Gewerkschafts-PR wird zum Weihnachts-Aufmacher der Süddeutschen
Der Aufmacher der Süddeutschen Zeitung in der Weihnachts-Ausgabe ist ein Angstmacher: „Flüchtlingskrise und Terrorgefahr überfordern Deutschlands Polizei“, so der Beginn der Unterzeile. Ob ein Angstmacher die Leser unterm Tannenbaum abholt, dürften die meisten Blattmacher deutlich verneinen: Sie empfehlen den Mittelweg zwischen dem Elend der Welt und der Rührseligkeit der stillen Nacht. Den geht in der SZ Heribert Prantl, der Moralist für besondere Aufgaben (gern auch christlich), auf der vierten, der Meinungsseite: Auch er denkt nach über Angst und Eingreiftruppen, aber er meint nicht die irdischen, in der Polizeigewerkschaft organisierten, sondern die himmlischen, die Engel.
Der Prantl wäre der bessere Aufmacher gewesen: „Engel ist jeder, der Kraft hat, aus dem Ring der Unversöhnlichkeit zu springen.“ Aber ein Kommentar als Aufmacher? Der Angstmacher, den die SZ wählte, ist auch einer, wenn man ihn freundlich beurteilt. Eigentlich ist er ein PR-Beitrag der Gewerkschaft, der wie eine Nachricht präsentiert wird.
Recherche fand nicht statt. Es gibt eine einzige Quelle: Zwei Funktionäre der Gewerkschaft der Polizei, der Chef in NRW und Vizechef im Bund; dazu kommt ein Polizist aus Recklinghausen, der einen „Brandbrief“ geschrieben hat. In die Funktionärs-Erregung stimmt der Redakteur ein: „Die Überlastung hinterlässt Spuren“, wobei der Redakteur durchaus seine eigene Recherche-Überlastung gemeint haben könnte.
Da kommt kein Ministerium, weder Bayern noch Bund, zu Wort, kein anderes Bundesland als NRW rückt in den Blick, keine der privaten Sicherheitsfirmen, die auch ins Visier geraten, wird befragt. Selbst die Grafik zum Text, die den Stellenabbau illustriert, ist schludrig: Gemischt werden Angaben von Gewerkschaft und Statistischem Bundesamt; die Zeitabstände auf einer linearen Zeitachse sind höchst unterschiedlich, mal zwei Jahre, dann drei Jahre, dann neun (!) Jahre, abschließend ein Jahr. Zudem stimmen die Zahlen im Artikel-Text und in der Grafik nicht überein: Während der Text von einem Abbau „bis zu 17.000 Stellen“ spricht, zeigt die Grafik einen Abbau von 22.000.
Die Vergleiche hinken: Was hat die Schließung von Dorfwachen mit Großeinsätzen wie G-7-Gipfel und Bundesliga-Spielen zu tun? Was eine Rufbereitschaft mit „Heiligabend in Uniform“ (so die irritierende Überschrift)? Wahrscheinlich haben die Funktionäre die schiefen Vergleiche geprägt – aber ist es Aufgabe eines Journalisten, sie so zu übernehmen?
Wahrscheinlich haben wir zu wenige Polizisten und zu viele Überstunden – doch darum geht es nicht: Es geht um professionelle Standards des Journalismus, um die rechten Themen zur rechten Zeit, um ausführliche Recherche, um Nachrichten, nach denen man sich richten kann, um klare Analysen, die dem Leser ein eigenes Urteil ermöglichen, um eine klare Sprache – und Kommentare, die als Kommentare zu erkennen sind.
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Quelle: „Heiligabend in Uniform“, SZ 24. Dezember 2015
Was macht eine Zeitung erfolgreich? Ein Standpunkt, nicht Nachrichten (Zitate der Woche)
Die Wahrnehmung der Richtlinienkompetenz ist für einen Chefredaktor zentral. Das ist in jeder erfolgreichen Zeitung so.
Eric Gujer (53) ist Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung. Dies sind die schönsten Sätze aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
> Im Internetzeitalter sind Nachrichten Commodities. Gratisware. Was zählt ist ein Standpunkt.
> Wie die „Zeit“ den großstädtischen deutschen Studienrat abholt, das ist hohe Kunst.
