für die großen Medien kein Tabu mehr.

Das frühere Leben der Wulff-Gattin war kein Zeitungs-Thema; zum Thema machte es der Ex-Präsident selber im TV-Interview. Im Internet gab es Zigtausende von Einträgen, in den Tagebüchern der Boshaftigkeit.

Selbst tausendfaches Rülpsen im Internet vergiftet nicht die öffentliche Debatte – wenn es nicht die seriösen Blätter oder TV-Sender aufgreifen. Das Internet ist für sich allein keine öffentliche Macht.

Joachim Gauck war der Liebling im Internet – bis zur Minute seiner Nominierung. Plötzlich wird er in den Online-Tagebüchern zerrupft mit verkürzten Zitaten und tölpelhaften Anwürfen. In 140-Twitter-Zeichen kann man pöbeln, aber eben nicht argumentieren.
(Leitartikel der Thüringer Allgemeine, 23. Februar 2012)

(zu: Handbuch-Kapitel 5 „Die Internet-Revolution“)

5 Kommentare

  • Es ist doch immer wieder traurig anzusehen, wie Ressentiments und Eitelkeiten diejenigen teilt, die sich eigentlich gar nicht so unähnlich sind. Der „Konflikt“ zwischen Journalisten und Bloggern ist fast so alt wie die Aufmerksamkeit für das Internet und hat einen ebenso langen Bart.

    Es ist ein wenig erschreckend zu sehen, dass Sie Herr Raue diese Suppe von Vorgestern aufwärmen, ohne sie irgendwie neu zu würzen.

    Man kann zu Gauck stehen wie man mag, aber ganz unjournalistisch, eben ohne Recherche, zu behaupten in diesen „Online-Tagebüchern“ würde nur gerülpst ohne auch nur auf einen der zum Teil sehr differenzierten Beiträge einzugehen und diese seitenlangen Argumentationen und Zitateabwägungen auch noch mit 140 Zeichen bei Twitter gleichzusetzen, zeigt doch nur, dass auch nicht alles, was in der Zeitung steht argumentiert ist. In diesem Leitartikel finde ich jedenfalls nichts, was einem Argument nahe käme und wenn es denn nur Meinung sein soll, dann habe ich schon Tweets gelesen, die differenzierter waren, obwohl sie nur 140 Zeichen haben.

    Warum immer dieser Gegensatz? Was verspricht sich der Journalismus eigentlich davon ständig eine Debatte zu befeuern (Internet doof – Journalismus toll), die eigentlich ja qua Selbstverständnis so unwichtig ist, dass nach Journalistischen Regeln diese gar nicht in die Blätter gehoben werden dürfte? Ist das Aufklärung? Oder nicht doch eher Alphatierchengehabe mit der Eitelkeit, die wohl viel eher das Problem des Journalismus ist, als irgendein neues Medium?

    • Ich würde mich über einige Beispiele freuen, in denen mit 140 Zeichen differenziert argumentiert wird.

  • Ich merke, mein Kommentar war zu rhetorisch, sodass sie sich gezwungen sahen, nicht auf diesen einzugehen. Sie wollen Tweeds, die differenziert argumentieren. Sicher. Hier drei Beispiele, ohne die jeweiligen Schlussfolgerungen zu meinen zu machen:

    https://twitter.com/#!/mspro/status/171609571213836288
    https://twitter.com/#!/presseschauer/status/172461914901843968
    https://twitter.com/#!/astefanowitsch/status/172273650345578496

    Und bitte folgen Sie auch den dort enthaltenen Links, denn diese sind existenzieller Teil der Tweeds. Twitter ist ein wunderbares Werkzeug. Um sich zu informieren, andere zu informieren, Argumente und rhetorische Nebelkerzen zu verbreiten, Meinungen zu haben, zu lästern, zu pöbeln und selbstverständlich auch, so man das will, zu rülpsen. Aber warum nehmen Sie allein eine der Möglichkeiten und behaupten, so sei es auf Twitter?

