„Zwangsregionalisiert“: Wie viel Provinz verträgt eine Regionalzeitung?

Geschrieben am 29. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Das ist die Zeile des Aufmachers im Flensburger Tageblatts:

Bundeswehr sorgt sich um Husumer Soldaten in der Türkei

Die Schutzvorkehrungen für die entsandte Flugabwehr-Einheit wurden verschärft. Der Grund ist der Anschlag in Suruc.

Das geht doch nicht! sagen die Hohepriester des seriösen Journalismus, das ist doch provinziell! So ähnlich dürfte auch die Redaktion in Flensburg diskutiert haben, wie man dem Newsletter von Stefan Kläsener entnehmen kann. Der neue Chefredakteur der nördlichsten Redaktion in Deutschland schreibt:

Bis Abends waren wir uns in der Redaktion uneins – wirkt die Geschichte über unsere Husumer Soldaten in der Türkei zwangsregionalisiert oder ist die Seite Eins der richtige Platz? Beim Lesen heute Morgen waren wir dann alle überzeugt. Und auch die Resonanz unserer Leser ist groß – eine richtige Entscheidung. (29. Juli 2015)

Die Leser haben, wie so oft, einfach Recht. Weiter so im Norden!

5 Kommentare

  • Ich fasse es nicht: Selbstverständlich ist ein solches brisantes Thema das für die erste Seite. Die in diesem Zusammenhang wie willkürlich professionellem Journalismus vor die Füße geworfene unsinnige Frage „Wie viel Provinz verträgt eine Regionalzeitung?“ am Beispiel einer offensichtlich speziell drögen Flensburger Redaktionsdiskussion mag andeuten, dass P. J. Raue sich gelegentlich wie die Flensburger in praxisferne Fragestellungen verirrt. Wollte er der Flensredaktion was hinreiben? Auf die im Subtext der Frage suggerierte mögliche Gegenüberstellung von „Provinz“ und „Regionalzeitung“ kann sich der Chefredakteur nur nach selbsttätig mutiger Entfernung einiger Bretter vor dem Hirn einen nicht „zwangsregionalisierten“ neuen Überblick verschaffen. Ansonsten erweiterte Raue den „Friedhof der Wörter“ um einen weiteren selbst geschaffenen Grabstein der Wörter und verlöre nach und nach auch mit Handbuch vollends die Übersicht….

    • Ich danke für den Hinweis, dass ich dabei bin, die Übersicht zu verlieren und die Praxis nur noch in der Ferne sehe. In Ihrem Text, verehrter Herr Kretschmer, habe ich die Übersicht allerdings auch verloren: Was für eine Wortgewalt in einem 42-Wörter-Satz, gefolgt von einem Subtext, in dem ich schlicht versunken bin!

  • Kennen wir auch, diese Diskussion: „Ist es provinziell, das Lokale in den Vordergrund zu rücken? Kritik an der Umgestaltung des Mindener Tageblatts und die Antwort der Chefredaktion“: http://www.mindenertageblatt.de/blog_mt_intern/?p=11156

    • Lokales auf der Titelseite oder: was ist unser Bildungsauftrag?

      Es lohnt, die Begründung von MT-Chefredakteur Christoph Pepper auszugsweise zu lesen. Eine Leserin hatte im Mindener Tageblatt protestiert:

      Ihre Einstellung schwerpunktmäßig die Lokal- Berichterstattung auszubauen, mag aus ihrer Sicht für eine Lokalzeitung begründet sein.
      Gleichwohl finde ich deren Akzentuierung auf Seite 1 sehr unglücklich und sie bereitet mir Unbehagen, wird doch in einer zunehmend globalisierten Welt das Lokale (Provinzielle) derartig in den Vordergrund gerückt. Dabei ist das ja nur ein Formproblem. Inhaltlich würde ja nichts verändert, es ist nur die Frage der Gewichtung, doch mit fataler Auswirkung auf das Selbstverständnis eines guten Journalismus mit entsprechendem Bildungsauftrag.

