Zu Schnibbens („Spiegel“) Medien-Tsunami: Lokalzeitungen können überleben – nur wie?

Geschrieben am 1. März 2015 von Paul-Josef Raue.

Bravo! sollten wir Cordt Schnibben zurufen. Endlich! sollten wir hinzufügen. Endlich eröffnet einer, dessen Stimme Gewicht hat, eine tiefe Debatte über die Zukunft der seriösen Medien. Er hat es schon einmal vor einigen Monaten im Spiegel versucht – mit mäßiger Resonanz. Lasst uns dazu beitragen, dass eine große Debatte entsteht!

Ich bin mit Leib und Seele ein Lokaljournalist, der in Schnibbens Essay keine Rolle spielt. Deshalb meine Replik.  Der Text ist dem Spiegel-Blog entnommen, er wird durch meine eingerückten Anmerkungen unterbrochen:

Wenn man das, was seit einigen Jahren die Medien erschüttert, als Tsunami bezeichnet, dann ist der Blogger Richard Gutjahr einer derjenigen, der auf dieser Welle der Zerstörung jauchzend dem Strand entgegen surft. TV-Moderator Claus Kleber ist dann derjenige, der sich auf der öffentlich-rechtlichen Segelyacht gelassen rauf und runter schaukeln lässt, und Printvater Wolf Schneider schaut von einem Hügel aus kopfschüttelnd zu.

Leser mögen Bilder, wenn sie ihnen sinnlich erklären,was nur schwer zu verstehen ist. Aber Bilder müssen stimmen, dieses stimmt nicht: Ein Tsunami ist eine Naturkatastrophe, die Veränderung der Medien ist Menschenwerk; der Tsunami ist Schicksal, also unabwendbar und gott- oder schicksalsgesteuert, die Medien hängen von den Veränderungen der Gesellschaft ab – für die weder Gott noch ein Schicksal herhalten können – und von der Bereitschaft der Journalisten und Manager, auf Veränderungen zu reagieren.

Und ich? Laufe am Strand aufgeregt auf und ab und zeige warnend zum Horizont. Darum habe ich bei den drei Journalisten aus drei verschiedenen Generationen mal nachgefragt, wie sie auf die Krise ihrer Branche blicken. Und auch bei Jessica Schober, einer jungen Journalisten, die wie eine Handwerksgesellin von Redaktion zu Redaktion zieht: Sie taucht unter der mächtigen Welle durch, hält nicht viel vom hektischen Ist-Zeit-Journalismus.

Noch einmal das Bild: Unter einer Tsunami-Welle kann man nicht durchtauchen: Wer das probiert, überlebt nicht. Wir sind froh, wenn wir ein tolles Sprachbild gefunden haben, aber wir dürfen es auch nicht endlos strapazieren.

Und, mit Verlaub, ich kann mir keinen Spiegel-Reporter oder -redakteur vorstellen, der aufgeregt auf und ab läuft. In keiner Redaktion in Deutschland dürfte ein Journalist so ausgeruht nachdenken können, recherchieren und schreiben wie beim Spiegel. Das ist allerdings purer Neid.

Die Krise des Journalismus und der Medien folgt der Gesellschaft, die sich in einem Atem raubenden Tempo aufteilt, in Teilen wieder vereinigt und auf ein Ziel steuert, das keiner kennt und das es vielleicht gar nicht geben wird. Deshalb hat die Tageszeitung die größten Schwierigkeiten: Sie war (und ist zum Teil noch) das einzige Medium, das nahezu alle Zielgruppen bedient und die Gesellschaft vereint. Ein Medium, in dem sich alle wiederfinden, tut der Demokratie gut – und deshalb ist die ökonomische und journalistische Krise der Tageszeitung auch eine Krise der Demokratie, zumindest der deutschen Prägung.

Deshalb schürft Cordt Schnibbens Analyse nicht tief genug: Wir müssen nicht nur in den verschiedenen Generationen fragen (wobei, am Rande festgestellt, junge Journalisten nicht typisch für ihre Generation sein müssen – aber das ist ein eigenes Thema); wir müssen auch deutlich unterscheiden zwischen nationalen Medien und regionalen / lokalen. Dass ein Spiegel-Reporter mit leichter Mißachtung in die Provinz schaut, nehme ich ihm nicht übel, sehe ich als Deformation professionnelle.

Das Problem des Spiegel ist aber nicht unbedingt das Problem der Thüringer Allgemeine. Den Spiegel – aber auch FAZ und SZ – liest kaum mehr jemand in Thüringen,  die Lokalzeitung noch jeder zweite; erschiene nicht noch das Neue Deutschland, würde im Osten kein nationales Blatt von Bedeutung gelesen.

