Der Mauerfall und die DDR-Journalisten: Aus kollektiven Agitatoren und Propagandisten werden 1989 Redakteure
„In der DDR gab es keinen echten Journalismus“, schreibt Hanno Müller, der 1989 Redakteur von Das Volk war, der SED-Bezirkszeitung in Erfurt, und der heute Reporter ist der Thüringer Allgemeine. Er blickte in der TA zurück: Was geschah in den Redaktionen in der Revolutions-Zeit und in den Jahrzehnten danach:
Spätestens ab dem Sommer des Jahres 1989 ist die DDR in Aufruhr. Die Welle der Republik-Flüchtlinge nimmt dramatische Ausmaße an. Ungarn öffnet seine Grenzen. Die westlichen Botschaften des Ostblocks füllen sich mit Ausreisewilligen. Viele kommen mit Kind und Kegel.
Die Parteizeitungen aber machen weiter wie bisher. Kaum eine Ausgabe ohne den Abdruck langer Reden über die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion oder über die DDR als Garant des Weltfriedens. Nach dem Republikgeburtstag brüstet sich der Partei- und Staatschef über zwei Seiten mit den Vorzügen des Sozialismus.
Anfangs verschweigen die DDR-Medien die Fluchtwelle komplett. Dafür hat das Thema in den West-Medien Konjunktur. Als es gar nicht mehr anders geht, wird der Massenexodus gegeißelt als „stabsmäßig organisierte Provokation“ der BRD, die sich eine völkerrechtswidrige Obhutspflicht anmaße.
Überschriften noch im September 1989 lauten „Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern“ oder „Der große Coup der BRD“. Die Flüchtlinge werden verunglimpft. Zur Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September heißt es, die Menschen hätten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt, man sollte ihnen keine Träne nachweinen.
Die Propaganda-Texte werden in der Berliner ADN-Zentrale – dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – oder in den Propaganda-Abteilungen des Politbüros formuliert. Verweigern können die Redakteure vor Ort den Abdruck nicht.
Journalisten sind Teil des Systems
Allerdings muss im Sommer 1989 in den Redaktionen noch niemand gezwungen werden, die Verlautbarungen aus Berlin zu verbreiten. In der DDR gibt es 1989 zwei Fernsehprogramme, fünf Radiostationen und die zentral gelenkte Nachrichtenagentur ADN. Dazu eine überregionale und 15 regionale SED-Zeitungen sowie 18 Zeitungen der sogenannten Blockparteien.
Unabhängige Medien – Fehlanzeige. Journalisten sind Teil des Systems. Entweder sind die Zeitungen „Organ“ einer Partei oder sie gehören parteinahen Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder dem FDGB. Kontrolle und zentrale Steuerung werden hingenommen.
Wie die Hierarchien der SED sind auch deren Tageszeitungen regional durchgegliedert. Jeder Bezirk hat sein Partei-Organ. In Erfurt ist es „Das Volk“ mit 15 Kreisredaktionen. Das Politbüro sitzt quasi mit am Schreibtisch. Der jeweilige Kreisredakteur erhält Richtlinien aus der Kreisleitung, üblicherweise ist er dort auch selbst Mitglied. Für den Chefredakteur ist die Bezirksleitung zuständig.
Wer in der DDR Journalist wird, weiß, was ihn erwartet – die Parteimitgliedschaft eingeschlossen. Bei SED-Zeitungen gibt es für Journalisten keine Freiräume, allenfalls Spielräume. Trotzdem ist der Beruf begehrt. Hunderte bewerben sich jährlich für den Studiengang in Leipzig. Etwa 100 werden nach einem strengen Auswahlverfahren genommen. Die Motivationen sind unterschiedlich – als künftige Parteisoldaten sehen sich die wenigsten.
Sowieso rekrutiert sich der Berufsstand aus dem Teil der Bevölkerung, der das System DDR letztlich nicht infrage stellt. Wer den Sozialismus grundsätzlich ablehnt, bewirbt sich nicht in einer Redaktion – und würde auch kaum genommen.