> Wir haben einen sehr gepflegten Sprachstil. Wir formulieren vielleicht nicht so umgangssprachlich wie die Blätter in Deutschland. (Zur Frage, warum auffallend oft Stilblüten in der NNZ stehen wie „Bäume wachsen nicht in den Himmel“)
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 12. Dezember 2015
Überschriften: Nicht-Nachrichten sind selten eine Nachricht
Wurst für Vegetarier: Kein Trend in Brandenburg
Titelzeile Märkische Allgemeine, Potsdam, (Hinweis im Text: „Nachfrage in Berlin ist größer“) / zitiert im Checkpoint von Lorenz Maroldt, 28.5.15
FACEBOOK Hinweis von P Achim Tettschlag
28.11.11 GEHEIMNIS einer ÜBERSCHRIFT
Gestern las ich:
„Viele MENSCHEN
erkennen beim LESEN zwischen den ZEILEN nur,
dass dort nichts steht … “
Heute sage ich:
Wer zwischen den ZEILEN nicht lesen kann,
weil er dort nichts stehen sieht,
hat die ÜBERSCHRIFT nicht verstanden !
Ein Kommentar dazu: Während meiner ABI-Zeit auf der Volkshochschule und während des Fernstudiums habe ich mir autodidaktisch das sogenannte „DIAGONALLESEN“ angeeignet.
Dabei ist bereits das geistige Erfassen und Deuten der ÜBERSCHRIFT / des TITELS von großer Bedeutung für das Weiterlesen … Ohne Zweifel birgt dieses Verfahren Gefahren in sich, aber ich bin damit eigentlich erfolgreich alt geworden …
Medien-Ethik nach dem Absturz (2): Persönlichkeitsrechte gegen „Person der Zeitgeschichte“
Ins Zentrum der Debatten nach dem Airbus-Absturz drängte sich schnell die Frage: Durften und dürfen Medien den Namen des Copiloten nennen? Die Entscheidung, was richtig ist und was falsch, war offenbar schwer:
Auf der einen Seite steht das durch die ungeheuerliche Tragik und die schrille Warumfrage begründete öffentliche Interesse und auf der anderen Seite die auch durch berufskulturelle Regeln abgestützte Unschuldsvermutung und der Respekt vor der Privatsphäre der Angehörigen
sagt der Schweizer Professor Vinzens Wyss und folgert: „Das öffentliche Interesse muss in diesem Fall zurückstehen.“
Die Bandbreite der Einschätzungen gibt ausführlich eine Umfrage von Michèle Widmer bei persoenlich com wieder, die sechs Schweizer Journalisten und Medienethiker befragt hatte (hier in Auszügen, Überschriften von mir):
Persönlichkeitsrechte sind zu wahren
Tristan Brenn, Chefredakteur TV von SRF (Schweizer Radio und Fernsehen): „Im Grundsatz gilt, dass Persönlichkeitsrechte und der Schutz der Privatsphäre, wenn immer möglich, zu wahren sind. Das gilt für Opfer wie auch für mutmassliche Täter und dient nicht zuletzt auch dem Schutz von Angehörigen. Im Fall des Co-Piloten von Germanwings sahen wir keine Veranlassung, von diesem Prinzip abzuweichen. Die relevanten Informationen sind nicht abhängig von der Identifizierung der Person mit Namen und Bild.“
Namensnennung besitzt keinen Mehrwert für das Publikum
Peter Bertschi, stellvertretender Chefredakteur Radio von SR, hatte angewiesen vom „28-jährigen Co-Piloten‘ zu sprechen. „Wir halten uns an unsere publizistischen Leitlinien, dass wir Namen von mutmaßlichen Tätern und Opfern ‚grundsätzlich nicht nennen‘, dass wir ganz allgemein bei SRF ‚bei der Namensnennung nicht vorangehen‘. Hinzu kam noch die Überlegung der Chefredaktion Radio SRF, dass das Schweizer Publikum erst recht keinen Mehrwert hat, wenn der Name genannt wird.“
Foto und Name helfen nicht bei der Antwort auf die Warumfrage
Vinzenz Wyss, Professor für Journalistik am Institut für Angewandte Medienwissenschaft der ZHAW (Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften):
