„Es war einmal ein Buckliger“ – Wie schreiben wir von Behinderten? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Wer an die ostpreußische Ostsee-Küste fährt, kann mit ein wenig Glück nach einem Sturm Bernsteine finden. In den schönsten Steinen sind Insekten eingeschlossen, die nicht rechtzeitig mehr den Abflug gefunden haben. „Inklusion“ nennen Wissenschaftler diese Laune der Natur und fanden dafür ein lateinisches Wort: Inkludieren, das ist „einschließen“.

Das „Inkludieren“ war lange Experten vorbehalten in der Mineralogie, Mathematik oder Medizin, bevor es Reiseveranstalter populär machten: „All inclusive“ in Mallorca führt zu hemmungslosem Essen und Trinken.

In den vergangenen Jahren wanderte die „Inklusion“ vom Bernstein, der Mengenlehre und den Inklusiv-Gelagen der Touristen – in unsere Schulen. „Inklusion“ meint den gemeinsamen Unterricht von Behinderten und Nicht-Behinderten. Wie sinnvoll eine solche Wörter-Wanderung ist, wäre eine Debatte wert; aber der Begriff ist bei Eltern und Schulpolitikern eingeführt.

Wahrscheinlich mögen wir das lateinische Wort, weil wir in unserer Sprache unentwegt über „Behinderte“ stolpern. Wir wollen politisch korrekt sein und niemals diskriminierend vom „Spasti“ sprechen, wie üblich in der Jugendsprache der neunziger Jahre. Aber was ist korrekt?

Dürfen wir einen Menschen etwa einen „Buckligen“ nennen? Günter Grass tut es in seiner „Blechtrommel“: „Es war einmal ein Buckliger, der hieß Matzerath und ergoß in der Irrenanstalt auf jungfräuliches Papier sein dreißigjähriges Leben.“ Immerhin bekam Grass den Literatur-Nobelpreis.

Auch Journalisten tun sich schwer, verirren sich in gutgemeinte Klischees wie „Die Frau meistert tapfer ihr Schicksal“ oder „Der Mann ist an den Rollstuhl gefesselt“. Barrieren in der Sprache – so lautet das Thema einer Arbeitsgruppe, wenn sich Lokaljournalisten zu einer Redaktionskonferenz treffen: Sprechen wir von „behindert“ oder „gehandicapt“ oder „eingeschränkt“? Wie reagieren Behinderte selber auf die sprachliche Verunsicherung?

Die Journalisten wollen einen Leitfaden für treffende Begriffe aufstellen. Wir sind gespannt.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 19. Oktober 2015,

Zur Info:

Die Redaktionskonferenz wird veranstaltet von der Bundeszentrale für politische Bildung: „Ganz normal – oder was?“ vom 23. bis 25. November in Warendorf.  In der Ankündigung wird von „absurden Fällen“ berichtet: Ein 13-jähriger Gymnasiast muss die Mädchentoilette benutzen, weil es kein Jungs-Klo an der Schule gibt, das breit genug für seinen Rollstuhl wäre; bei einer Innenstadtsanierung baute man die neuen Straßenlampen, eine hinter der anderen, auf dem Blinden-Leitsystem…

 

 

8 Kommentare

  • Ich habe jahrelang im größten deutschen Behindertenverband gearbeitet (u.a. bei der Einführung des Sozialrechts in Thüringen ab Januar 1991) – von diesem Neusprech halte ich gar nichts, Wortungetümen à la „Menschen mit Behinderungen“ verweigere ich mich, wohl wissend, daß es mitunter auch die Umstände sind, die Behinderungen verschärfen. Aber es ist leichter, ein bißchen Wortkosmetik zu betreiben und sich somit auf der Seite der Guten zu wähnen – als in ‚Nachteilsausgleiche‘ (terminus technicus des Behindertenrechts) zu investieren oder einfach mal im Allttag dem behinderten Senioren von nebenan mit der schweren Einkaufstasche zu helfen.

  • … und doch, lieber Günter Platzdasch, muss auch darüber geredet und geschrieben werden. Das mit dem Helfen, etwa beim Tragen über Einkaufstaschen ist gut und wichtig, aber die richtigen Worte finden ebenfalls. Und da gestehe ich, fühle ich mich stets auch unsicher und freue mich über jede Hilfe, die mir für angemessenes Sprechen und Schreiben zuteil wird. Deshalb finde ich es gut, was die Redaktionskonferenz da vorhat… Wichtig ist, dass dabei von Behinderungen betroffene Personen mitberaten…
    Anton Sahlender, Leseranwalt der Main-Post

  • Was wären unsere Taten ohne die richtigen Worte? Wie viele Menschen tun Gutes und reden schlecht? Ja, Herr Platzdasch, Sie haben Recht, aber das reicht nicht: Wir müssen so sprechen und schreiben, dass wir keinen verletzten, dass wir Respekt zeigen – und verständlich sind. Dass es auch Menschen gibt, die laut tönen und sich unentwegt auf die Seite der Guten stellen, müssen wir schulterzuckend zur Kenntnis nehmen, das reicht.

