„Schreiben ist wie eine Unterhaltung mit dem Leser“, sagt Julian Barnes

Geschrieben am 11. November 2016 von Paul-Josef Raue.
Barnes Julian Foto Kiepenheuer & Witch

Julian Barnes bekanntestes Buch erscheint bei Kiepenheuer & Witch. (Foto: kiwi)

„Ich will nicht über dem Leser thronen und ihm die Welt erklären“, bekennt der britische Autor Julian Barnes. Franziska Augstein interviewte ihn für die SZ vor der Verleihung des Siegfried-Lenz-Preises.

Journalisten können von Schriftstellern lernen, erst recht wenn sie über den Journalismus zur Literatur gekommen sind wie Julian Barnes. Das ist sein Verhältnis zu den Lesern, vorbildlich für Journalisten:

Ich stelle es mir eher wie eine Unterhaltung vor: Der Leser, die Leserin und ich, wir sitzen in einem Café, und ich zeige auf die Straße: Schau mal, was glaubst du, was da los ist, haben die zwei eine Affäre? Warum trägt der da einen so bekloppten Hut? Und die Frau dort läuft mit einem Gehstock, gestern hatte sie noch keinen Stock. – Ich bin kein didaktischer Autor. Mein Verhältnis zu meinen Lesern betrachte ich als Miteinander.

Dass Schreiben nicht nur Spaß ist, belegt auch Barnes, der einräumt: Die erste Seite arbeite ich fünfzig, sechzig Mal durch. So viel Zeit dürften Journalisten mit dem ersten Satz nicht bekommen, der vergleichbar der ersten Seite eines Buchs ist – auch der erste Satz ist „ein Vertrag mit dem Leser“ so formuliert es Barnes.

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Quelle: SZ, 11. November 2016: „Die erste Seite ist der Vertrag mit dem Leser“

1 Kommentar

  • Dieser Beitrag über eine Äußerung von Julian Barnes gefällt mir sehr gut! Ich teile die These, dass journalistisches Schreiben eine „Unterhaltung“ mit dem Lesepublikum sein sollte. Doch dies ist abhängig von der „Textsorte“. Es ist halt ein Unterschied, ob ich einen Nachrichtentext schreibe, einen Kommentar oder einen Reisebericht. Abgesehen davon sind in einem guten unterhaltsamen Text auch immer „belehrende Info-Elemente“ drin. Dies bedeutet nicht, dass Autorin oder Autor über dem Lesepublikum „thronen“. Unsereins, ob per Print, online oder andere Medien hat meist Neuigkeiten mitzuteilen oder zu kommentieren. Zu welch anderem Zweck denn wird geschrieben? Es soll Intressantes mitgeteilt werden, Lesestoff halt. Ich bleibe bei meiner uralten simplen These, dass das Lesepublikum die Schreiber „erzieht“ und von denen erwartet, dass sie zugleich informativ und unterhaltsam schreiben (Textsorte). Per Wort und Bild „Verführung“ zu neuen Erkenntnissen. Doch dies ist eher ein Job von Schriftstellern, zu denen sich arg bemüht mancher ambitionierter Alltagsjournalist gerne zählen möchte. Selber hatte ich selten so viel Not, nach einer Reise durch die baltischen Länder Geografisches, Historisches und politisch Aktuelles samt schildernder Unterhaltung über Land und Leute und viele Eindrücke wie über Vilnius, Riga und Tallinn zu erzählen. Alles leider nur in Kürze, obwohl mir in einer Wochenendbeilage gleich zwei Seiten eingeräumt wurden. (Noch nicht gedruckt.) In Riga, in der Jugendstil- Alberta- Straße etwa sprach mich ein kleiner Junge an, der seinen Hund vermisste. Verstand kaum ein Wort, hatte aber den Streuner kurz zuvor gesehen und wir konnten den rasch wieder einfangen. Dann kam auch noch die junge Mutter aus ihrem Textilgeschäft und bat um ein Familienfoto von Sohn, Hund und sich als Mama. Zeichensprache. Die Schilderung einer solchen Begegnung hätte mich zehn Zeilen gekostet. Weg damit. Die Verbindung zwischen dem Bremer Roland vor dem“ Schwarzhäupter“-Ensemble. und dem Herder-Denkmal beim Rigaer Mariendom? Ein Foto zur gigantischen Orgel im Marienendom? Weg damit. Kaliningrad und Kant? Weg damit. Entscheidung für das Thomas-Mann-Ferienhaus auf der kurischen Nehrung bei Nida. Sie wissen es selber, welche auch erzählerischen Entscheidungen man bei selbst gewählten Themen man treffen muss, ohne über „den Leser“ zu thronen. Übrigens habe ich diese Zeilen nicht aus „Selbstmitleid“ geschrieben. Nach wie vor nehme ich gerne gut bebilderte Herausforderungen an. Ohne eigene gelungene Fotos anzugucken, beginne ich erst gar nicht mit der Schreiberei. Zu der gehören die dazu. Entschuldigen Sie/Du bitte, dass mal wieder ausführlicher geantwortet habe zum Komplex „Unterhaltung mit dem Leser“. Ich meine, mal erwähnt zu haben, dass ich kürzlich bei einer Medientagung der „Studienstiftung“ in Dresden mit Sergej Lochthofen reden konnte, Er erzählte biografisch auch über Workuta.- Es waren neulich „russische Arbeiter“, die das Gerüst rund um unsere Scheune aufgebaut haben. Ich fragte einen von denen, wo genau er aufgewachsen ist. „Workuta. Kennst du nicht.“ – „Das stimmt, aber ich weiß, was dieser Ortsname Schreckliche bedeutet.“ – So klein ist die Welt und zugleich ebenso kompliziert, um daraus „Unterhaltungsstoff mit dem Leser“ zu schaffen.LG vom Wolfgang Kretschmer, dessen Vornamen in Litauen in „Wolfgangas“ umgetauft wurde. Vor Jahren mal im Piemont in „il Lupo“. Schreibend zu erzählen ist ein harter Job, wenn man nicht die Zeit hat, sich selber in „Schwingungen“ zu versetzen, die einen Text/eine Textsorte lesbar machen.

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