Die Zeitung macht den Untertanen zum Bürger! Wir brauchen eine Leselust-Prämie für die Schulen!

Geschrieben am 18. März 2014 von Paul-Josef Raue.

Warum geben wir Millionen von Euro für die Anschaffung von Tablets und Notebooks und Whiteboards in den Schulen aus – aber für Lese-Projekte haben wir kaum Geld übrig?

Die Frage stellte ich auf der Leipziger Buchmesse beim 2. Mitteldeutschen Bildungstag. „Ist die Zeitung zeitgemäß für die Schule“ lautete die Frage. Meine Antwort in einem Vortrag war eindeutig „Ja“:

Wer liest, entdeckt die Welt: Er weiß viel, er denkt mit, und er macht mit – in der Gesellschaft, in der sich Menschen souveräner bewegen, die sich Urteile bilden können anstatt Vorurteilen hinterher zu laufen. Die Zeitung macht den Untertanen zum Bürger.

Nicht die Hardware ist wichtig für die Bildung der Zukunft, sondern die Software, der Inhalt der Bildung, das was der Direktor Andreas Jantowski von der Thüringer Lehrerfortbildung (Thillm) Weltverständnis nennt und was im „Handbuch des Journalismus“ Weltkenntnis genannt wird.


Der komplette Vortrag am 14. März 2014:

Ich habe eine schwierige Klasse“, erzählt ein Lehrer, „am schlimmsten ist es am frühen Morgen. Die Schüler sind aggressiv, laut, springen wild umher, ohne jede Disziplin. Das änderte sich radikal, als wir morgens eine Zeitung für jeden Schüler bekamen. Ich hatte mich entschlossen, vor dem Unterricht eine halbe Stunde für die Zeitungslektüre zu geben.
Von einem Tag auf den anderen erkannte ich meine Klasse nicht wieder: Sie stürzten sich auf die Zeitung, unterhielten sich mit ihren Nachbarn über Artikel, halfen einander, wenn sich einer in der Zeitung verirrte. 

Klar musste ich mich auch zurückhalten. Sie lasen nicht die Artikel, die ich mir gewünscht hatte: Statt Politik   stand der Sport vorne, statt Kultur das Vermischte. 

Dieser Zeitungs-Auftakt am Morgen tat dem gesamten Unterricht gut. Als nach vier Wochen keine Zeitung mehr in die Schule kam, fehlte uns etwas – etwas Wichtiges. Das gemeinsame Lesen war zum Ritual geworden.

Dieses Gespräch mit einem Lehrer führte ich vor 25 Jahren. In der hessischen Universitätsstadt Marburg fand das vielleicht erste Schul- und Zeitungsprojekt statt, in dem eine Zeitung und eine Lehrerfortbildung zusammen in die Schule gingen.
(Es wäre wohl eine schöne Aufgabe herauszufinden, was sich in den Jahrzehnten solcher Schul-Zeitungsprojekte alles verändert hat: Welche Themen spielten 1985 eine Rolle, welche 2000 und welche heute? Wie sahen Lehrer die Projekte vor 30 Jahren? Und wie heute? Wie unterscheiden sich diese Projekte in West und Ost?)

25 Jahre – das scheint mit Blick auf Medien, aber auch auf die Gesellschaft eine Ewigkeit zu sein. Vor einem Vierteljahrhundert kannte kaum jemand das Internet, flächendeckende Netze für Handy wurden erst aufgebaut, das „Smartphone“ stand noch nicht einmal im Duden.

Die piependen oder singenden oder kreischenden Smartphones nerven heute die Lehrer. So haben wir schon einen Vorzug der Zeitung ermittelt, der ein Vierteljahrhundert überlebt hat:

Wer liest, braucht Konzentration und Ruhe; Lesen ist kein Nebenbei-Medium wie Radio-Hören oder Fernsehen auf dem Smartphone mit seinem kleinen Bildschirm. Hirnforscher warnen sogar davor, uns nur den hektischen Medien anzuvertrauen: Die Fähigkeit, sich zu konzentrieren leide schon  – und sei bei den Studenten an den Universitäten   unübersehbar. 

Ich vermute, dass der Leseknick nach der zweiten Klasse – also Sieben- und Achtjährige lesen kaum noch – dass dieser Leserknick mit der Überforderung des Bewusstseins zu tun hat. Aber das ist nur eine Vermutung. 

Offenbar verändern sich unser Gehirn und unser Bewusstsein nicht so rasant wie die Smartphone-Industrie, die uns schon Brillen und bald Kontaktlinsen anbieten wird, durch die wir nicht  nur die wirkliche Welt sehen werden, sondern eine zweite und dritte Welt, die andere für uns zubereiten.