„Weder der veröffentlichte Name noch das Bild helfen uns bei der Beantwortung der Warumfrage. Was ist dadurch gewonnen? Selbst wenn im Netz und bei einigen Medien der Name schon veröffentlicht wurde, bleibt der medienethische Entscheid immer auch eine Frage der Haltung der jeweiligen Redaktion. Der routinierte Verweis auf die Bekanntgabe durch den Staatsanwalt entbindet die Medien nicht vor der Pflicht, selbst eine Güterabwägung vorzunehmen. Unpassend finde ich den Versuch, das wie auch immer produzierte Publikum darüber abstimmen zu lassen.“
Im Alleingang ist der Name nicht zu schützen
Dominique Eigenmann, Nachrichtenchef Tages-Anzeiger (Zürich): „Der Tages-Anzeiger anonymisiert Personen. Beim Co-Piloten Andreas Lubitz ist dies objektiv nicht mehr möglich, seit der französische Staatsanwalt dessen Namen ausdrücklich genannt (und sogar buchstabiert) hat. Die angelsächsischen und lateinischen Medien nennen ihn seither alle namentlich, auch die meisten deutschen und Schweizer Zeitungen. Das hat für unsere Überlegungen hinsichtlich einer allfälligen Anonymisierung insofern eine Bedeutung, als wir als Medium die Persönlichkeitsrechte eines Betroffenen nicht im Alleingang zu schützen imstande sind.
Mitentscheidend ist die Nähe zum Geschehen
Weiter Dominique Eigenmann: „Wäre Lubitz Zürcher gewesen und hätte sich das Unglück in Zürich zugetragen, hätten wir seinen Namen, aus Rücksicht auf die Angehörigen, wahrscheinlich anonymisiert, selbst wenn ausländische Medien ihn längst genannt gehabt hätten.“
Massenmörder sind Personen der Zeitgeschichte
Und noch einmal Dominique Eigenmann: „Der rigorose Schutz vor Nennung gilt überdies ausdrücklich nicht für ‚Personen der Zeitgeschichte‘ – für den Massenmörder Anders Breivik etwa oder den 9/11-Attentäter Mohammed Atta. Etwa in diese Kategorie gehört unserer Meinung nach auch Andreas Lubitz, soviel war jedenfalls auf Anhieb absehbar. Deswegen haben wir gleich nach der Pressekonferenz von Marseille entschieden, online wie auch in der Zeitung den Co-Piloten beim Namen zu nennen“
Der Untersuchungsrichter hat das Opfer zum Täter gemacht und so zur Person der Zeitgeschichte
Peter Studer, Jurist und Autor über Medienrecht/Medienethik, ehemals Chefredakteur: „Der zuständige französische Untersuchungsrichter hatte präzis sowie mit Quellenangabe des Voice-Recorders über den Co-Piloten und seine Todesflugphase berichtet. Die Regierungschefs von Frankreich und Deutschland sowie die Spitzen der Lufthansa schienen diese Zuschreibung in ihren Statements zu übernehmen. Damit war der Co-Pilot – wie eine Redaktion folgerte – objektiv vom Opfer zum Täter geworden. Das persönliche Verschulden muss allerdings wegen Krankheitsverdacht – Zurechnungsfähigkeit? – offen bleiben. So oder so halte ich dafür, dass der Co-Pilot mit diesen amtlichen Schritten zur ‚Person der Zeitgeschichte‘ wurde und mit Namen genannt werden durfte.“
Kein Foto, kein Name – es sei denn der Täter sucht die Öffentlichkeit
Philipp Cueni, Chefredakteur EDITO +Klartext Medienmagazin und Dozent für Ethik an der Journalistenschule MAZ: „Dass zur Person des Piloten recherchiert worden ist, ist absolut in Ordnung. So kann man allenfalls klären, ob politische Hintergründe oder strukturelles Versagen beim Unglück, respektive bei der Tat eine Rolle gespielt haben. Der Name und das Bild des Co-Piloten spielen in diesem Zusammenhang aber keine Rolle und bringen für die Öffentlichkeit auch keine Erkenntnis.