Wenn es nicht den dramatischen Rückgang der Anzeigen gäbe, würden wir in Lokalzeitungen noch nicht über eine Krise sprechen. Dass wir darüber sprechen, wenn auch viel zu wenig, ist notwendig: Unser Journalismus stimmt nicht mehr. Wir sind auf dem Niveau der achtziger Jahre stehen geblieben und waren nicht mal verdutzt, wie viele Leser an uns vorbeigezogen sind.

Als Steve Jobs vor fünf Jahren das iPad in die Höhe hielt, wurde mir klar, dass sich unser Beruf radikal verändern wird, damals sah ich wie viele noch mehr die positiven als die negativen Veränderungen. Inzwischen ist klar, dass Tablets und Smartphones das Zeitbudget für alle Printmedien und die Zahl der Leser reduziert, die für Journalismus bezahlen; dass die Vertriebs- und Werbeerlöse schnell sinken; dass die Verleger idiotischerweise Redakteursstellen und ganze Redaktionen streichen, also journalistische Qualität abbauen. Die größte Veränderung, die das mobile Netz bringt, oft wird das übersehen, ist allerdings die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Journalisten und Lesern.

Die Beobachtung ist korrekt, aber Journalisten waren stets mit technischen Veränderungen konfrontiert: Allein in einem halben Jahrhundert, also einem Journalistenleben, verschwand der Bleisatz, kamen die Redaktionssysteme mit dem Redaktroniker im Gepäck (bei den Lokalzeitungen, nicht beim Spiegel), stiegen die Renditen, weil die schwere Technik immer weniger Personal brauchte. Damals haben die Manager das Sparen gelernt, in den Druckereien und der Vorstufe; das Muster nutzen sie auch heute – allerdings bei den Journalisten. Das Problem der Medien sind nicht allein die Journalisten, ich wage zu behaupten: Es gibt mehr nachdenkliche und gute Journalisten als Manager.

Nur was setzen wir Journalisten dagegen? Was verstehen wir unter Qualität, wenn Qualität mehr ist als Selbstbefriedigung, sondern übereinstimmen soll mit der Qualitäts-Forderung der Leser?

Ich bleibe bei den Lokalzeitungen. Wir haben nicht das Problem des Spiegel: Unsere Leser haben uns schon immer kontrollieren können, weil sie sich in ihrer Stadt und Nachbarschaft auskennen. In einer Lokalzeitung können sie ihre Leser nicht an der Nase herumführen.  Aber sie können die falschen Themen setzen, sich mit den Mächtigen verbünden und glauben, im Rotary-Club ihre Leser kennenzulernen.

Die Debatte um die Zukunft des Lokaljournalismus – also quantitativ der Mehrheit der gedruckten Tages-Medien – hat noch gar nicht richtig begonnen. Zu viele  Lokaljournalisten arbeiten  wie in den achtziger Jahren und hoffen, den Ruhestand noch gerade unbeschadet zu erreichen.

Als der Funke-Kommunikationschef Korenke bei einem TA-Symposium die Beamten-Mentalität vieler Redakteure beklagte, gab es einen Aufschrei bei Betriebsräten. In den Schreiben fand man viel  Empörung, aber keine Konzepte, noch nicht einmal Hinweis wie: Lasst uns zusammen über die Zukunft nachdenken! Gemeinsam Strategien entwickeln! Gemeinsam Konzepte entwickeln!  Gemeinsam Qualität bestimmen!

Meist wird über die Quantität die Qualität einer Redaktion bestimmt: Je mehr Redakteure umso höher die Qualität. Sicher gibt es Redaktionen, die so schwach besetzt sind, dass sich ein Gespräch über Qualität erübrigt. Aber wie viele große Redaktionen sind einfallslos, konzeptlos – und ahnungslos?

Marx und Engels sprachen vom Umschlag der Quantität in die Qualität. Das klappte in der sozialistischen Wirtschaft nicht, und auch nicht im Journalismus. Wir brauchen dennoch eine „Dialektik des Journalismus“. Nehmen wir Schnibbens Essay als Einführung dazu und die junge Wortwalz-Kollegin als Begleitung, die sich auf ihrer Homepage rühmt: „Mit Sprache sorgfältig umgehen, auf Schnörkel scheißen.“ Das könnte fast von Wolf Schneider sein.

