Vom Leben und Leiden in einer DDR-Redaktion: Eine Redakteurin erinnert sich (25 Jahre Thüringer Allgemeine)

Geschrieben am 14. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Am 15. Januar 1990 erschien die erste unabhängige Tageszeitung in der DDR: Die Redaktion der Bezirkszeitung Das Volk in Erfurt warf die SED raus, ließ die Freiheit rein und gab der unabhängigen Zeitung einen neuen Titel – Thüringer Allgemeine. Zum Jubiläum lud die TA zu einem ganztägigen Symposium: Zu Beginn erzählten vier Redakteure über die Unfreiheit vor der Revolution, von den Revolutionstagen und den Wochen danach.

Angelika Reiser-Fischer ist heute Redakteurin der Lokalausgabe „Erfurt Land“; sie erzählte (leicht gekürzt):

Am Morgen des 13. Januar 1990 fand in der Kantine der Druckerei Fortschritt Erfurt jene denkwürdige Versammlung statt, bei der sich die Redaktion der Zeitung Das Volk für parteiunabhängig erklärte. Hitzige Diskussionen hatten in den Wochen zuvor in der Redaktion stattgefunden.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich an jenem Morgen in das Zeitungshaus unterwegs war. Im Trabant, ohne Winterreifen, über von Reif glitzernden Straßen.
Ich war pünktlich. Und ich hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde. Ich wusste aber: So ging es nicht weiter. Man überlegt in solchen Umbrüchen wohl immer: Wann hat es angefangen? Was waren die Zeichen? Was haben sie mit mir gemacht?

Ja, ich war in der SED. Ohne Zwang bin ich als Volontärin eingetreten. Ich wollte Journalistin werden – weil ich neugierig war, weil mich das Bunte und Spannende interessierte; weil ich meinte, als Journalistin der Wahrheit zumindest nahe zu kommen; weil man da die Dinge selbst erleben, hinterfragen, begutachten, auch beurteilen könnte. Und das wollte ich bei einer großen Zeitung lernen. Die allerdings waren Mitte der 1970er Jahre alle in der Hand der SED. Meine Vorstellungen waren ziemlich naiv. Zunächst beim Journalistik-Studium in Leipzig: Schockiert erlebte ich ein Partei-Verfahren gegen einen Wissenschaftler. Er hatte aus einem Urlaub in Ungarn ein Buch mit in die DDR gebracht: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, von Wolfgang Leonhard. Ich konnte nicht fassen, was sich vor meinen Augen abspielte: demütigende Verhöre vor den Studenten im 2. Studienjahr, das Durchdrücken einer Abstimmung, Drohungen an uns junge Leute und anschließender Rauswurf des Wissenschaftlers.

Aber ich wollte Journalistin werden. Wenn ich nur erst in der Redaktion wäre, dachte ich, da würde bestimmt alles besser.

1978 begann ich in der Redaktion Das Volk, und lernte die Spielregeln, hatte bald die Schere im Kopf, fragte Dinge erst gar nicht, überhörte Bemerkungen.
Meine Gesprächspartner wussten meist auch selbst, dass ich manches gar nicht schreiben würde: fehlendes Gemüse, verbotene Bücher, nicht genehmigte Westreisen. In der sozialistischen Presse hatte so etwas nichts zu suchen. Es waren peinliche Momente. In der Redaktion drechselte ich an meinen Sätzen. Und glaube noch immer, dass jeder mitreden durfte, auch wenn es bald Ansagen gab, dass manche Wörter oder Formulierungen nicht verwendet werden durften; „Umgestaltung“ war ab Mitte der 1980er Jahre so ein verbotenes Wort.

Wenn manche heute meinen, sie hätten Widerstand geleistet – ich nicht. Um anzuecken, war dies auch gar nötig. Eines Tages kam ein Leserbrief in die Redaktion über eine rollende Fleischerei, in der die Leute Schnitzel und Wurst kaufen konnten. Plötzlich blieb es weg. Warum?, wollte jemand wissen. Ich ging der Sache nach, fragte, und es hieß, da sei etwas kaputt, das Auto sei zur Reparatur, es fehle ein Ersatzteil. Das schrieb ich auf. Ich hielt das für einen völlig normalen journalistischen Vorgang. Der Beitrag wurde aus der Zeitung kurz vor dem Andruck entfernt. Ich bekam Ärger und eine Verwarnung.