Es ist die Mischung aus Überzeugung und Anpassung, die das Leben in der DDR möglich und durchaus erträglich macht. Man darf meckern – wenn man weiß, wann man den Mund halten muss. Journalisten verstehen sich besonders gut darauf, die eigene Meinung und das, was sie aufs Papier bringen, voneinander zu trennen. Man kann über alles reden, diskutieren, streiten, selbst in der Redaktion. Lästerhafte, zynische Reden sind Teil des kritischen Selbstverständnisses – nur schreiben darf und wird man es nicht. Gewöhnlich müssen DDR-Journalisten dazu nicht ermahnt werden – sie zensieren sich freiwillig.
Ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam
Dabei ist gerade in den Redaktionen die Verachtung für die dummen und dogmatischen Bonzen da oben groß. Man kennt sie, hört sie bei Veranstaltungen Parteichinesisch reden, weiß um ihre Doppelmoral, ihre Saufgelage oder ihr Luxusgehabe – mit ihnen anlegen wird man sich dennoch besser nicht.Oft beruhen die Antipathien auf Gegenseitigkeit. Weil die Funktionäre ihrerseits den „Sesselfurzern an den Schreibmaschinen“, wie sie sie in ihrem rotzigen Funktionärsjargon auch gern mal öffentlich nennen, nicht trauen, pflegen Redaktionen und Parteiführungen ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam.
Auf die Frage, warum kluge Köpfe einen derart schizophrenen Zustand hinnehmen und aushalten, antworten viele Journalisten, trotz realer Unzulänglichkeiten glaube man an die Idee von der besseren Gesellschaft. Mit dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, den Absurditäten und Albernheiten im Alltag geht jeder in der DDR auf individuelle Weise um.
Gleichaltrigen Freunden ist vor 1989 oft schwer zu erklären, warum man macht, was man macht und schreibt, was man schreibt. Zeitungen in der DDR sind nicht besonders sexy, gelten als langweilig und bieder. Oft sind sie auch denen peinlich, die sie machen. Wer sich anfangs noch dagegen auflehnt, resigniert schnell.
Der Beruf hat eben auch schöne Seiten. Man kommt raus, lernt Leute kennen, kann sich als Teil des gesellschaftlichen Prozesses fühlen – und schreiben. Dass bei den meisten Themen die rosarote Brille nicht fehlen darf – das kennt man so auch in anderen Bereichen der DDR.
Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen
Auch draußen in den Betrieben und auf den Feldern weiß man, was man von den Zeitungsleuten erwarten kann. Man redet offen – und mahnt zugleich: „Aber das schreibst du nicht!“. Meist bedarf es dieses Hinweises nicht. Vielfach sind die Gesprächspartner von den Parteileitungen ausgesucht. Das garantiert ein unausgesprochenes Einverständnis. Man weiß doch, wie die Dinge im Land laufen.
In wissenschaftlichen Arbeiten über den DDR-Journalismus ist später zu lesen, Leser und Zeitungsmacher befänden sich in einer Art „opportunistischen Tateinheit“: Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen.
Dabei gehörten Journalisten in der DDR zu denen, die mit am besten über den Zustand der Gesellschaft und die Machtverhältnisse im Bilde sein sollten. Sie sind täglich vor Ort, kennen interne Parteiberichte, wissen, wo der Schuh drückt. In den Zeitungen bzw. Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen aber überwiegt die heile Welt – es sei denn, die Partei selbst meint, man könne doch mal mit dosierter Selbstkritik den Siegeszug des Sozialismus voranbringen.
Die vornehmste Aufgabe der Parteischreiber ist die Überzeugung – bei den Empfängern verfängt sie kaum. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht nach der Wende vom Zusammenhang zwischen verordneter Fehlinformation und individuellen Abwehrmechanismen. Trotzdem ist es zu DDR-Zeiten schwer – auch wegen des Papiermangels -, ein Zeitungsabonnement zu bekommen.
Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit
Als die SED-Führung Mitte der 80er die Gorbatschow-Worte Glasnost und Perestroika einschließlich ihrer deutschen Übersetzung auf den Index setzt, wird zwar zähneknirschend debattiert – trotzdem halten sich die Redaktionen an das Verbot.Die Zensur des Sputnik 1988 oder die Verfügung, das üblicherweise groß gefeierte Festival des sowjetischen Filmes diesmal kleinzuhalten – die DDR-Zeitungen stehen bei Fuß.