Können Sie, werter Herr Schnibben,  Jessica Schober noch einmal auf die Walz schicken? Mit einem Teil ihres Jubiläums-Bonus (der ja, das muss der Neid lassen, verdammt hoch sein muss)?  Sie soll aber mehr schildern als Momentaufnahmen, die hübsch zu lesen sind; sie sollte die Krise nicht in Episoden auflösen – sondern mit einer reifen Idee vom besten Journalismus im Lokalen starten und prüfen, wo er gelingt und wo er misslingt und wie die Idee zu korrigieren ist. Am Ende hätten wir ein Konzept, das zur Debatte taugt. Und wir hätten eindlich eine Debatte statt Hunderte von Kongressen zu Online und Bezahl-Modellen.

Bevor ich zum SPIEGEL wechselte, arbeitete ich bei der „Zeit“. Wir glaubten damals an das Erfolgsrezept: Wir schielen nicht auf den Leser, wir machen die Zeitung für uns Journalisten, es werden sich schon genügend Leser finden, die für so ein Blatt bezahlen.

Auf meinem Flur saß ein Ressortleiter, der sich köstlich über Leserbriefe amüsieren konnte. Wenn sich ein Leser darüber beschwerte, dass ein Leserbrief unbeantwortet geblieben war, ließ er dem Schreiber mitteilen, er habe leider einen Zimmerbrand zu beklagen und dabei müsse wohl auch dessen Leserbrief in Flammen aufgegangen sein.

Es war die große Zeit der journalistischen Autokratie, die Texte wurde über den Lesern abgeworfen, wer sie kritisierte, wurde als Querulant abgetan, dem man am besten das Abo kündigte. Wir bestimmten, welche Themen mit welchen Informationen – oft auch mit welchen Meinungen – unsere Leser zur Kenntnis nehmen konnten, nur die Konkurrenz zwischen den überregionalen Medien sorgten für eine gewisse Pluralität. Dieses Gatekeeper-Monopol ist durch das Netz, insbesondere das mobile Netz, aufgebrochen worden, jeder Leser ist sein eigener Gatekeeper, erstellt sich seine Agenda – unterstützt von Suchmaschinen und sozialen Medien – quer durch alle Medien und all die Themen, die ihn interessieren, selbst zusammen.

Schöne Anekdoten aus der Geschichte des Journalismus: Wie wir lernten, den Leser zu vergessen.  Warum haben wir uns diesen Dünkel nach dem Krieg nur geholt? 

Solche Geschichten gibt es auch aus dem Lokalen zu erzählen: Wie die Honoratioren, zu denen auch die Verleger zählten, die Zeitung beherrschten. Da gibt es in einem leider vergessenen Buch von Karl-Hermann Flach von 1968 Deprimierendes zu lesen: „Macht und Elend der Presse“. Das meiste davon stimmt heute noch; wir sollten das Buch nachdrucken, zumindest den ersten Teil.
 
Schwer verständlich ist: Warum haben viele Lokalredakteure diese Rolle der Verleger übernommen? Warum sind sie so obrigkeitshörig? Die meisten Redaktionen gehören mittlerweile zu Konzernen oder großen Verlagen: Da findet kein Vereinspräsident oder Bürgermeister mehr so starkes Gehör, dass ein Chefredakteur oder Lokalchef bangen müsste. Die Konzentration der Zeitungen hat also nicht nur den Nachteil, dass Sparkonzepte übermächtig werden, sondern durchaus einen großen Vorteil für die Unabhängigkeit der Redakteure.

Anders als bei den überregionalen Medien gibt es im Lokalen noch das Monopol, das wohl noch lange bestehen wird – wenn die Redakteure überhaupt  recherchieren und das recherchieren, was ihre Leser wirklich interessiert. Wolf Schneider hat Recht: „Gute Lokalzeitungen haben die besten Überlebenschancen.“ Aber, aber: Sie dürfen nicht mehr  die Überregionalen kopieren, die  die Konkurrenz mit TV und Internet längst verloren haben; sie müssen konsequent die Themen ihrer Leser spielen – Provinz sein, aber nicht provinziell agieren. Professionellen Journalismus mögen auch die Leser einer Lokalzeitung.

Ich sehe eine ganz andere Gefahr im Lokalen. Wer schaut, was in den Online-Auftritten der Lokalzeitungen geklickt wird, entdeckt vorne durchweg Blaulicht-Geschichten. Der Hase, der überfahren wird, interessiert mehr als der Bericht aus dem Stadtrat. Daran ist nicht der Hase schuld, sondern die Redaktion – die aus dem Stadtrat nicht so aufregend berichtet, nicht tief genug recherchiert und vom Geschichten-Erzählen nur hört, wenn skurrile  Kollegen auf „Storytelling“-Seminare gehen.

