„Ein bisschen vernagelt“ – In seinen Memoiren schaut Wolf Schneider auch auf die DDR und die Einheit zurück

Geschrieben am 6. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Ein vorlauter Redakteur fragt 1957 bei einer Konferenz des Stern, mit fast zwei Millionen Auflage eines der großen Magazine der Welt: „Wäre die totale Entleerung der DDR nicht eine großartige Vision?“ Der vorlaute ist Wolf Schneider, einen Leitartikler kritisierend, der die Flucht von 300 000 DDR-Bewohnern pathetisch bedauert; der Vorlaute erinnert sich ein halbes Jahrhundert danach noch an diesen Satz und zitiert ihn in seinen Memoiren.

Einer der großen Journalisten, der zudem viele große Journalisten ausgebildet hat, der Sprachpapst, der er ist, aber das Wort nicht mag – er schreibt mit neunzig Jahren sein „langes, wunderliches Leben“ auf, das in Erfurt begann.

Lesen wir das Buch gegen den Strich: Was fällt einem Thüringer auf, der – anders als Schneider – nach dem Krieg nicht zu den Russen, sondern zu Amerikanern ein fast freundschaftliches Verhältnis entwickelte, der sein Leben in der DDR aufrecht lebte, aber nicht als Unrecht empfindet – und der alle Wessis entbehrlich findet, die sich unentwegt auf die Schulter klopfen?

Immerhin bekommt „Ärrfort“, seine Geburtsstadt, ein eigenes Kapitel, das jubelnd mit dem Umzugswagen nach Berlin endet: Bis heute bin ich froh über den Aufbruch aus der Provinz. Da war Schneider 6 Jahre alt.

Der 33-jährige Stern-Redakteur sieht im Ausbluten der DDR die einzige Chance für eine Wiedervereinigung; der 50-Jährige wird in der Süddeutschen Zeitung zitiert mit seinem Kopfschütteln über Willy Brandts Verzicht auf die Wiedervereinigung:

Nie hatte es die Welt mit einer bequemeren deutschen Regierung zu tun. Jedes Runzeln einer ausländischen Augenbraue, jeder neue kommunistische Affront versetzt uns in Bestürzung: Haben wir etwas falsch gemacht?

Der 60-Jährige, nun Leiter der angesehensten deutschen Journalistenschule, wird von der Ostberliner Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft eingeladen, hört seinen Gastgeber für die Beendigung des Wettrüstens werben – und spricht von den Toten an der Mauer. Dreimal nimmt der DDR-Professor die Einladung zum Gegenbesuch nach Hamburg an und bekommt jeweils 300 Mark Honorar; dreimal fährt Schneider nach Ostberlin und ist bass erstaunt über den Journalisten-Nachwuchs, die geistige DDR-Elite:

Da saß ein Häuflein biederer Provinzler, nicht verbiestert, aber ein bisschen vernagelt. Nicht einmal der Marxismus hatte Weltniveau in der DDR.

Wenige Tage vor dem Fall der Mauer reist Schneider mit seinen Schülern durch die DDR und fragt eine Studentin, wie die TV-Berichte aus Prag auf sie wirken, und hört ein Gestammel: „Wir haben doch das Beste gewollt. Soll denn alles umsonst gewesen sein?“

Schneider fragt sich: Wie hoch ist der Anteil der DDR-Bürger, die das Regime ehrlich bejahen und derer, die sich hinter der Mauer halbwegs wohnlich eingerichtet haben? Seine Antwort: „Voll dafür – ein paar Prozent; halbwegs eingewöhnt: 20 bis 30 Prozent. Für die anderen gab es die Stasi.“

Als die Nation vereint ist, loben einige seiner Schüler immer noch den Gegenentwurf zum Kapitalismus und schwärmen von der menschlichen Nähe in der DDR.

Ach ja, Nähe!, hielt ich ihnen entgegen: Die kannte ich noch aus den Bombennächten im Luftschutzkeller, in der Not rückten die Menschen immer zusammen.

Für junge Journalisten im Osten organisiert Schneider direkt nach der Revolution ein gutes Dutzend Kurse „So machen wir das im Westen“; er bekennt: „Mehr Spaß hat die Schule mir nie gemacht“, aber wundert sich auch über die Leser im Osten – zum Beispiel die der „Wochenpost“:

Die hassten ja alles, was nach Marktgeschrei klang, schon allzu viel Offensichtlichkeit irritierte sie, und von der schrillen Werbung waren sie geradezu angewidert. Ihr behäbiges Blatt wollten sie behalten, so, wie es war.

Hatten wir, so fragt Schneider, die 44 Jahre Bevormundung unterschätzt?

Doch genug von der DDR und ihren Folgen. 96 Prozent des Buches spielen auf anderen Schauplätzen, in München, Patagonien und Mallorca, in Srebrenica und auf den Schlachtfeldern Hitlers, dem auch der junge Schneider zugejubelt hatte.

Da erzählt ein welterfahrener Journalist – nach einem knappen Jahrhundert – lebenssatt, selbstbewusst, auch ein bisschen arrogant, klug und mit gerade so viel Altersmilde, dass uns beim Lesen niemals langweilig wird. Und er kann erzählen und zeigt es gleich in den beiden ersten Sätzen über einen gerade noch verhinderten Selbstmord:

Es lag an mir, ob ich diesen Tag überleben wollte. Es war mein 20. Geburtstag, und Deutschland hatte unterschrieben: Kapitulation!

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LESEPROBE: Markiert

(Besuch in Erfurt kurz vor dem Mauerfall 1989)

Da waren Grenzfälle der Zufriedenheit, die sich jeder Einordnung widersetzen. Wie bei jenem biederen älteren Ehepaar, das sich auf dem Domplatz in Erfurt ein Herz fasste, eine neugierig herumstehende Vierergruppe von uns – erkennbar Westler – ansprach und uns in seine Mansardenwohnung einlud zu Pfefferminztee und Wodka. Die Wohnung eng, aber gemütlich, die Leute richtig nett. Im Nebenzimmer hörten wir’s plätschern. Na, erzählte die Frau: „Es regnet ja ziemlich heftig, und bei uns regnet’s durch, da müssen wir einen Eimer drunterstellen.“ Aha! „Und wenn’s viel regnet, ist der Eimer nach ein paar Stunden voll. Aber wissen Sie: Da dürfen wir natürlich aus der Fabrik nach Hause gehen, den Eimer leeren. So was dürfen Sie ja nicht im Westen, nach allem, was man so hört?“

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Wolf Schneider: Hottentotten-Stottertrottel, Rowohlt, 447 S., 19,95 Euro
Erschienen in der Thüringer Allgemeine, 1. Mai 2015

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