Luther und der Anfang: „Das Wort ist unser Traum und der Traum ist unser Leben“(Friedhof der Wörter)
Luther hatte es leicht, bei allem Genie, der deutschen Sprache eine Seele zu geben: Er fand ein Geschichtenbuch vor, das einmalig ist in seiner Fülle, seiner Dramatik und seines Wissens um den Menschen, seiner Würde und seiner Verschlagenheit, seiner Güte und seiner Verdorbenheit.
Auch nach Luther versammelten sich immer wieder Dichter um die Bibel und ließen sich von dem Buch inspirieren, das sie das „Buch der Bücher“ nannten – wobei dies Synonym nur andeutet, dass die Bibel aus vielen Büchern zusammengesetzt ist.
Selbst Dichter, die mit Gott nichts anfangen konnten, nahmen die Bibel zum Vorbild. Als Bertolt Brecht, der Atheist, nach seinem Lieblingsbuch gefragt wurde, antwortete er: „Sie werden lachen – die Bibel.“
Auch Religionen, die nicht an einen Gott glauben, fasziniert die Bibel. Mahatma Gandhi, der ein Hindu war, staunte: „Ihr Christen habt in eurer Obhut ein Dokument mit genug Dynamit in sich, die gesamte Zivilisation in Stücke zu blasen.“
Die in der Bukowina geborene Dichterin Rose Ausländer nutzte Luthers Übersetzung des Johannes-Evangeliums für eine Hymne an das Wort. Luther hatte den ersten Satz des Evangeliums übersetzt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“
Im griechischen Original steht „arche“, was man „in alter Zeit“ übertragen könnte; das Wort ist heute noch in unserem „Archäologie“ aufgehoben. Die Übersetzer vor Luther schrieben „Im Beginn war das Wort“; auch in anderen Übersetzungen wie in der niederländischen oder schwedischen Bibel steht der „Beginn“.
„Beginn“ klingt nüchterner im Vergleich zu Luthers „Anfang“. Die Brüder Grimm schreiben denn auch in ihrem Wörterbuch, die „sinnliche Vorstellung“ der beiden Wörter sei verschieden – und loben den „Anfang“.
Rose Ausländer schreibt in ihrem Gedicht „Und Gott gab uns das Wort“. Sie könnte auch schreiben, sich vor dem Schöpfer des deutschen Worts verneigend: „Und Luther gab uns das Wort“, und fortfahren:
„Und wir wohnen im Wort. Und das Wort ist unser Traum und der Traum ist unser Leben.“
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter (Kolumne), 29. März 2016
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