Dagegen ist die Zeitung ein Ruhe-Pol, ein Kälte-Pol – eben das genaue Gegenteil von Fiktion, auch das Gegenteil von „Second-Hand-Nachrichten“, also von allem, was geliket, gelinkt und abgekupfert wird in Twitter und Facebook und anderen Netzwerken.

Doch ich will nicht in eine wohlfeile Kulturkritik einstimmen: Unsere Welt und unsere Gesellschaft ist, wie sie ist. Dreißig Millionen Deutsche bewegen sich schon im mobilen Internet. bei der Altersgruppe unter dreißig sind es schon fast alle.

 Das bedeutet aber nicht, dass wir – wenn wir über die nächste Generation sprechen – nicht gegensteuern können. So etwas nennen wir Bildung, und die Institution, die wir dafür geschaffen haben, ist die Schule.

Dabei muss die Zeitung nicht unbedingt gedruckt auf Papier erscheinen; sie kann auch auf dem Bildschirm eines Computers oder Smartphones zu lesen sein. Ich möchte nur am Rande die Vorteile des Papiers andeuten:

Hinter einen Zeitung habe ich mehr Ruhe als vor einem Computer; ich kann mich besser konzentrieren und mir einfacher einen Überblick verschaffen als auf einer Homepage. Das ist im Unterricht nützlich, aber mehr nicht.

Übrigens: Gehen Sie mal im Bahnhof oder am Flughafen in den Zeitschriften-Laden: Die größte Abteilung sind die Computer-Magazine; zu den großen gehören auch die Jugend-Zeitschriften. Warum wohl?

Es stimmt auch nicht, dass sich jungen Leute  nicht mehr aus seriösen Quellen informieren – oder sich überhaupt nicht mehr für Politik im weiteren Sinne informieren.

 Zwar schauen Jugendliche  seltener als ihre Eltern in die gedruckte Zeitung, aber im Internet schlagen sie die Seiten der bekannten Magazine und Zeitungen auf – mit weitem Abstand vor der Tagesschau und anderen TV-Sendern. Das ist das Ergebnis einer Umfrage unter knapp 600 Schülern zwischen 12 und 22 aller Schulformen, die  Josephine B. Schmitt von der Universität Hohenheim im Januar vorgestellt hat.
 
Die Zahlen sind beeindruckend und überraschend: 

> 29 Prozent der Schüler nennen die Online-Angebote von Printmedien, wenn sie gefragt werden „Welche Internetseite nutzt Du aktuell am häufigsten, um dich über das tagesaktuelle politische Geschehen zu informieren?“ 

> Die sozialen Netzwerke folgen weit dahinter mit 15 Prozent, 

> Google-News und ähnliche mit 10 Prozent; 

> die Öffentlich-Rechtlichen erreichen 8 Prozent, knapp hinter den Privaten wie N24 oder ntv.
 
Josephine B. Schmitt meint: „Offensichtlich wirkt sich die Strahlkraft der auch aus der Offlinewelt bekannten Medienmarken im Internet positiv aus und gibt den jungen Nutzern das Gefühl, dass sie auf den entsprechenden Portalen verlässliche Inhalte finden.“
 
„Gut lesbar und einfach zu verstehen “ muss das ideale Online-Nachrichtenmedium für die jungen Leute sein; da unterscheiden sie sich nicht von den älteren Lesern. Das sind die entscheidenden Kriterien für eine Nachrichtenseite, die Jugendliche gerne nutzen wollen:

 1. Verständlich muss sie sein.
2. sie ist aktuell („Sie informiert sofort, wenn es etwas Neues in der Welt gibt“)
3. sie ist unterhaltsam und abwechslungsreich
4. sie hat Bildergalerien
5. sie ist neutral
6. sie hat viele Hintergrund-Informationen
 
Keine große Rolle spielt die Partizipation, allenfalls mögen Jugendliche Umfragen und die Möglichkeit, Artikel zu bewerten. 
 
Allzu sicher können sich die Journalisten von Zeitungen und Magazinen aber nicht sein, dass Jugendliche den hohen Wert von seriösen Angeboten erkennen.

„Die Vertrauenswürdigkeit von Nachrichtenquellen sind von geringerer Bedeutung“, stellt Josephine B. Schmitt fest. Daraus folgert sie – für Lehrer und Journalisten: Jugendliche müssen noch intensiver hinsichtlich der Herkunft und Vertrauenswürdigkeit von Informationen sensibilisiert werden.
Also – es kommt nicht darauf an, ob Papier oder Bildschirm, es kommt auf den Journalismus an. Es geht, ohne Übertreibung, um unsere Demokratie, es geht darum, wie wir künftig zusammenleben wollen. 