Daraus ziehen einige Manager und Chefredakteure schon den Schluss: Online im Lokalen ist Boulevard, also ganz viele Hasen und ganz wenig Politik. Wir sollten allerdings nicht vergessen, dass wir weit vorne im Grundgesetz auftauchen, dass der Artikel 5 nicht nur Rechte vergibt, sondern auch Pflichten. Es ist die Aufgabe von Redakteuren, dafür zu sorgen, dass dieselbe Seriosität der gedruckten Zeitung auch im Netz Nutzer und bald auch Käufer findet.  Das schreibt auch Schnibben, wobei es im Lokalen nie Verifikationsabteilungen gab. Für die Verifikation sorgte der ortskundige Kollege, und wenn der irrte: Der Leser.

In diesem unendlichen Universum aus Fakten und Fälschungen, Meinungen und Gerüchten allerdings lauert die Gefahr, zum Spielball von Google, Facebook und Co. zu werden, da liegt die Chance für die alten Medien, so etwas wie Fixsterne zu sein, also durch Recherche, Dramaturgie, Stil, Glaubwürdigkeit und Transparenz herauszuragen. Das setzt allerdings voraus, dass sie ihre journalistische Qualität erhöhen, also Korrespondentennetze und Recherchepools ausbauen, Datenjournalismus und Verifikationsabteilungen aufbauen, es sei denn, sie haben sie, wie der SPIEGEL.

Und die Redakteure müssen ihr Verhältnis zu ihren Lesern neu denken: Journalisten sollten keine Türsteher mehr sein wollen, die entscheiden, was wie in die Köpfe ihrer Leser kommt; Journalisten sollten sich als Lieferanten sehen, die heranschleppen, was ihre Leser vielleicht in ihre Köpfe hereinlassen. Und das bedeutet: transparent zu arbeiten, Grenzen und Widersprüche ihrer Recherchen aufzuzeigen; um Wahrheit zu ringen, aber nicht zu glauben, im Besitz der Wahrheit zu sein. Und vor allem: im Meinungsaustausch mit den Lesern die Story weiterzuschreiben.

Ja, unbedingt: Respekt zeigen, den Leser ernst nehmen. Aber wie viele Leser sind nur passiv im Netz, haben weder Lust noch Zeit, Storys mit uns weiterzuschreiben? Ist nicht im Netz eine neue Elite unentwegt auf Sendung – neben den Nörglern, Beleidigern und verbalen Totschlägern, die es immer schon gab und die früher nur kein Medium hatten? Oder müssen wir im Dreck der Beleidigungen die Goldklümpchen entdecken?

Reicht es aus, wenn wir nicht mehr im Chefarzt-Ton sprechen?

Die Digitalisierung des Journalismus – eine ihrer Vorzüge – ermöglicht ein ganz neues Verhältnis zum Leser, durch Kommentarfunktionen, Chats, Redakteursblogs und die Personalisierung von Inhalten. Bisher haben die Verlage die Vorzüge der Digitalisierung vor allem in neuen Erlös- und Vertriebswegen von journalistischen Inhalten gesehen, sie investieren in Paywalls, E-Paper und Apps. Das nützt alles nichts, wenn sie gleichzeitig die Investitionen in journalistische Qualität zusammen streichen: Auf den digitalen Märkten ist die Konkurrenz größer als auf den analogen Märkten und das Preisniveau niedriger – wer langfristig wachsende Digitalerlöse will, muss sich gerade im Netz durch Qualität abheben.

„Ach ja, die Qualität!“, seufzt ein hoher Verlagsmanager gerne und blamiert seine Chefredakteure: „Und was bitte ist Qualität?“ Wie manche stottern oder einfach nur erröten.

Selbst wenn wir sie ausreichend bestimmen könnten, bleibt die Frage: Reicht unsere Ausbildung aus? Haben wir uns da schon auf die Zukunft eingestellt? Wer wie Cordt Schnibben beim Qualitäts-Gott Wolf Schneider gelernt hat, könnte lange und gut über den professionellen Journalismus der Zukunft sprechen; aber – wenn ich es recht sehe – wird die anspruchsvolle Ausbildung immer mehr ausgedünnt, so es sie überhaupt je gegeben hat. Wie ist es beispielsweise beim Spiegel?

Es muss schon irritieren, dass Springer Millionen  in die wohl beste Journalisten-Ausbildung in Deutschland investiert – ein Verlag, der diese Investition immerhin vor seinen Aktionären rechtfertigen muss.

Von uns Altvorderen, die Wolf Schneider genießen durften, können die Nachkommen lernen, was einen Journalisten zum Profi machen. Von den digitalen Ureinwohner lernen wir – auch eine neue Situation – wie man im digitalen Universum heimisch wird. Was wir allerdings auch lernen  und was wir den Nachkommen lehren sollten: Wir müssen künftig herausfinden, wie und wo wir unsere Recherchen vermarkten können – ohne die Regeln zu verletzen wie auf den Mode-Seiten der SZ (obwohl auch über diese Grenzen eine Debatte sinnvoll wäre).  