Anders ist die Situation zu beurteilen, wenn ein Täter selber – zum Beispiel mit einem politischen Manifest wie im Fall Breivik – die Öffentlichkeit sucht.“
Eine neue Regel: Das Wichtigste steht am Schluss? Spiegel-Online macht’s vor
Spiegel Online zeigt einen lächelnden VW-Chef Winterkorn im Foto, schreibt in die Schlagzeile: „Er lächelt gegen seine Demontage an“, wiederholt sich im Vorspann: „Nur lächeln, nicht reden“ – nur wer kurz und knackig wissen will, was geschehen ist, der erfährt am Ende des kurzen Vorspanns:
Wenig Zeit? Am Textende gibt’s eine Zusammenfassung.
Und so läuft der Text auch ab: Nach rund fünfzig Zeilen im XL-Format und einer halben Internet-Ewigkeit gibt es die versprochene Zusammenfassung. Ist das eine neue Regel: Das Wichtigste oder die Zusammenfassung steht nicht mehr am Beginn eines Artikels, sondern am Ende?
So endet der Spiegel-Online-Artikel:
Zusammengefasst: VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch hat sich von Vorstandschef Martin Winterkorn distanziert. Bisher stellen sich andere wichtige Aufsichtsräte hinter Winterkorn, darunter Niedersachsens Ministerpräsident Weil. Doch der Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer glaubt, dass letztlich Piëch den Machtkampf gewinnen wird.
Torsten Beeck, Sozial-Media-Chef des Spiegel, bestätigt per Tweets das Experiment: „Das Wichtigste steht im Artikel, der letzte Absatz ist die Zusammenfassung für alle, die keine Lust haben zu lesen.“ Das Experiment sei auch sehr gut bei den Nutzern angekommen laut Befragung auf verschiedenen Kanälen: „Sehr viel Feedback via E-Mail durch Blogpost des Chefredakteurs.“
Offen ist: Steigert oder senkt die Zusammenfassung am Ende die Verweildauer? „Die Zahlenbasis ist noch zu klein“, twittert Torster Beeck, der allerdings hofft, dass die neue Regel die Zufriedenheit steigert.
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Quelle: Spiegel Online, Montag, 13.04.2015, 10:38 Uhr
Der letzte Absatz hinzugefügt am 15. April (Zitate Beeck)
Ist Klatsch wichtiger als politische Information? (Leser fragen)
Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Informationen, die Platzierung auf den Seiten und die Größe der Artikel?
So fragt ein Leser der Thüringer Allgemeine (TA) Als Beispiel nennt der Leser aus Weimar den einspaltigen Artikel „AfD klagt gegen Abschiebestopp“ am 5. März; über das Thema hatte die nationale Zeitung „Die Welt“ ausführlicher berichtet. Dagegen berichtete die TA groß über den Fehltritt von Altkanzler Helmut Schmidt: „Liebe, Macht und Seitensprünge“. Der Leser stellt fest: „Auf einer Seite eine auf das Nötigste reduzierte Information und auf der anderen Seite eine übergewichtige Boulevardglosse. Ändert sich das Genre von Information auf Klatsch?“
Und der Leser fragt abschließend: „Warum erläutern sie nicht genau so wortreich den Hintergrund der Verfassungsklage? Und warum lesen wir darüber keinen Kommentar?“
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Wir wählen die Informationen aus, die wichtig sind für die Wähler in Thüringen, die das Leben und den Alltag unserer Leser in Thüringen beeinflussen und die zum Gespräch zu Hause oder bei der Arbeit taugen. Wir erklären das, was schwer zu verstehen ist, und wir kommentieren es, um unsere Leser zu Widerspruch oder Zustimmung zu reizen.
Über das Gutachten von Professor Schachtschneider, das die AfD zum Abschiebestopp bestellt hatte, berichteten wir ausführlich schon am 24. Februar, also zwei Wochen vor der „Welt“. Dass die AfD mit dem Gutachten vors Verfassungsgericht ziehen will, war deshalb nur eine Meldung; den Hintergrund hatten wir schon ausgeleuchtet.
Unser Reporter Martin Debes kommentierte ausführlich das Gutachten, die Klage und die Position der Regierung in seinem „Zwischenruf: Auf der rhetorischen Wippe“.