    Und warum fühlen Sie sich dazu berufen, immer wieder Blogs als Online-Tagebücher zu beschreiben? Weil sie es auch sein können? Ist Basic Thinking ein Tagebuch? Ist diese Seite hier ein Tagebuch? Muss man immer dann, wenn man in der Zeitung über Messer schreibt unbedingt hinzufügen, dass dies ein Mordwerkzeug ist, weil man damit töten kann? Sicher nicht, weil es irgendwie lächerlich wäre. Aber wenn es ums Netz geht, dann scheinen zu viele Regeln auf ein Mal nicht mehr zu gelten und das nervt, wie die ganze Diskussion nervt. Sie stehen damit ja nicht allein, ihre Meinung ist gut aufgehoben in medialen Zirkeln.

    Aber wie Sie in ihrem Artikel schreiben: die Medien haben für sich allein keine digitale Macht. Es interessiert doch schon lange niemanden mehr, was Medienmenschen, die Twitter nicht nutzen, zu Twitter schreiben. Und es interessiert doch schon lange niemanden mehr, was Medien über Blogs schreiben. Man nutzt Twitter oder lässt es bleiben, man liest auf Blogs und weiß häufig nicht, dass man es tut. Man nutzt das Internet eben.

    Nutzen Sie Twitter? Und ganz ohne Polemik, wenn nicht, probieren Sie es mal aus. Denn man hat selbst in der Hand ob man Rülpsern oder Informanten folgt.

    • Gut, bei Twitter geht es nicht um differenzierte Argumentation, sondern um Hinweise auf Artikel, in denen differenziert argumentiert wird. Also kümmern wir uns um diese Artikel.

      Es geht auch nicht um einen Streit zwischen Bloggern und Redakteuren, da haben Sie Recht. Es geht um journalistische Prinzipien wie saubere, möglichst auch tiefe Recherche, verständliche Sprache und Trennung von Nachricht und Meinung. Beherrscht ein Blogger diese Prinzipien, steht er in nichts dem Redakteur nach; missachtet ein Redakteur diese Prinzipien, hat er sich vor dem ehrlichen Blogger zu verbeugen.

      Fehler werden auch in Zeitungen und Magazinen gemacht. Unser „Handbuch“ geht mit Zeitungen härter ins Gericht als mit Bloggern, es zitiert ausführlich eine Studie von Professor Philip Meyer der Universität von North Carolina: „Die Hälfte aller Artikel sind fehlerhaft“ (Seite 96).

      Dennoch haben Redakteure einen Vorteil vor den Bloggern: Ihre Themen und Artikel werden in Redaktionen vorab diskutiert, in Konferenzen besprochen, von Redakteuren gegengelesen – ehe sie zum Leser kommen. In den Blogs ist es meist umgekehrt: Erst schreibt einer, dann wird diskutiert – und der Leser quält sich oft durch lange Kommentar-Listen.

      Immer mehr Zeitungen besinnen sich auf eine konsequente Qualitäts-Kontrolle, schreiben grundsätzliche Regeln in Hausbüchern fest und kontrollieren systematisch. Ich verweise auf meinen heutigen Eintrag: „Der Fehler-Eisberg“.

      Es gibt übrigens im „Handbuch“ ein eigenes Kapitel: „Was Journalisten von Bloggern lernen können“. Im Streit schlagen wir uns nicht auf eine Seite, sondern allein auf die Seite des professionellen Journalismus, der seine Prinzipien achtet und der Demokratie dient.

      (zu: Handbuch-Kapitel 17 „Die eigene Recherche“ und Kapitel 10 „Was Journalisten von Bloggern lernen können“)

  • Warum denn überhaupt zwischen digitaler und medialer Öffentlichkeit unterscheiden? Das Internet ist doch mittlerweile ebenso ein gewichtiger Teil unseres Lebens, wie es Zeitungen, Stammtische, und Meinungsverschiedenheiten in Versammlungen sind. Diese Unterscheidung macht doch einfach keinen Sinn mehr. Ebensowenig wie es „das Internet“ gibt, gibt es doch auch nicht „die Medien“ Herr Meier. Die Bild ist nicht zu vergleichen mit dem Geo oder dem goldenen Blatt. TV Spielfilm will etwas anderes als die Süddeutsche. Eine Regionalzeitung etwas anderes als der Cicero oder die Titanic.