Und wir Journalisten müssen begreifen, dass wir in Zeiten der Digitalisierung in den Lesern mehr sehen müssen als zahlende Kunden, wenn wir auch zukünftig ihr Geld kriegen wollen. Sie sind Experten, Gesprächspartner, Themengeber, manchmal sogar Rechercheure, sie sind Kritiker, Korrektoren, manchmal Nervensägen, in jedem Fall ist ihnen unser Blatt so viel wert, dass sie mehr verdient haben als nur unsere höfliche Aufmerksamkeit. Darin stimmen – Erkenntnis meiner Rundreise – Schreiber, Kleber, Gutjahr und Schober, die vier Journalisten aus vier Generationen, überein, so unterschiedlich und spektakulär auch sonst ihre Antworten auf die Printkrise ausfallen. Zu lesen im neuen SPIEGEL

Noch einmal, und mit Inbrust: „Experten, Gesprächspartner, Themengeber, manchmal sogar Rechercheure,  Kritiker, Korrektoren, manchmal Nervensägen“ gab es im Lokalen immer schon; der Chefarzt-Ton klappt selten in einer Lokalredaktion. Aber es bleibt die Frage: Warum machen die meisten Lokalredaktionen so wenig mit den Themengebern und Nervensägen? Wir haben es einfacher als die Überregionalen.

Vor anderthalb Jahren habe ich eine ähnliche Rundreise entlang der Klippe der Krise gemacht, damals zu Chefredakteuren von Tageszeitungen – die ausdauernde Wucht des digitalen Tsunami war schon damals zu spüren. Die „Abendzeitung“ in München hat es bald darauf erwischt, aber es gab Stimmen aus der „SZ“, der „FAZ“ und der „Zeit“, die sich darüber wunderten, dass ein Printredakteur über die Printkrise schrieb: Wie kann man vor dem Tsunami warnen, dann hauen uns die Badegäste ab. Man dürfe die eigene Branche nicht schlecht machen, ganz so, als seien wir immer noch die Türsteher, die Texte über Strukturkrisen in der Luftfahrt, in der Atombranche und sonstwo zulassen, Artikel über die Medienkrise aber aussperren könnten.

Nun reicht es mit dem Tsunami. Und wo kommen denn nur die Klippen her? Und wenn doch: Nach Thailand fahren die Touristen wieder.

Und heute? Die „SZ“ zieht im kommenden Monat zum Schutz eine Paywall hoch, die „Zeit“ veröffentlicht inzwischen eine Krisenstory nach der anderen, in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ beschworen drei Redakteure gewagt das Ende der Zeitung auf Papier in sieben Jahren.

Im Gespräch damals warnte „FAZ“-Herausgeber Frank Schirrmacher, wenn es nicht gelinge, für Qualitätsjournalismus im Netz ausreichend Geld zu erlösen, rutsche die Printbranche in die „Ära des Darwinismus“, in der alle Tages- und Wochenzeitungen gegeneinander mit allen Mitteln um Anzeigenkunden, Leser und das Überleben kämpften. Von einer Paywall ist die „FAZ“ nach wie vor weit entfernt, schreibt im dritten Jahr in Folge tiefrote Zahlen; und der langjährige Mitherausgeber Günther Nonnenmacher warf dem verstorbenen Kollegen hinterher, solche Talking Heads wie Schirrmacher brauche die Zeitung nicht, der habe weder „die Auflage der „FAZ“ steigern können“ noch seien „wegen ihm mehr Anzeigen“ geschaltet worden. Solche Journalisten wie Nonnenmacher – unberührt davon, was und wer eine Zeitung dem Netz überlegen macht – sind die Totengräber der Tageszeitungen.

Musste dies Nachtreten gegen die FAZ und Nonnenmacher sein? Die Schmähung von Schirrmacher durch den Weggefährten war in der Tat unsäglich. Aber was soll es am Ende eines sonst  exzellente Essays? Wir Journalisten waren untereinander schon immer schlimmer als die schlimmsten Leser. Wenn wir über Qualität reden, ist Nachtreten wenig förderlich.