Die Enthüllungen der Liebesaffäre von Helmut Schmidt ist nur vordergründig Klatsch. Es geht vor allem um die Inszenierung und die Doppelmoral von Politikern: Schmidt zeigte der Öffentlichkeit das Bild einer guten, gar vorbildlichen Ehe. Wenn sich herausstellt, dass er seine Wähler getäuscht hatte, sprechen wir schon über eine wichtige Information.
Der Journalist Klaus Harpprecht schrieb in seinen Memoiren, die Ende vergangenen Jahres erschienen sind, von Schmidts Doppelmoral, der stets „schrecklich moralisierend“ dem Parteifreund Willy Brandt dessen offenkundige Liebschaften vorwarf. So etwas muss der Bürger erfahren, es wäre fahrlässig, wenn wir diese Nachricht unterdrückt hätten – gleich ob wir Helmut Schmidt mögen oder nicht.
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Thüringer Allgemeine, 14. März 2015, Leser fragen
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Die Kolumne „Zwischenruf“ von Martin Debes zum Thema
Auf der rhetorischen Wippe
Der AfD in Thüringen hätte nichts Besseres passieren können als diese Koalition. Neulich zum Beispiel, bei der von der neuen Fraktion beantragten Landtagsdebatte zum Winterabschiebestopp, ließ sich dieses fast schon symbiotische Verhältnis gut beobachten.
Mit Lust hüpfte Rot-Rot-Grün auf die rhetorische Wippe, die von der AfD aufgebaut worden war. Hoch und runter ging es, immerzu. Vor allem Linke und Grüne waren sich einig: Die Gegnerschaft der AfD zum Abschiebestopp sei mindestens rassistisch, wenn nicht gar nazistisch.
Allerdings fiel bei all der Empörung den Beteiligten nicht auf, dass, wenn man dieser Logik bis zu ihrem überaus schlichten Ende folgt, auch der Bundesinnenminister, die Mehrheit des Bundestages und der Länder irgendwie rassistisch sein müssen. Schließlich finden auch die den Abschiebestopp falsch oder haben ihn zumindest nicht eingeführt.
Gewiss, man muss sich der von der AfD propagierten Meinung nicht anschließen: Aber man sollte sie ernst nehmen. Nicht nur, weil sich dies in einem demokratischen Land gehört, sondern auch, weil es klug wäre.
Es ist doch so: Rot-Rot-Grün hat mit dem Winterabschiebestopp, den sie als ihren ersten Regierungsakt geradezu zelebrierten, bewusst Symbolpolitik veranstaltet.
In der Realität handelt es sich nurmehr um einen temporären Erlass, der an dem Dasein der meisten Flüchtlinge nichts grundhaft ändert. Das Justizministerium, das jetzt vor allem Migrationsministerium heißen will, kann keine genauen Zahlen mitteilen. Aber es sind bislang wohl nur etwas mehr als 100 Menschen, die aufgrund des Abschiebestopps in Thüringen bleiben durften.
Doch die AfD kümmern die Fakten genauso wenig wie die Koalition. Sie bekämpft Symbolpolitik mit Symbolpolitik. Erst das Rechtsgutachten, dann die Debatte im Landtag, nun die Klage beim Verfassungsgericht: Die Partei reitet, so wie die Koalition, ein Prinzip – nur eben das gegenteilige.
Dass der Abschiebestopp so gut wie nichts damit zu tun hat, dass immer mehr Asylbewerber im Land unterkommen müssen, ja, dass die Maßnahme demnächst ausläuft – das interessiert weder die eine noch die andere Seite. Jeder bewegt sich ausschließlich in seinem politischen Universum und bedient jeweils die eigene Klientel.
Insgeheim beginnen die Koalitionsfraktionen zu ahnen, dass ihre Reflexe die AfD nur aufwerten. Tatsächlich hat sich die Partei in dem halben Jahr ihrer parlamentarischer Existenz durchaus professionalisiert. Die Mischung aus Provokation, Populismus und normalen Politikansätzen könnte funktionieren, vor allem dann, wenn den anderen nicht mehr einfällt, als wahlweise munter drauf zu hauen, auszugrenzen oder gar mal eben eine Veranstaltung zu zerstören. In all dem Getöse fällt es nicht weiter auf, dass die AfD zum großen Teil gar nicht weiß, was sie will, außer vielleicht ausrangierte Positionen von Union und FDP einzunehmen – zumal sie unterhalb der Fraktionsebene wenige arbeitsfähige Strukturen besitzt.