    • Die richtigen Worte zu finden, ist auch mir wichtig. Drum zieren mein Bücherregal Werke von „Wustmanns Sprachdummheiten“ (11. Aufl. 1943) über Victor Klemperer „LTI“ (1966) E. A. Rauter „Vom Umgang mit Wörtern“ (1978) bis Wolf Schneider/Paul-Josef Raue „Das neue Handbuch des Journalismus“ (Neuausgabe 2003). Aber es gibt m.E. wie im Politischen oder Religiösen auch im Linguistischen/Semantischen einen Extremismus, den ich nicht mitmachen mag. Stichworte: Astrid Lindgren und Bibliotheksräumung, die unlängst Lorenz Jäger in F.A.Z. glossierte, gedankenloser, sich hochgebildet dünkender Sinti-und-Roma-Sprechzwang, den sich etliche Zigeuer verbitten – und eben auch die Rede von „Menschen mit Behinderungen“ statt Behinderte, Blinde usw. Ich halte übrigens auch den Anspruch, mit Diktion „keinen verletzen“ zu dürfen, für überzogen. Dann müßte man sich an irgendwelchen Ideosynkrasien ausrichten, wie skurril auch immer. JEDEM kann man’s nicht recht machen. Nicht offensichtlich, von vornherein verletzende Worte zu benützen, den Anspruch sollten wir mindestens haben. Über die Grenzen dabei streiten wir – auch hier.

  • Lieber Herr Platzdasch,
    Sie geben eine beeindruckende kleine Liste von Büchern zur Sprache: Klemperer und Rauter sollte man unbedingt lesen! Den Wustmann kenne ich nicht. Können Sie von ihm und seinem Buch (von 1943!) ein wenig berichten?

    • Lieber Herr Raue,
      daß Sie den leider so früh gestorbenen E.A. Rauter auch kennen, überrascht mich; müßten wir uns mal über Insider-Kenntnisse austauschen. Das Buch war damals in DKP-Dissidentenkreis ein Geheimtip, gegen den Politbürokratenjargon der Avantgarde der Arbeiterklasse. Den Wurstmann gab es nicht erst in der NS-Zeit, sondern damals schon seit Jahrzehnten. Mir vorliegende 11. Auflage enthält nicht nur das Vorwort zu dieser, sondern auch noch das (viel längere) zur 10. Auflage. Kann ich Ihnen gerne scannen und mailen bei Interesse (ich hoffe, Sie können meine Mail-Adresse als Seitenbetreiber einsehen). Ich lese diese Ausgabe parallel zu einem merkwürdigen, 168-seitigen Buch, lapidar betitelt „Deutsch“, erschienen 1939 als Band 21 der „Bücherei des Steuerrechts“, herausgegeben (und verfaßt) von Fritz Reinhardt, Staatssekretär im Reichsfinanzministerium. Motiv: klare Ausdrucksweise statt „Juristen-“ bzw. „Beamtendeutsch“.

      • Wolf Schneider, mein Lehrer, zitiert oft E.A. Rauter, allein fünf Mal in seinem „Deutsch für Profis – etwa so:

        Mancher Autor wunschdenkt, die Leser würden hineindenken, was er nicht hineingeschrieben hat. Statt zu arbeiten, sagt er: Der Leser wird schon verstehen, was ich meine. Als käme es darauf an! Die Leser sind an der Meinung des Autors nicht interessiert. Damit muss er sich abfinden, bevor er anfängt zu schreiben… Mancher linke Autor schreibt, als hätte er die Möglichkeit (und den Willen) Leser durch eine Armee bewaffneter Soldaten zu zwingen, seine Texte auswendig zu lernen.

        Empfehlenswert: Rauters „Vom Umgang mit Wörtern“ (nur noch antiquarisch, etwa 13 Euro)

  • Dieses E.A. Rauer-Buch steht seit 1982 in meinem Bücherregal, neben seinem Büchlein „wie eine Meinung in einem Kopf entsteht“, das ich mir gegen Ende meiner Schulzeit kaufte, und einem Schuber, in dem ich etliche Artikel Rauters aus „konkret“ und anderen Zeitungen oder Zeitschriften sammelte. Rauter starb 76 Jahre alt Anfang 2006. Aber Ihr Hinwei, lieber Herr Raue, motiviert mich dennoch zum antiquarischen Bücherkauf: „Deutsch für Profis“ kenne ich (noch) nicht; werde ich gleich für meine Tochter bestellen (11. Klasse), in der Hoffnung, mitschmökern zu dürfen.

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