5 Kommentare

  • […] mehr sehen sollten als zahlende Kunden”) mit einer starken Antwort von Paul-Josef Raue (“Zu Schnibbens (“Spiegel”) Medien-Tsunami: Lokalzeitungen können überleben – nur wie?&…). […]

  • Lieber Herr Raue,

    zunächst herzlichen Dank für die Mühe, sich so lang und argumentativ mit meinem Text auseinander zu setzen. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie die Argumente und Gedanken auf die Wirklichkeit einer Lokalredaktion herunterbrechen. Da kann ich viel von Ihnen lernen. Zu einigen Punkten:

    1. Sprachbilder sind immer – da haben Sie recht – ein angreifbares Stilmittel, Sie versuchen es mit „digitalen Ureinwohnern“, ich mit dem Tsunami. Da ich 2004 zusammen mit einem Dutzend SPIEGEL-Kollegen die Abläufe und Folgen des Tsunami recherchiert und beschrieben habe, hat sich mir der Vergleich aufgedrängt, weil ich eine Paralelle sehe in der langandauernden zerstörerischen Kraft beider Vorgänge. Die Zerstörung eines Tsunami hängt sehr davon ab, wie der Mensch die Küsten bebaut hat und wie ernst er die Zeichen deutet, die einem Tsunami voraus gehen, darum ist das Ausmaß der Zerstörung zu einem Teil Menschenwerk. Und da ich 2004 mit vielen Tauchern gesprochen habe, die im Wasser waren, als die große Welle sie passierte, weiß ich, wie gut es sich dort aushalten läßt. Überdies zu empfehlen: „Der digitale Tsunami“ von Nicolas Clasen.

    2. Ich gehe tatsächlich seit anderthalb Jahren warnend auf und ab, erstaunt darüber, wie gelassen und ignorant viele meiner Kollegen ausgeruht vor sich hin schreiben.

    3. Dieser Blogtext ist nur die Begleitung zu dem siebenseitigen Text im SPIEGEL, dort wird etwas tiefer geschürft, also auch zum Beispiel die Anzeigenseite erörtert.

    4. Großer Einspruch: Die Digitalisierung ist nicht nur noch eine neue Stufe der technischen Entwicklung, sie verändert die Kommunikation nicht nur quantitativ, sie macht aus einem Sender-Empfänger- Verhältnis ein Sender-Sender-Verhältnis, und darauf haben sich noch zu wenig Journalisten eingestellt.

    5. Den Auftrag an Wortwalz gebe ich gern weiter.

    6. Der SPIEGEL trägt die Henri-Nannen-Schule mit, deren Ausbildung ist – wie wir beide wissen – vorbildlich gewesen und geblieben.

    7. Nonnenmacher formuliert mit seinem Tritt gegen Schirrmacher die in Redaktionen weitverbreitete Mißachtung allen Kollegen gegenüber, die mehr wollen als Routine, die aus der Zeitung ein stets überraschendes Blatt machen wollen, über das man spricht. Darum ist meine Schlußpassage nicht als Nachtreten zu verstehen sondern programmatisch.

    Aber nochmals: Das sind nur Kleinigkeiten, in vielem haben Sie recht.

  • Sehr geehrter Herr Raue,

    um es mit Goethe zu sagen: „Die Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der Glaube“ – Vielen Dank für Ihre Reaktion auf einen sehr lesenswerten Artikel von Herrn Schnibben. Jedoch: Ihre vielen Verbesserungsvorschläge vermisse ich in der täglichen Ausgabe der TA sehr und es wäre ein Einfaches, einfach Ihren eigenen Worten zu folgen. Warum nur hat die TA seit 2009 – Ihrem Antrittsjahr – ca. 30.000 Exemplare eingebüßt? Nun, gern zähle ich Ihnen Punkte auf, die ich als täglicher Leser vermisse:

    1.) „Unsere Leser haben uns schon immer kontrollieren können, weil sie sich in ihrer Stadt und Nachbarschaft auskennen. In einer Lokalzeitung können sie ihre Leser nicht an der Nase herumführen.“ Und dennoch schaffen Sie es nicht, mich als lokal sehr interessierten Leser zu fesseln. Ich lese in jeder Ausgabe Pressemitteilungen der Stadt, der Fachhochschule, der Universität und anderen Einrichtungen, die regelmäßige Pressemitteilungen veröffentlichen. Ich weiß selbst, was an diesen Institutionen passiert und wüsste oft gern mehr darüber. Dafür ist jedoch kein Platz/Geld/Zeit vorhanden, einmal HINTER eine Meldung zu schauen, die spannenden Geschichte hinter der Geschichte zu finden, mit Personen ins Gespräch zu kommen. Warum soll ich eine Zeitung zahlen, die zum großen Teil aus Texten besteht, die bereits kenne, weil sie auf den jeweiligen Seiten zu finden sind?