Das einzige echte eigene Thema, die Europapolitik, wird bei Landeswahlen kaum mehr ziehen – zumal keiner vorhersehen kann, was aus der Gesamtpartei wird. Eine neoliberal-konservative Lucke-Partei oder ein rechtsäußeres Ideologieprojekt? Wer weiß.
Natürlich, es stimmt ja: Dort, wo die Argumente fehlen, arbeitet die AfD mit Vorurteilen, schürt Ängste und bedient sich bei Sprüchen, die so auch bei der extremen Rechten Verwendung finden. Die Rhetorik des Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke grenzt oft genug ans Völkische. Er selbst besitzt dabei die unangenehme Anmutung eines Missionars, auf den Deutschland gerade noch gewartet hat, derweil sein Fraktionsvize Stephan Brandner den parlamentarischen Dauerrüpel gibt.
Doch wie Rot-Rot-Grün darauf reagiert, ist falsch. Wer meint, dass es ausreiche, die AfD pauschal in die Nazi-Ecke zu stellen, handelt intellektuell unredlich und politisch dumm. Man sollte wenigstens registrieren, dass die AfD schlau genug ist, Leute auszuschließen, die offen rassistisch argumentieren und zu versuchen, zwischen Asylrecht und Zuwanderung zu differenzieren.
Richtig, hierbei handelt es sich, genauso wie beim Angebot Höckes, seine Abgeordnetenwohnung an Flüchtlinge zu geben, insbesondere um Taktik. Aber wenigstens scheint die AfD so etwas zu besitzen.
Jeder Dritte liest auf dem Smartphone aktuelle Politik-Nachrichten
Immer mehr Deutsche nutzen das Internet auf dem Smartphone, genau sind es 31 Millionen (44 Prozent der Bevölkerung über 14). Um ein Viertel ist die Nutzung in nur einem Jahr gestiegen, wie die neue Internet-Studie, die Acta 2014, von Allensbach belegt. Das sind die Favoriten der Mobile-Nutzer:
1. Wetter (60 Prozent)
2. Soziale Netzwerke / Chatten (52)
3. Karten / Routenplaner (47)
4. You Tube / Videos schauen (42)
5. Wikipedia / Nachschlagewerke (40)
6. Veranstaltungen suchen (40)
7. Musik hören (38)
8. Aktuelle Politik-Nachrichten (32)
9. Sport (29)
Mittlerweile sind online auch zwei Drittel der Älteren über 60; in der Altersgruppe zwischen 50 und 60 sind es über achtzig Prozent. Seit Jahren sind fast alle der unter 29jährigen täglich online.
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Quelle: Acta 2014 (Allensbacher Computer- und Technikanalyse), wird seit 1997 jährlich erhoben.
Wenn Redakteure religiöse Gefühle verletzen: Absicht oder Ahnungslosigkeit? (Leser fragen)
Die Mohamed-Karikaturen brachten die muslimische Welt in Aufruhr und unsere westliche in Verwirrung: Wie kann in aufgeklärten Gesellschaften die Religion und das Spiel mit ihr die Gefühle noch so stark verletzen? Sind Muslime, die den dänischen Karikaturisten mit dem Tod bedrohen, einfach Jahrhunderte hinter der Aufklärung zurück – und somit unfähig, Ironie, Satire und Spott über Gott und seine Vertreter auf Erden zu verstehen und zu ertragen?