Im Sommer 1983 erschien ein Artikel aus der Feder meines Kollegen Heinz aus dem Kulturressort. Es ging, eigentlich völlig harmlos, um ein Erfurter Ehepaar, das als Dauercamper am Stausee Hohenfelden lebte. Was weder in dem Artikel stand noch dem Autor bekannt war: das Ehepaar hatte einen Ausreiseantrag gestellt.Dem Kollegen wurde unterstellt, bewusst dem Klassenfeind Raum in der Parteizeitung gegeben zu haben. Zunächst wurden alle Redakteure angewiesen, niemanden in der Zeitung mit Namen zu nennen oder im Foto zu zeigen, von dem nicht klar war, dass er keinen Ausreiseantrag gestellt hatte. Ein Akt des Misstrauens gegen jedermann. Und für eine Tageszeitung ein unsägliches Verfahren.

Gegen Heinz wurde nun ein Parteiverfahren angestrengt. Artikel von ihm durften nicht mehr erscheinen. Wie sollte ich mich verhalten? Diskussionen unter den Kollegen waren schwierig. Mit wem konnte man offen reden? Wie würden sich die anderen in einer Abstimmung verhalten? Und wenn sie einer Bestrafung zustimmen würden, dann aus Überzeugung – oder um die eigene Haut zu retten? Angst und Zweifel bestimmten die Tage in der Redaktion. Die Parteileitung ließ keinen Zweifel: Wer dem Rauswurf von Heinz widerspricht, fliegt auch. Das Urteil gegen ihn stand eh fest. Klar war: Hier sollte ein Exempel statuiert werden.

Die außerordentliche Parteiversammlung im September 1983 war eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieser Zeitung. Mir völlig unbekannte Leute saßen in der Versammlung und zitierten plötzlich aus einem Brief, den Heinz an seine Schwester in den Westen geschrieben haben sollte. Ich war wie versteinert. Wie kamen sie überhaupt zu dieser Post? Eine einzige Kollegin hob nicht die Hand, als es um den Rauswurf von Heinz ging. Ich war das nicht, auch ich hob die Hand. Und auch diese Kollegin soll im Nachhinein ihre Gegenstimme, ihren Widerstand zurück genommen haben. Heinz musste die Redaktion danach sofort verlassen.

Es war nur ein paar Monate später. Eines Abends klingelte es an meiner Wohnungstür. Davor stand der stellvertretende Chefredakteur Heiner Oette. „Bis du allein in der Wohnung?“, fragte er mich. Ich nickte, bat ihn herein. Ich war in diesen Tagen allein in der Lokalredaktion gewesen und hatte über einen neuen Kosmetiksalon berichtet. Eine schöne lokale Geschichte, dachte ich, die ich sofort mit einem Foto einrückte. Was mir der Vize-Chef an jenem Abend mitzuteilen hatte: Auch jene Kosmetikerin hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Das hatte ich nicht gewusst, nicht vermutet und – nicht prüfen lassen. Ich wusste, was mir bevorstehen würde.

Als ich am nächsten Morgen die Redaktion betrat, kam ich nicht mal bis zu meinem Schreibtisch. Ich wurde auf der Treppe abgefangen und musste mit zur SED-Kreisleitung. Dort saß ich dann stundenlang auf dem Gang, wurde immer wieder verhört und befragt und zu Stellungnahmen aufgefordert: Warum habe ich diesen Beitrag geschrieben? Wer hat gesagt, dass ich diese Frau interviewen und fotografieren sollte? Wer wusste, dass ich darüber schreiben würde? Wer hat den Artikel vorher gelesen? Nach zwei Tagen durfte ich wieder in die Redaktion. Aber: Auch ich bekam ein Verfahren. Auch gegen mich waren sich alle einig. Dabei: Ich war kein Widerstandskämpfer. Es war einfach eine Panne, die offenbar auf einen schwachen Klassenstandpunkt schließen ließ.Ich kam mit einer Parteistrafe davon. Es wurde mir wohl zugute gehalten, dass zufälligerweise niemand im Umkreis dieser Frau von ihrem Ausreiseantrag wusste.

Am 23. Oktober 1989 wurde in der Redaktionskonferenz angekündigt, dass nun nach Leipzig, Dresden und anderen Orten auch in Erfurt demonstriert würde. Was macht die Redaktion? Schweigen am Tisch. „Ich gehe da hin“, habe ich heraus geplatzt. Das wollte ich sehen, hören. Und davon wollte ich etwas für die Zeitung schreiben, zusammen mit meiner Kollegin Esther Goldberg. Wir waren uns einig. Ich fuhr zunächst nach Hause (Telefon hatte ich nicht). Dort saß mein neunjähriger Sohn über den Hausaufgaben. Ich erklärte ihm, dass es heute später werden würde. Für den Fall, dass ich bis 21 Uhr nicht zu Hause wäre, sollte er zu seiner Oma gehen. Falls mir etwas zustoßen würde, ich vielleicht verhaftet oder verletzt wäre, wollte ich verhindern, dass er – allein zu Hause – ahnungslos die Tür aufmachte. Womöglich dem Jugendamt.

