Die Einheitsfrage mutet die „Zeit“ nur ihren Ost-Lesern zu
„Ist der Westen noch der Maßstab?“, fragt die Zeit 18 Deutsche, davon die Mehrheit im Westen geboren. Sie nennt die Frage die „Einheitsfrage“ und stellt fest: Das Verhältnis zwischen Ost und West hat sich grundlegend geändert.
Das mag sein – aber nicht für die Zeit. Denn die Antworten auf die Frage stehen nur in der Ost-Ausgabe, also nahezu unter Ausschluss der bundesdeutschen Öffentlichkeit. Den Lesern im Westen mutet man weder Frage noch Antworten zu. Kann eine Redaktion deutlicher machen, was sie von den Menschen im Osten hält?
Die klügste Antwort gibt die Schauspielerin Claudia Michelsen, die bald ihre Premiere feiern darf als Kommissarin im Magdeburger „Tatort“. Sie stellt eine Gegenfrage:
Die Frage, inwieweit der Westen noch Maßstab ist, klingt für mich fast wie eine Drohung. War der Westen jemals Maßstab?
Die Ost-Leser bekommen die „Zeit im Osten“ als vier zusätzliche Seiten am Ende des ersten Buchs. Da geht das schönste Stück Übersichtlichkeit für die Ost-Zeitler verloren: Die komplette Inhalts-Übersicht auf der letzten Seite des ersten Buchs ist ein exzellenter Service. Der Inhalt, auf eine viertel Seite geschrumpft, steht im Osten auf der drittletzten Seite. Welch ein Verlust!
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Gemäß dem Tenor einiger Leserbriefe in der aktuellen Ausgabe fühle auch ich mich beleidigt von der „Zeit im Osten“: Dachte ich doch jahrzehntelang, mit der Mauer wäre auch die getrennte Berichterstattung abgeschafft worden. Besonders absurd ist die Lancierung der neuen Regionalausgabe kurz vor dem Tag der deutschen Einheit, ohne kritische Stellungnahme der Zentralredaktion in Hamburg. Was sagt die Notwendigkeit einer Regionalausgabe über den geistigen Zustand dieser deutschen Einheit aus? Beugt sich hier der kritische Geist dem Diktat der zielgruppenspezifischen Absatzsteigerung? Das sicherlich gut gemeinte journalistische Interesse am Osten trifft auf ein berechtigtes Bedürfnis ostdeutscher LeserInnen nach Sichtbarkeit und Identität – aber verstärkt es nicht auch Ostalgie und Abgrenzung? Diese Regionalausgabe trägt in keinster Weise zu einem Dialog zwischen Ost und West bei – ein Armutszeugnis für beide Redaktionen, in Dresden und in Hamburg!
Am schlimmsten finde ich die Intransparenz, mit der die „Zeit im Osten“ weder in der gesamtdeutschen Ausgabe, noch in der Online-Redaktion erwähnt wird. Die eine Hälfte Deutschlands kann gar nicht wissen, was die andere liest und umgekehrt – das ist ja noch schlimmer als vor 1989, auch wenn es nur um drei Seiten im Politikteil geht! Die fehlende Wahlfreiheit für Abonnenten ist dagegen „nur“ eine Fortsetzung der alten Zustände.
Beschwert habe ich mich schon zweimal vor fast einem Jahr – denn als sächsische Abonnentin komme ich schon seit Langem in den zweifelhaften Genuss der „Zeit im Osten“. Gekündigt habe ich das Abo trotzdem nicht, weil ich die Zeit so sehr schätze und die übrigen 80 Seiten nicht missen möchte. Und doch bleibt die Scham, das Gefühl der Ohnmacht jede Woche – und ich frage mich, wieviele Abonnenten im Osten das gleiche Dilemma empfinden wie ich. Was ich mir eigentlich wünsche, ist die Aufnahme der Ostartikel in die Gesamtausgabe, mindestens aber verlange ich als Leserin Transparenz: eine öffentliche Stellungnahme der Zentralredaktion, eine leicht zu findende Online-Rubrik „Zeit im Osten“ und die Veröffentlichung aller Artikel der besagten drei Seiten im Internet mit dem Tag der Erscheinung. Dann kann ich wenigstens mit meinen Freunden im Westen über die gleichen Themen diskutieren, fast so wie früher.
AnjaB steht mit Ihrer Meinung nicht alleine da. Ich weiß, dass viele Menschen genauso denken. Die im „Westen“ wissen wirklich nicht, was in einer Sächsischen Zeitung zu lesen íst. Es zeigt doch mal wieder, dass hier noch ganz alte Strukturen aufgebrochen werden müssen.
Viele Grüße Hannah