Doch auch Christen tun sich schwer mit dem leisen Spott, wenn er ihre Gefühle trifft – erst recht im weitgehend entchristlichten Osten, wo Kirchenferne und Kirchenfeinde, Agnostiker und Atheisten die überwältigende Mehrheit stellen. In Thüringen, einem Land mit gerade mal 150.000 Katholiken (bei 2,2 Millionen Einwohnern), ärgern sich Leser über die Berichterstattung der Thüringer Allgemeine zur Einführung des neuen Bischofs. Einer fragt: „Insgesamt ist Ihr Ton herablassend, abschätzig und teilweise beleidigend. War das vielleicht sogar Absicht oder ,nur‘ Ahnungslosigkeit?“
Im Zentrum der Kritik steht der Vergleich der Mitra, der Kopfbedeckung des Bischofs, mit einer Kochmütze. „Sie ergehen sich vorwiegend in Nebensächlichkeiten, machen sich Gedanken über das Treiben auf dem Domplatz, über Wurstprodukte aus dem Eichsfeld und natürlich über das Wetter, aber über das Eigentliche, über die hohe Bedeutung und den Sinn dieser Festlichkeit, wissen Sie nichts zu berichten. Sie nennen es ,Spektakel.“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Wir wollen keine religiösen Gefühle verletzen – das erklären wir ohne Umschweife. Sollten wir dies, gegen unsere Absicht, getan haben, bitten wir um Entschuldigung. Der Pressekodex, in dem Journalisten ihre Berufsehre erklären, bestimmt:
Die Presse verzichtet darauf, religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen zu schmähen.
Daran halten wir uns.
Was ist eine Schmähung? Da werden Gottlose anders urteilen als Menschen, die an Gott glauben – gleich ob sie ihn Christus, Jahwe oder Allah nennen. Zwei Beispiele:
- Die in Berlin erscheinende „Tageszeitung (taz)“ liebt die Satire auch in nachrichtlichen Texten und überschrieb nach der Papstwahl den Aufmacher: „Junta-Kumpel löst Hitlerjunge ab“. Der deutsche Papst war in der Tat ein Hitlerjunge gewesen, der neue Papst aus Südamerika wird von einigen verdächtigt, einen Pakt mit Diktatoren geschlossen zu haben. „Das sei nicht belegt“, urteilte der Presserat und rügte die Überschrift als Schmähung religiöser Gefühle.
- Ohne Rüge blieben allerdings die Formulierungen: „Alter Sack I. folgt Alter Sack II.“ und „esoterischer Klimbim“ für die katholischen Dogmen. Die fehlende Rüge rügte dafür das Zentralkomitee der Katholiken: „Gerade auch in einer säkularen und offenen Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt lebe, müsse man Respekt gegenüber den Religionsgemeinschaften pflegen.“
Ist also die Kochmütze eine Schmähung? Respektlos könnte sie sein, wenn man bedenkt: Auch demokratische Institutionen verordnen ihre hohen Repräsentanten ungewöhnliche Kopfbedeckungen – wie beispielsweise den Verfassungsrichtern in Karlsruhe.
Angemerkt sei abschließend: Die respektlosesten Witze über Gott und Würdenträger werden im Vatikan erzählt. Aber, eben mit Respekt sei eingeschränkt: Eine Nachricht ist kein Witz.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 29. November 2014
Twitter-Journalismus: Investigative Fragen an Bastian Schweinsteiger
Bei der Bambi-Preisverleihung langweilt sich Thorsten Schmitz von der Süddeutschen Zeitung, hört „übliche Phrasen“ und sieht „altbackene Choreografien“. Kurzum – das ist nicht seine Welt. So geht er in die Lobby zu den „jungen nervösen Klatschreporterinnen, die ihre Redaktionen mit Twitter-Nachrichten füttern müssen“. Vielleicht will er die schöne neue Welt des Journalismus ahnen, die Zeit nach der Süddeutschen, wenn Papier nicht mehr raschelt und der Leser mit 140 Zeichen zu befriedigen sein wird.
Zwei Worte reichen schon, um die „heimelige Bambi-Welt“ zu zerstören: „Fuck Isis“ steht auf dem T-Shirt eines jungen Sängers. „Zu krass“ findet das eine der jungen nervösen Klatschreporterinnen und twittert es – nicht. Dann kommt der journalistische Höhepunkt, den Thorsten Schmitz sekundengenau schildert:
Als Bastian vor ihr (der jungen nervösen Klatschreporterin) steht, fragt sie investigativ: „Wie geht’s Ihnen?“ Scheinsteiger sagt: „Super!“ Sekunden später ist das Zitat im Umlauf.