Lesen als Kulturfähigkeit ist ein Merkmal einer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft. Jedes Mitglied der Gesellschaft kann sich immer wieder selbstständig orientieren, informieren, sich neu justieren und sich so in die Gesellschaft einbringen.

 

So hat der Direktor des Thillm seinen Vortrag eingangs des Mitteldeutschen Bildungstags geschlossen. Ich gehe noch weiter:

Ohne unabhängigen Journalismus wird unsere Freiheit bald nicht mehr viel wert sein; ohne die Kontrolle der Mächtigen werden wir mit Propaganda abgespeist. Macht kontrolliert sich nur selten selber, sie neigt zur Selbstherrlichkeit und Abschottung.

Unsere Demokratie ist angewiesen auf Bürger, die gut informiert sind. Sie ist angewiesen darauf, dass eine Mehrheit der Gesellschaft informiert ist über die wichtigen Angelegenheiten und Debatten. Nur wer gut informiert ist, kann gut mitreden.

Wenn der Bürger nicht mehr Bescheid weiß, nehmen wir ihm seine Macht, nehmen wir der Demokratie ihre Vitalität.
Überlegen Sie sich bitte: Was passiert mit unserer Demokratie, sagen wir in zehn Jahren, wenn die Mehrzahl der Bürger keine Zeitung mehr liest – oder sagen wir: ohne seriösen, unabhängigen Journalismus in Wahlen geht und mitentscheiden soll?

Wir kennen heute schon den Zusammenhang: Dort wo die Menschen kaum Zeitungen abonniert haben, ist die Wahlbeteiligung gering. Zeitungs-Verweigerung und Wahl-Verweigerung gehören leider zusammen.

Die Grundlage für eine gut informierte Gesellschaft kann und muss die Schule schaffen. Wir wissen von großen Zeitungsprojekten in Schulen: Es ist möglich, die Lust am Zeitungslesen zu entfachen. Das setzt voraus, dass sie erst einmal eine Zeitung in die Hand bekommen, dass sie die Technik des Zeitungslesens lernen (ja, das muss man lernen), dass sie die Lust und die Möglichkeiten des Zeitungslesens entdecken.

Wer junge Menschen daran hindert, die Lust am Lesen zu wecken, schadet ihnen und schadet – auf die Zukunft gesehen – unserer Demokratie. Dafür  brauchen wir keine Milliarden wie zur Rettung böser Banken. Wir könnten eine millionenstarke Leselust-Prämie gebrauchen. Wer so viel Phantasie hat, Abwrack-Prämien für Autos zu erfinden, könnte auch eine Leselust-Prämie erfinden. 

Ich bin sicher: Die meisten Lehrerinnen und Lehrer machen mit. Meine Erfahrung aus fast dreißig Jahren mit Zeitungs-Schulprojekten ist eindeutig: Die meisten Lehrer machen sogar begeistert mit, wenn sie die erste Scheu abgelegt haben und sich die Schulleiter nicht allzu sehr querlegen und  Eltern nicht allzu aufmüpfig sind und schimpfen „Unsere Kinder sollen viel lernen und nicht Zeitungen lesen“.  

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Die Thüringer Allgemeine veranstaltet das Zeitungsprojekt „Tinte“ für Grundschüler zusammen mit dem Thillm. Im vergangenen   Jahr haben mitgemacht tausend Schüler aus über 50 Klassen. Die Schüler haben nicht nur gelesen, sondern auch selber geschrieben: Fast 400 Zeitungsseiten sind in dem sechswöchigen Projekt entstanden.

Die Schüler bekamen ein Schülerheft, Reporterausweise und -blöcke, lernten den Aufbau der Zeitung kennen (Was ist ein Aufmacher?  Was kommt  in eine Nachricht? Was gehört in eine Reportage?), sie werteten Texte aus, schrieben erst kleine Nachrichten, dann längere Texte über ihre Schule, das Projekt und ihre Stadt. Die Kinder interviewten Lehrer, Direktoren, Redakteure, Händler, Marktfrauen und Politiker.

Es gibt eine Auftakt- und eine große Abschlussveranstaltung, bei der alle Klassen ihre Tinte-Projekte zeigen und vorführen. Auch im Internet wird das Projekt natürlich umfangreich begleitet.

„Tinte“ geht weiter, auch wenn es im Osten – im Gegensatz zu Zeitungen und Schulen im Westen – schwierig ist, Sponsoren zu finden.

Im Anschluß an die Vorstellung der Thüringer „Tinte“ stellte die Leipziger Volkszeitung ihr Schulprojekt auf dem Mitteldeutschen Bildungstag vor.

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