Medien-Ethik nach dem Absturz (2): Persönlichkeitsrechte gegen „Person der Zeitgeschichte“

Geschrieben am 17. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Ins Zentrum der Debatten nach dem Airbus-Absturz drängte sich schnell die Frage: Durften und dürfen Medien den Namen des Copiloten nennen? Die Entscheidung, was richtig ist und was falsch, war offenbar schwer:

Auf der einen Seite steht das durch die ungeheuerliche Tragik und die schrille Warumfrage begründete öffentliche Interesse und auf der anderen Seite die auch durch berufskulturelle Regeln abgestützte Unschuldsvermutung und der Respekt vor der Privatsphäre der Angehörigen

sagt der Schweizer Professor Vinzens Wyss und folgert: „Das öffentliche Interesse muss in diesem Fall zurückstehen.“

Die Bandbreite der Einschätzungen gibt ausführlich eine Umfrage von Michèle Widmer bei persoenlich com wieder, die sechs Schweizer Journalisten und Medienethiker befragt hatte (hier in Auszügen, Überschriften von mir):

Persönlichkeitsrechte sind zu wahren
Tristan Brenn, Chefredakteur TV von SRF (Schweizer Radio und Fernsehen): „Im Grundsatz gilt, dass Persönlichkeitsrechte und der Schutz der Privatsphäre, wenn immer möglich, zu wahren sind. Das gilt für Opfer wie auch für mutmassliche Täter und dient nicht zuletzt auch dem Schutz von Angehörigen. Im Fall des Co-Piloten von Germanwings sahen wir keine Veranlassung, von diesem Prinzip abzuweichen. Die relevanten Informationen sind nicht abhängig von der Identifizierung der Person mit Namen und Bild.“

Namensnennung besitzt keinen Mehrwert für das Publikum
Peter Bertschi, stellvertretender Chefredakteur Radio von SR, hatte angewiesen vom „28-jährigen Co-Piloten‘ zu sprechen. „Wir halten uns an unsere publizistischen Leitlinien, dass wir Namen von mutmaßlichen Tätern und Opfern ‚grundsätzlich nicht nennen‘, dass wir ganz allgemein bei SRF ‚bei der Namensnennung nicht vorangehen‘. Hinzu kam noch die Überlegung der Chefredaktion Radio SRF, dass das Schweizer Publikum erst recht keinen Mehrwert hat, wenn der Name genannt wird.“

Foto und Name helfen nicht bei der Antwort auf die Warumfrage
Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften):
„Weder der veröffentlichte Name noch das Bild helfen uns bei der Beantwortung der Warumfrage. Was ist dadurch gewonnen? Selbst wenn im Netz und bei einigen Medien der Name schon veröffentlicht wurde, bleibt der medienethische Entscheid immer auch eine Frage der Haltung der jeweiligen Redaktion. Der routinierte Verweis auf die Bekanntgabe durch den Staatsanwalt entbindet die Medien nicht vor der Pflicht, selbst eine Güterabwägung vorzunehmen. Unpassend finde ich den Versuch, das wie auch immer produzierte Publikum darüber abstimmen zu lassen.“

Im Alleingang ist der Name nicht zu schützen
Dominique Eigenmann, Nachrichtenchef Tages-Anzeiger (Zürich): „Der Tages-Anzeiger anonymisiert Personen. Beim Co-Piloten Andreas Lubitz ist dies objektiv nicht mehr möglich, seit der französische Staatsanwalt dessen Namen ausdrücklich genannt (und sogar buchstabiert) hat. Die angelsächsischen und lateinischen Medien nennen ihn seither alle namentlich, auch die meisten deutschen und Schweizer Zeitungen. Das hat für unsere Überlegungen hinsichtlich einer allfälligen Anonymisierung insofern eine Bedeutung, als wir als Medium die Persönlichkeitsrechte eines Betroffenen nicht im Alleingang zu schützen imstande sind.

Mitentscheidend ist die Nähe zum Geschehen
Weiter Dominique Eigenmann: „Wäre Lubitz Zürcher gewesen und hätte sich das Unglück in Zürich zugetragen, hätten wir seinen Namen, aus Rücksicht auf die Angehörigen, wahrscheinlich anonymisiert, selbst wenn ausländische Medien ihn längst genannt gehabt hätten.“

Massenmörder sind Personen der Zeitgeschichte
Und noch einmal Dominique Eigenmann: „Der rigorose Schutz vor Nennung gilt überdies ausdrücklich nicht für ‚Personen der Zeitgeschichte‘ – für den Massenmörder Anders Breivik etwa oder den 9/11-Attentäter Mohammed Atta. Etwa in diese Kategorie gehört unserer Meinung nach auch Andreas Lubitz, soviel war jedenfalls auf Anhieb absehbar. Deswegen haben wir gleich nach der Pressekonferenz von Marseille entschieden, online wie auch in der Zeitung den Co-Piloten beim Namen zu nennen“

Der Untersuchungsrichter hat das Opfer zum Täter gemacht und so zur Person der Zeitgeschichte
Peter Studer, Jurist und Autor über Medienrecht/Medienethik, ehemals Chefredakteur: „Der zuständige französische Untersuchungsrichter hatte präzis sowie mit Quellenangabe des Voice-Recorders über den Co-Piloten und seine Todesflugphase berichtet. Die Regierungschefs von Frankreich und Deutschland sowie die Spitzen der Lufthansa schienen diese Zuschreibung in ihren Statements zu übernehmen. Damit war der Co-Pilot – wie eine Redaktion folgerte – objektiv vom Opfer zum Täter geworden. Das persönliche Verschulden muss allerdings wegen Krankheitsverdacht – Zurechnungsfähigkeit? – offen bleiben. So oder so halte ich dafür, dass der Co-Pilot mit diesen amtlichen Schritten zur ‚Person der Zeitgeschichte‘ wurde und mit Namen genannt werden durfte.“

Kein Foto, kein Name – es sei denn der Täter sucht die Öffentlichkeit
Philipp Cueni, Chefredakteur EDITO +Klartext Medienmagazin und Dozent für Ethik an der Journalistenschule MAZ: „Dass zur Person des Piloten recherchiert worden ist, ist absolut in Ordnung. So kann man allenfalls klären, ob politische Hintergründe oder strukturelles Versagen beim Unglück, respektive bei der Tat eine Rolle gespielt haben. Der Name und das Bild des Co-Piloten spielen in diesem Zusammenhang aber keine Rolle und bringen für die Öffentlichkeit auch keine Erkenntnis.
Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn ein Täter selber – zum Beispiel mit einem politischen Manifest wie im Fall Breivik – die Öffentlichkeit sucht.“

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