Aber richtig zufrieden ist sie auch nicht damit.
„Hast Du schon einen Knaller?“ fragt sie eine Kollegin.
„Nö“, sagt die. „Du?“
Bei so viel Phrasen möchte sich Thorsten Schmitz befreien, er zitiert Arthur Schnitzler, den Senta Berger zitiert: „Wir alle spielen. Wer es weiß, ist klug“; er zitiert Helmut Dietl und nennt es einen „Moment der Authentizität“: „Wüsste ich, wie Glücklichsein geht, wäre ich es damals gewesen“.
Schmitz nennt diesen Satz „Sperrgut im Weichspülermeer vor Bambiland“. Wer viele Phrasen hören muss, versinkt halt auch mal im Sprachbilder-Schlick.
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Quelle: Süddeutsche Zeitung 15. November 2014 „Hast Du schon einen Knaller“
Erdbeeren! Diffamierung! Rufmord! Was ist eine gute Recherche?
Was ist das für eine Zeitung? Was ist die Autorin für eine Journalistin, dass sie nicht mitbekommt, dass sich die Zeitung auf das Niveau einer offensichtlichen Fehde herablässt. Hier soll gezielt durch eine Person und aus privaten Gründen ein Betrieb diskreditiert und Rufmord über die Medien versendet werden… Wir machen schnell erst einmal eine Diffamierung – das kommt beim Leser gut an – um dann zu schreiben: Das war aber eine Luftnummer!
So empört sich eine Leserin der Thüringer Allgemeine über eine Berichterstattung über einen Erdbeerhof: „Abgekippte Erdbeeren und eine Anzeige gegen Unbekannt“. Weiter schreibt die Leserin:
Wenn Ihre redaktionelle Mitarbeiterin einen guten und damit auch wertneutralen Journalismus betreiben würde, hätte sie längst mitbekommen, dass sie zum Spielball einer Person instrumentalisiert wurde… Zur Auflagensteigerung rate ich Ihnen zu 2 x wöchentlich barbusigen Damen auf der vorletzten Seite, das macht die ,große Schwester‘ auch.
Der Chefredakteur antwortet der Leserin in seiner Samstag-Kolumne auf der Leser-Seite:
Es gibt Regeln für einen guten Journalismus oder, um in Ihren Worten zu bleiben, für eine wertneutrale Recherche:
1. Frage alle, die zum Thema etwas Wesentliches zu sagen haben!
Unsere Redakteurin fragte:
> Einen zweiten Ostbau-Betrieb: Wie gehen Sie mit Früchten um, die Sie nicht verkaufen können?
> Das Landratsamt, bei dem die Anzeige eingegangen ist.
> Den Landesverband Gartenbau.2. Frage vor allem den, der angegriffen wird!
Schon in der Unterzeile der Überschrift steht: „Geschäftsführung vermutet Kampagne gegen das Familienunternehmen.“ Gleich in den ersten Absätzen kommt der Geschäftsführer ausführlich zu Wort.3. Bleibe sachlich, vermische nicht Nachricht und Kommentar!
Im gesamten, etwa 120 Zeilen langen Artikel finden Sie nicht eine kommentierende Zeile, keine wertenden Adjektive. Die Redakteurin überlässt dem Leser das Urteil.4. Mach Dir selber ein Bild!
Unsere Redakteurin reagierte auf den Vorwurf eines Lesers, die Arbeiter verrichteten ihre Notdurft im Freien: Sie sah zwei Toilettenhäuschen direkt und in ausreichender Entfernung zum Feld.Die Recherche hält sich also vorbildlich an die Regeln: Es kommt jeder zu Wort!
Eine andere Frage ist: War die Kompostierung der Erdbeeren überhaupt ein Thema für die Zeitung? Darüber lässt sich stets streiten. Doch wenn mehr als ein Dutzend Anrufe und Mails zu einem Thema in der Redaktion eingeht, dürfen wir von einem allgemeinen Interesse ausgehen.
Ein Artikel ist dann auch im Interesse des Geschäftsführers, über dessen Arbeit Gerüchte wabern: Er kann für Klarstellung sorgen!
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Thüringer Allgemeine 5. Juli 2014
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