    2.) „Wer schaut, was in den Online-Auftritten der Lokalzeitungen geklickt wird, entdeckt vorne durchweg Blaulicht-Geschichten“ So auch bei der TA, aktuell heißt es dort: „Rettungshubschrauber-Einsatz wegen Arbeitsunfall in Gotha“ oder „Mühlhäuser wird schwer verletzt“. Beliebt sind die Fotostrecken, die in gefühlt 20 Fotos verunglückte Autos zeigen und die Feuerwehr. Wer braucht solche Meldungen UND die Fotos?

    3.) „Es ist die Aufgabe von Redakteuren, dafür zu sorgen, dass dieselbe Seriosität der gedruckten Zeitung auch im Netz Nutzer und bald auch Käufer findet. Das schreibt auch Schnibben, wobei es im Lokalen nie Verifikationsabteilungen gab. Für die Verifikation sorgte der ortskundige Kollege, und wenn der irrte: Der Leser.“ Und dieser Leser wünscht sich einfach nur Journalisten, die ihre Arbeit gut machen. Da sind DPA- oder AFP-Meldungen auf Seite 2 ein no-go, ebenso DPA-Meldungen im Thüringen-Teil, die über Streik oder Ereignisse aus dem Bildungsbereich berichten. Die DPA ist näher dran als die TA? – interessant. Bitte mehr Artikel von Herrn Debes, der über Politik schreiben kann und mehr Kultur. Auch dürfen auch mehr Interviews geführt werden – warum führt der Spiegel einen Artikel mit einem Staatssekretär aus Thüringen und die TA nicht? Dafür wird lieber die Zusammenfassung der DPA-Meldung gedruckt.

    4.) „Reicht es aus, wenn wir nicht mehr im Chefarzt-Ton sprechen?“ Den gab es schon früher ncht. Aus meiner Sicht bräuchte es jedoch nicht jeden Tag eine Ratgeber-Seite, die über Belangloses berichtet. Ich informiere mich gern selbst über Diät-Tipps, günstige Handytarife oder Zollbestimmungen für den Urlaub. Dazu brauche ich keine Tageszeitung.

    5.) „Aber es bleibt die Frage: Warum machen die meisten Lokalredaktionen so wenig mit den Themengebern und Nervensägen? Wir haben es einfacher als die Überregionalen.“ – Diese Antwort geben Sie leider nicht. Dabei wäre sie interessant. Die Geschichten liegen doch auf der Straße: Berichten sie in spannenden Reportagen über Arbeitsbedingungen vor Ort (Krankenhäuser), über Verwaltungstätigkeiten (Stadtverwaltung) oder über Bereiche, die sonst deutlich unterrepräsentiert sind.

    Bitte lassen Sie mich wieder gern die TA lesen!

    Ein nachdenklicher Leser der TA, Jg. 1986

    • Sehr geehrter Erfurter1968,

      ich mag keine anonymen Kommentatoren in meinem Blog. Wer in einer Demokratie etwas sagen will, sollte sein Gesicht schreiben – erst recht wenn es nicht um Leben und Tod geht, sondern um Lokaljournalismus. Wer anonym blieben will, findet im Netr genügend Ecken, wo er sich austoben kann.

      In der Hoffnung auf Besserung lesen Sie bitte diese Antwort:

      1. Wo haben Sie die 30.000 Exemplare recherchiert? Die Zahl ist falsch. Generell zu Auflagen: Die TA, wie eine Reihe anderer Zeitungen, verliert kaum Abonnenten – es sei denn sie sterben, gehen ins Altersheim, ziehen um usw. Aber im Gegensatz zu den guten alten Zeiten kommen nicht ausreichend neue Abonnenten – vornehmlich junge – hinzu, um die Auflage stagnieren oder gar steigen zu lassen. Wir halten also die Stammleser – die auch gerne mal Diät-Tipps lesen – und gewinnen nur wenige neue. Zudem steigert die TA seit Jahren, als eine der wenigen deutschen Zeitungen, den Einzelverkauf, nicht selten mit zweistelligen Zuwächsen.

      2. Unsere Reichweite war noch nie so hoch – wenn wir Online und gedruckte Zeitung zusammennehmen. Das lässt sich allerdings schwer rechnen: Was ist der entsprechende Online-Wert zu einer verkauften oder intensiv gelesenen Zeitung? Unser Fehler in den vergangenen Jahren bis in die Gegenwart: Die Abonnenten der Zeitung subventionieren die Online-Leser, die fast alles, was wirklich teuer ist, umsonst bekommen.

