Weihnachtsprosa: Wortschleim und Besinnlichkeit (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 15. Dezember 2013 von Paul-Josef Raue.

Wolf Schneider, der deutsche Sprachpapst, mag Weihnachten nicht, die „besinnlichen Feiertage“, vor allem nicht die Weihnachtsprosa.

Schneider mag mehr den Spott über die weihevolle Selbstversenkung und schreibt in seinem Buch „Wörter waschen“:

„Zehntausende von Pfarrern, Politikern, Geschäftsführern, Sparkassendirektoren und Vereinsvorständen sind sich in ihren Weihnachtsgrüßen einig: Besinnlichkeit ist Bürgerpflicht zur Jahreswende, mit den Varianten ‚seelische Erholung‘, dem deutschen Grundgesetz zufolge zum Wesen der Feiertage gehört.“

So fliegen die Worte wie die Engel durch den hohen Himmel, die „Innerlichkeit“ fliegt mit der „Besinnlichkeit“ – und die gerät in den Sog der „Befindlichkeit“. Dies Wort kam bei den westdeutschen Achtundsechzigern in Mode: „Angerührt von aller Ungerechtigkeit auf Erden. Jeder Tag ein Bußtag! Hilfreich sei der Mensch, gut und allzeit bestürzt.“

Deutsche Studenten rühmten sich vor französischen ihres „Betroffenheitsvorsprungs“; ein Holländer dagegen machte sich lustig über unseren „Betroffenheitskitsch“. Aber auch die ostdeutsche Betroffenheit war wortgewaltig und sinnlos: Wolfgang Thierse wählte die „Erfüllungsmelancholie“ zum schönsten deutschen Wort.

Ganz unweihnachtlich leimt Wolf Schneider zweimal zwei Wörter zusammen: „Wortschleim ohne Erdenrest“; er zitiert den Oberleutnant Heimüller aus Heinrich Bölls „Ende einer Dienstfahrt“: Die Kunst besteht nur darin, das Nichts in seine verschiedenen Nichtigkeiten zu zergliedern.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“ 16. Dezember 2013

Wolf Schneider kommt zum „Luther Disput“ der Thüringer Allgemeine am 4. Advent um 16 Uhr ins Augustinerkloster nach Erfurt: „Luther, die Sprache und der Pfarrer Sprache“

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