Als die Weisung ausgegeben wird, dass Ausreiseantragsteller nicht auf den Zeitungsseiten vorkommen dürfen, gleichen die Redaktionen Namen ihrer Gesprächspartner mit den Dienststellen ab. Und sie vermeiden es, anonyme Menschenansammlungen von vorn zu fotografieren oder abzubilden.
Es gibt Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure. Eine Abteilung widmet sich dem Parteileben. Journalisten sind keine homogene Masse. Jüngere denken anders als Kollegen der ersten Stunde. Unter den Redakteuren sind Feingeister, aber auch viele Betonköpfe. Manche schreiben mit dem ideologischen Holzhammer, andere mit feinerer Feder.
Beim Nachweis der eingeforderten „Parteilichkeit“ gibt es je nach Art des Mediums und des Themas durchaus Abstufungen. Sportseite, Lokales oder die Kultur bieten noch am ehesten Realitätsnähe. Auch in der Wochenendbeilage sind Begegnungen mit Funktionären selten. Wirklich abtauchen kann keiner.
Am Ende ist auch der Kommentar über die Lage in Ecuador oder der Beitrag über den Frühjahrsputz Teil der Propaganda. Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit ist nicht zu übersehen.
Es gibt keinen echten Journalismus in der Vorwende-DDR. Die sich dort Journalisten nennen, sind Parteiarbeiter und „Weiterleiter“ – „kollektive Propagandisten, Agitatoren und Organisatoren“, wie es bei Lenin heißt. Die in den Redaktionen dabeibleiben, wissen und erdulden es. Nach der Wende schämen sich nicht wenige dafür. „Aufs Ganze gesehen, war der DDR-Journalismus ein von Opportunismus, Frustration und Dummheit heimgesuchtes Geschäft“, schreibt der Spiegel 1995. Auch wenn es weh tut – man muss es wohl so sehen.
Redakteure entdecken im Wendeherbst die Wahrheit
Es sind eben diese DDR-Journalisten, die in den Wirren des Umbruchs zu echten Lebenshelfern und Begleitern des Systemwandels werden. Oftmals die gleichen Redakteure, die noch gestern Beiträge über die Feinde des DDR-Sozialismus redigieren, schreiben nun über Missstände, Amtsmissbrauch oder langjährige Tabus.
Man kann DDR-Journalisten als Wendehälse bezeichnen, muss aber auch einräumen, dass sie schnell wissen – und wohl immer wussten, wie es richtig geht. Der nahtlose Übergang funktioniert auch, weil die Menschen in den Redaktionen selbst Beteiligte am Veränderungsprozess sind. Wie die Bürger bei Foren und Demonstrationen ihren Mut entdecken und ihre Meinung offen sagen, begeistern sich nun auch Journalisten an der unzensierten Wahrheit.
Zugute kommt den Redaktionen dabei, dass sie – im Gegensatz zu anderen Gliedern des alten Herrschafts- und Propaganda-Apparates – noch gebraucht werden. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden zu Multiplikatoren der neuen Sprachmächtigkeit. Sie verbreiten die Ergebnisse der Diskussionsrunden und Runden Tische. Sie veröffentlichen Programme und Forderungskataloge der neuen Parteien und Gruppierungen und liefern immer neue Details aus den einstigen Hinterzimmern der Macht.
Der Zorn der Leser auf die Redakteure hält sich in Grenzen. Bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen skandieren Demonstranten vor dem Volk-Hochhaus „Schreibt die Wahrheit“. In die Redaktionsstuben kommen nur wenige – sie bleiben friedlich und freundlich.
Die Medien werden zur Plattform für das neue Mitteilungsbedürfnis. Leserbriefe, bis dahin streng auf Systemkonformität geprüft oder gleich ganz in den Redaktionen verfasst, füllen nun ganze Seiten. Die Nähe zu ihren Lesern sowie zu den Themen und Gerüchten, die diese schon zu Zeiten vor der Wende bewegten, die Kenntnis der Situation in den Betrieben und Gemeinden, all das verschafft den Ostredakteuren auch einen Vorteil gegenüber neuen Westblättern, die sich zu etablieren versuchen.