    Die Medien sind ein ebenso nutzloser Überbegriff, wie das Internet. Twitter, Facebook, Blogs sind die Ansammlung eine ebenso großen Komplexität wie Zeitungen, Magazine und Einwurfsendungen. Viel Müll dabei und etwas Glanz.

    Was sich geändert hat sind die Lernpraxen, die man braucht um Müll und Glanz zu unterscheiden. Reichte es Mal die „richtige“ Zeitung zu abonnieren, muss man auf Twitter, Facebook und Blogs eben sehr viel genauer auswählen. Und die Grundlage, um dort informiert zu sein, sind meist eben doch noch „Medien“. Also Spon und Konsorten. Aber der Mix verschiebt sich. Auch die Art der Informationsaufnahme verschiebt sich. Aber dadurch verschiebt sich nichts hin zu einem Entweder…oder.

    Mediengetrommel, dem obigen Leitartigel nicht ganz zu Unrecht unterstellt, gegen „das Internet“ nervt tatsächlich, aber nicht weniger die mit einigem Antrieb wöchentlich durchs Dorf getriebenen Säue, mit denen man sich Online beweisen versucht, dass man doch etwas erreichen kann. Kann man, da braucht man keine Kampagnen für. Man brauchte auch nicht die Wulffdemission, um zu Wissen, dass die Bild eindeutig Einfluss auf Politik und öffentliche Meinung hat. Und auch das hat genervt.

    Vielleicht wäre es deshalb ratsam, wegzukommen von einem Streit, der in sich weder weiterführt, noch irgendein unterscheidendes Argument überhaupt hervorbringen kann und sich hinzuwenden zur Überlegung, was richtige mediale Praxen sind und welche eben nicht richtig sind. Kampagnen sind es wohl weniger. Meinungen sind wichtig, auf Twitter, Blogs und in Leitartikeln. Sie müssen aber als solche gekennzeichnet sein. Fakten und Tatsachen sind richtig und wichtig, können aber auch keine Kampagne rechtfertigen etc. Daraus entstehen doch die eigentlichen Probleme.

    Dem Streit zwischen Netz und Medien liegt eine vollständig falsche Prämisse zugrunde: das Internet ist ein Medium. Ist es nicht! Und deshalb kann es auch kein besseres oder schlechteres oder irgendwie unterscheidbares Medium sein. Denn das Internet ist ein Medium des Mediums. Alle bisher bekannten Medien sind in ihm aufgehoben. Radio, Fernsehen, Print, Stammtisch, Pranger, Forum, Marktplatz etc. Das Internet ist auch kein Werkzeug mehr, es ist vielmehr ein Teil von uns geworden. Das Stichwort hier wäre: extended mind. Eine wissenschaftlich mittlerweile recht fundierte Position, die in ihren Anfängen auf Heidegger und Husserl zurückgeht und aufzeigt, dass Werkzeuge zu Alltäglichkeiten und so zu uns selbst werden, die wir auch unsere Alltäglichkeiten und Gewohnheiten sind. Das Internet ist eine solche alltägliche Gewohnheit. Wir nutzen auch nicht mehr den Computer, um ins Internet zu gehen, sondern sind es ständig, mit Computer, Smartphone, Tablet, Netbook und Laptop. Wir sind (fast) immer Online und das Internet ist schon lange kein Medium mehr, was wir nutzen, denn diese Reflexion ist in der alltäglichen Gewohnheit aufgelöst.

Diskutieren Sie mit uns den Artikel "Polemik gegen Gauck im Netz: Tausendfaches Rülpsen"