      Der Chefredakteur des Mindener Tageblatts antwortet

      In der Tat ist das Mindener Tageblatt eine Lokalzeitung. Und nichts anderes wollen wir sein – das aber nach Möglichkeit mit dem hohen Anspruch, das Geschehen in Heimat und Welt in seiner Bedeutung für die Leserschaft miteinander in Verbindung zu setzen. Dies haben wir auch auf der Titelseite nun noch einmal deutlicher gemacht als auch bisher schon.
      Nun steht täglich immer das wichtigste überregionale Nachrichtenthema sowie das wichtigste bzw. interessanteste Thema aus der Region auf der Titelseite – und je nachdem, wie die Redaktion es in Bezug auf seine Diskussions-Relevanz einschätzt, entscheidet sie, welchem der größere Platz zugemessen wird.
      Dass wir deshalb provinzieller (als vorher?) geworden sind, sehe ich nicht (ich wäre übrigens durchaus bereit darüber zu streiten, ob „provinziell“ als negative Kategorie taugt, gerade für eine Lokalzeitung). Im Gegenteil: wir haben der überregionalen Politik-, der Wirtschafts- und Kulturberichterstattung sogar deutlich mehr Platz eingeräumt als früher.
      Außerdem haben wir durch eine – wie wir finden: praktische – Zweiteilung der täglichen Zeitung in eine Hälfte mit dem Lokalteil und eine Hälfte mit Überregionalem und Sport auch die Möglichkeit geschaffen, sich gezielt dem Themenbereich zuzuwenden, der am meisten interessiert.
      Eine fatale Aufgabe unseres journalistischen Anspruchs bzw. der damit verbundenen Bildungsauftrags kann ich darin nicht erkennen. Nochmals im Gegenteil: Durch die Einführung neuer Elemente wie etwa der monothematischen Seite 3 (übrigens auch im Lokalteil) haben wir den journalistischen Anspruch deutlich gesteigert: endlich gibt es Platz für ausführliche Hintergrundberichterstattung mit großen Korrespondentenberichten, Erklärstücken, Grafiken, Kurzinterviews, Faktenboxen und mehr. Nebenbei: aufwendige Elemente, die Sie in wenigen deutschen Zeitungen unseres Typs und unserer Größenordnung finden werden.

  • Selbstverständlich teile ich die Ausführungen des Chefredakteurs des Mindener Tageblatt, weil ich beide Seiten dieser meiner Meinung nach eigentlich längst überholten Diskussion kenne. Als Redakteur der Mantelredaktion Saale-Zeitung Bad Kissingen, war mir immer bewusst, dass wichtige lokale Nachrichten auf Seite 1 untergebracht werden mussten, auch wenn damit gelegentlich drucktechnische Probleme verbunden waren, die, weil kostenintensiv, im Layout nicht immer glücklich gelöst wurden, weil mainfränkische und südthüringer Redaktionen an manchen Tagen und späten Abenden zugleich oftmals interessante und lokale wichtige Nachrichten zu vermelden hatten. Als nach zwischenzeitlitlicher Übernahme durch die WAZ, dann durch die Bamberger MGO auch die Saale-Zeitungslandschaft unter Chefredakteur Joachim Widman konzeptionell mit Lokalaufmachern „neu aufstellt“ wurde, verbunden mit scharfen Anforderungen an Sprachregulierungen und Erwartungen an beste Fotos, entschied ich mich als 60-Jähriger bei der Auflösung der Mantelredaktion in den letzten Berufsjahren nicht für den Desk, sondern für den Job als Lokalreporter. Die Umstellung war hart, aber ich möchte diese Zeit wegen vieler neuer Kontakte mit Menschen vor Ort und auch interessanter Unternehmer-Akitivitäten, die oftmals mit Themen weit über lokale regionale und Landespolitik hinaus alllein schon wegen Fölrdergeldern vermixt waren, nicht vermissen, Daher kann ich ein wenig mitreden und klar sagen, dass ich P.J. Raues Fragestellung zu „Zwangsregionalisierung/Provinz “ für eine nur scheinbar provozierende und nicht wirklich durchdachte und zielführende, eigentlich für eine alberne halte. Dieses „Zwangsregionalisiert“, hätte er als kritischer Chefredakteur allein schon wegen der Sprachwahl auf seinem „Friedhof der Wörter“ vorab beerdigen sollen. Aus der „Rhön-Provinz“ grüßt Wolfgang Kretschmer

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