Viele DDR-Journalisten tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit
Vieles dreht sich um die Aufarbeitung bisheriger Tabus – um sowjetische Internierungslager, Grenztote und Zwangsausgesiedelte, um verborgene Waffenlager oder die Jagdgelüste der gestürzten Bonzen. Befreit zu recherchieren, macht Spaß. Die Wertschätzung der Leser auch.
Zudem entdecken die Ostzeitungen ihre neue Service- und Ratgeberfunktion. In der Noch-SED-Zeitung Das Volk erscheint das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Nach der Maueröffnung erfährt man aus der Zeitung, wie man in den Westen kommt, wo es Westgeld gibt und welche Grenzübergänge wann neu geöffnet werden.
Ende ’89 müssen viele Neuerungen noch gegen die Parteileitungen und teils gegen die eigenen Chefredaktionen ertrotzt werden. Noch hängen die Blätter am Tropf der Berliner Zentrale, von der Geld und Papier kommen. In den sogenannten „Herbstmonaten der Anarchie“ aber scheint inzwischen nichts mehr unmöglich zu sein. Anfang Dezember tilgt die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit sind auch die Tage der Gängelung der Redaktionen gezählt.
Nach der Wende tun sich viele DDR-Journalisten schwer mit ihrer Vergangenheit. „Ja, aber“ ist oft zu hören. Ja, man war systemnah, aber man habe doch auch unter der Zensur gelitten und vieles „zwischen den Zeilen“ transportiert. Auch auf die Parteischule hat es manchen nur verschlagen, weil es nicht anders ging.
Wo die Selbsterkenntnis doch stattfindet, ist sie schmerzlich. So wie bei Alexander Osang, der nach der Wende schreibt: „Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Ereignisse nicht überschlagen hätten, macht mich ganz krank.“
Thüringer Allgemeine, 3. November 2014
Hanno Müller ist Reporter der Thüringer Allgemeine: Er war – zusammen mit Dietmar Grosser – federführend bei der großen Serie „Treuhand in Thüringen – Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde“, die mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2013 ausgezeichnet wurde. Die Serie ist auch als Buch in der Thüringen Bibliothek des Essener Klartext-Verlags erschienen (Band 9, 13.95 Euro)
Pressefreiheit in Deutschland: Feuilletonisten und Sportler klagen
Chefredakteure und Ressortleiter sind sich einig: Die Pressefreiheit in Deutschland ist gut oder sogar sehr gut verwirklicht, aber knapp die Hälfte beklagt, dass Behinderungen in den letzten Jahren zugenommen haben.
Die Allensbacher Demoskopen fragten im Frühjahr 2014 über vierhundert Chefs in 230 Zeitungen. Knapp zwei Drittel haben auch schon Behinderungen von Recherchen erlebt. Politikern, Unternehmer und PR-Managern drohen, Anzeigen zu entziehen, oder umarmen die Redakteure, um eine wohlwollende Berichte zu bekommen.
Überraschend ist, auf welche Ressorts am meisten Druck ausgeübt wird: Kultur und Sport. Fotografen müssen mit großen Einschränkungen fertig werden und die Reporter mit massiven Veränderungen bei der Autorisierung von Interviews.
Zwei Drittel der Lokalredakteure klagen über Politiker, die häufig Einfluss nehmen wollen, oder über Kaufleute und Unternehmer, die Berichte steuern wollen.
Warum zeigen wir nicht die grauenhaften Fotos der IS-Folterungen? Ein Tabubruch, ja. Aber – auch ein Weckruf?
Der Mörder setzt das Messer an die Kehle, das Gesicht ist mit Blut überströmt, ein Gesicht von Angst zerrissen – der Fotograf wie der Mörder delektieren sich daran, einen Mensch sterben zu sehen, als wäre er ein Tier. Ich kann mir das Bild nur kurz ansehen, es ist Ekel, purer Ekel, dem man sich nicht ergeben kann. Mehr Bilder will ich nicht sehen.