Nach den Friedensgebeten in den Kirchen der Stadt strömten die Massen zum Domplatz. Dort verabredete man sich für Samstag zum „Dialog“ in der Thüringenhalle. Anschließend führte der Zug durch die Innenstadt von Erfurt. Auch vor das Zeitungshochhaus. Das lag im Dunkeln. Alle Lichter waren gelöscht. Aufgeregte, hitzige junge Leute stürmten die Treppe hoch zur Eingangstür. Vertreter vom „Neuen Forum“ und den Kirchen griffen ein, beruhigten. „Schreibt die Wahrheit“, riefen die Demonstranten immer wieder. Das wollte ich gern tun. Als Esther und ich zur Redaktion kamen, riefen wir glücklich und aufgekratzt: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind vom Volk“ – beides stimmte ja. Uns wurde ein Platz auf Seite 2 zugewiesen. Nicht sehr groß, aber immerhin. Wir wollten nun schreiben, was wirklich geschehen war. Und lieferten unser Manuskript ab. Warteten dann, wie das Urteil des Chefredakteurs ausfiel. Wir warteten. Und warteten. Irgendwann kam jemand an uns vorbei: Geht heim, sagte er, und dass Werner Hermann, der damalige Chefredakteur, seit Stunden mit der SED-Bezirksleitung telefoniere. Ausgang: unklar.

Am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten, die Zeitung in der Hand zu halten. Ich schlug auf, Seite 2? Wo war unser Bericht? War er unverändert?
Er war – gar nicht. Er war nicht gedruckt worden. Dafür erschien an diesem Platz, der unserer sein sollte, ein Pamphlet mit der Überschrift: Offizielle Mitteilung. Da war die Rede von einer „propagierten Aktivität“, von „Losungen mit demagogischem Inhalt“, von einer „nicht genehmigten Demonstration“. Ich war fassungslos, wütend. Wollte den Hergang erfahren. Der Chefredakteur erklärte zerknirscht, dass die Überschrift „Offizielle Mitteilung“ das Äußerste war, wodurch sich die Redaktion von dem Text distanzieren konnte. Auch unter Lesern brach ein Sturm der Entrüstung los.

Zwei Tage später fand in der Thüringenhalle der auf dem Domplatz verabredete „Dialog“ statt. Während sich vor der Halle Hunderte drängten, hieß es an den Türen: Alles besetzt. Die Hälfte der Halle war reserviert, für Funktionäre und Studenten der Parteischule. Die Debatte wurde mit Mikrofonen nach draußen übertragen.
Trotzdem drängten sich stundenlang die Leute an den Mikrofonen im Saal, verlangten von Partei und Regierung, teils aufgebracht, Rechenschaft. Und die Leute wollten auch wissen, wer für die „Offizielle Mitteilung“ in der Zeitung verantwortlich sei, sie verfasst hätte. Der stellvertretende Chefredakteur Hartmut Peters stand auf und sagte, dass die Redaktion diesen Text nicht geschrieben hatte und nur unter Zwang den Text eingerückt hätte. Damit war dann aber auch sein Abgang besiegelt.

In den folgenden Tagen und Wochen brach in der Redaktion immer heftiger eine Debatte los, ob und wie der Schritt zur Unabhängigkeit gegangen werde sollte. Etwa ein Viertel der Kollegen sagten auch klar, dass sie diesen nicht mitgehen wollten und in solch einem Fall die Redaktion verlassen würden. Was dann auch geschah.

An jenem 13. Januar wurde der Schritt vollzogen. Mit allen Unwägbarkeiten. Unser Kapital waren allein die Leser der Zeitung und ihr Vertrauen und unsere Verwurzelung in Thüringen. Die Zeitung erhielt einen neuen Namen Thüringer Allgemeine. Ich habe in den darauf folgenden Monaten und Jahren endlich über vieles schreiben können, wovon ich zuvor nur hätte träumen können: Über die ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990, die Öffnung des Rennsteiges nach Bayern, die Einführung der D-Mark, die Wiedergründung des Landes Thüringen und den ersten Thüringer Landtag und vieles mehr.

Es waren für mich gute Jahre.

Thüringer Allgemeine, 16. Januar 2014 (gekürzte Fassung in der Extra-Ausgabe).
Weitere Reden und Debatten aus dem Symposium folgen in diesem Blog.

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