      3. Sie lesen Pressemitteilungen, die Sie schon kennen, so schreiben Sie. Wenn das stimmt, müssten Sie den halben Tag lang die Webseiten aller wichtigen Institutionen durchforsten. Das übernehmen wir für unsere Leser: Wir prüfen täglich Hunderte von Mitteilungen: Welche müssen unsere Leser unbedingt erfahren? Wir kürzen sie, bringen sie in eine verständliche Form. Das gelingt nicht bei jeder Meldung und nicht jeden Tag. Aber die Trennung von Wichtigem und Unwichtigem ist eine der Aufgaben einer guten Lokalredaktion. Welcher Bürger, der arbeitet und sich des Lebens freut, kann dies schon tun?

      4. Sie behaupten, wir schauen nicht hinter die Meldungen. Ich nehme den heutigen Erfurter Lokalteil (4. März):

      + Wir recherchieren, was die Stadtverwaltung wirklich tut, um die Flüchtlinge unterzubringen. Das steht in keiner Pressemitteilung.
      + Wir erzählen, was bei einer Bombendrohung in einem Gymnasium passierte. Das steht in keiner Polizeimeldung.
      + Wir fragen den Volkshochschul-Leiter, wie er es mit Kursen für ältere Bürger hält und fragen gleich auch fünf Kurs-Absolventen zwischen 61 und 75. Das steht so in keiner Pressemitteilung
      + Wir erzählen, wie Erfurter einem Jungen aus Kabul helfen. Das steht in keiner Pressemitteilung.
      + Wir fragen vier Stadtrats-Fraktionen, was sie vom Verbot von Heizpilzen halten. Das müssten sich Leser mühsam aus verschiedensten Internet-Seiten zusammenbasteln, wenn dort überhaupt schon etwas zu dem Thema steht. Zudem kommentieren wir den Grünen-Antrag.

      5. Unter den zehn Top-Meldungen auf unserer Homepage ist in der Regel maximal die Hälfte aus der Blaulicht-Ecke. Wer braucht Blaulicht? Das dürfen Sie mich nicht fragen.

      6. AFP-Meldungen haben wir nicht, schon seit Jahren nicht: AFP ist eine staatliche Agentur. „dpa“ ist eine unabhängige Agentur mit exzellenten und teuren Journalisten. Es gibt auch ein dpa-Büro in Thüringen: Wir wissen, worüber die dpa-Redakteure berichten – und besetzen Termine in der Regel nicht doppelt, um Zeit für eigene Themen zu finden, die auf der Straße liegen
      Auch der „Spiegel“ findet mal ein Exklusiv-Thema aus Thüringen: Dann berichten wir halt, was der Spiegel herausgefunden hat. Die meisten unserer Leser lesen den Spiegel nicht.

      7. Viele unserer Leser wollen Ratgeber-Themen. Auf der Liste der meistgelesenen Seiten steht Ratgeber weit vorne. Den Hochmut, Wünsche unsere Leser als belanglos zu diffamieren, können und wollen wir uns nicht leisten.

      8. Wir reden oft und viel mit unseren Lesern, wir verstehen uns als Bürger- und Debattenzeitung: Parlament der Einheit, Senioren-Redaktion, Leser-Telefon, Verbraucher-Telefon, Debatten mit Lesern, heute beispielsweise über Flüchtlinge mit dem zuständigen Minister usw.

      Das bedeutet allerdings, dass bei der TA auch manches noch besser werden kann und muss.

  • Sehr geehrter Herr Raue,
    ich lese die TA zwar nicht, weil ich in einer anderen Gegend Deutschlands lebe, aber der Beitrag Ihres Lesers (nun gut, lassen Sie ihn doch anonym seine Meinung sagen, sie ist ja nicht beleidigend in der Absicht, sondern sehr reflektiert) hat viele von den Problemen genannt, die ich mit unserer hiesigen Lokalzeitung habe. Ihre Reaktion auf diese Kritik Ihres Lesers wirkt, sagen wir mal, pikiert und Sie sind hauptsächlich damit beschäftigt, sich zu rechtfertigen. Am Schluss Ihrer Replik bleibt kein Argument Ihres Lesers unwidersprochen und Sie haben ihn (erfolgreich?) abgewehrt. Aber ist das wirklich sinnvoll? Da haben Sie einmal einen Leser, der Ihnen sagt, wie er Ihre Zeitung sieht, und Sie möchten es am liebsten gar nicht wahrnehmen.
    Ihr Leser hat doch Recht: Die Tageszeitungen müssen herausfinden, was ihre Leser interessiert, und dieses Interesse ist gerade in einem starken Wandel begriffen, weil der Leser selbstbewusster – da muss man auf Schnibben hören – und anspruchsvoller wird.
    Mit freundlichen Grüßen
    Thomas Siebert

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