Es sind Bilder, die Terroristen des IS, des „Islamischen Staat“, ins Netz gestellt haben, wo sie relativ leicht zu finden sind. Keine deutsche Zeitung, kein deutsches Magazin, keine wichtige deutsche Online-Nachrichtenseite zeigen die Bilder. Ein Freund, der in der politischen Bildung arbeitet, schickt mir eine Zeitung, die das Bild online zeigt, und fragt mich:
Warum zeigen Medien in Deutschland nicht diese grausame Realität eines aus den Fugen geratenen Islam(extremismus)? Das Bild – aufgenommen vor wenigen Tagen – zeigt das tägliche Grauen, das sich derzeit vor der Haustür Europas abspielt. Es wurde der polnischen Seite Polska24 entnommen, auf der einige (grauenvolle) Bilder des aktuell vor sich gehenden Genozids an irakischen Christen durch sunnitische ISIS-Gotteskrieger zu sehen sind. Unsere Medien veröffentlichen solche Bilder nicht. Warum nicht? Wir wurden doch früher auch nicht von grauenhaften Fotos, z. B. aus dem Vietnamkrieg, verschont…
In unserem Mailwechsel sagt er schließlich, nachdem er für die Veröffentlichung der Bilder plädiert hatte:
Die Wirkung von solchen Bildern verändert uns…
Von Dir lernte ich, des Journalisten Pflicht sei es, in Wort, Bild und Schrift zu berichten, was ist, streng getrennt vom Kommentar. Das habe ich mir zu eigen gemacht.
Meine schlichte Frage lautet:
Warum wird das, was ist, also die Wirklichkeit, wie diese entsetzlich grausamen Fotos sie beschreiben, bei uns nicht veröffentlicht? Was erzählen uns diese Bilder? Die Leichenberge aus deutschen KZ gingen doch auch um in Deutschland, haben viele wach gerüttelt, die es nicht wahr haben wollten – und das war auch gut so.Eine farbige Doppelseite wäre mal ein Tabubruch im Sinne eines Weckrufes, finde ich. Der Blätterwald würde rauschen. Wegsehen hat doch noch nie ein Problem gelöst.
Stattdessen fragt man bei uns: Darf man solche Bilder veröffentlichen? Und so kommt man zu dem in allen Medien einheitlichen Ergebnis: Zeigen wir nicht. Cui bono?
Das verstehe ich nicht.
Was sagt unsere Ethik, der Pressekodex?
1. „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ – Also: Verletzten wir nicht die Würde des Opfers, wenn wir ein Terror-Mordopfer öffentlich machen?
2. „Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.“ – Da ist die Hintertür: Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, der Weckruf. Aber reicht dies Interesse, Menschen zu erniedrigen, Opfer sterbend zu zeigen?
3. „Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid.“
Ich füge an:
4. Journalisten dürfen sich nicht vor den Propaganda-Karren spannen lassen, erst recht nicht von Terroristen.
Fassen wir noch einmal die Fragen des Freundes zusammen, die mit dem Pressekodex nicht abschließend beantwortet sind:
> Wäre die Veröffentlichung der Fotos des Grauens, also der bestialischen Ermordung von Menschen, nicht ein Weckruf, eine Mobilisierung des öffentlichen Gewissens?
> Warum zeigten wir Bilder von Opfern des Vietnams-Kriegs (etwa: Der Mann, der vom Polizeichef Saigons erschossen wurde; die nackte neunjährige Kim Phuc, die vor dem Napalm flieht), aber nicht die des IS-Terrors?
> Warum zeigen wir Holocaust-Opfer sogar öffentlich in Museen, etwa in Yad Vashem, Jerusalem?
Der „Spiegel“ zitiert Kohl aus nicht-autorisierten Gesprächen: Unmoralisch? Verstoß gegen Pressekodex?
„Schwan begeht einen Vertrauensbruch, das ist keine Frage“, schreibt Rene Pfister in der Spiegel-Geschichte über das Schwan-Buch nach Gesprächen mit Helmut Kohl, aufgezeichnet und auf Tonband aufgenommen vor 12 Jahren. Dürfen Journalisten Vertrauen brechen? Verstossen sie so nicht gegen jede Moral?
Die folgende Passage zur Recherche hat im „Handbuch des Journalismus“ reichlich Irritation und Widerspruch ausgelöst:
Manchmal spielen eher unmoralische Motive die Hauptrolle, damit der Moral zum Siege verholfen wird. Hätte nicht der Spiegel einem Informanten eine horrende Summe bezahlt, so wüssten wir immer noch nicht, auf welche Weise sich die Chefs der „Neuen Heimat“ bereichert haben.
Also – Recherchen sind weder moralisch noch unmoralisch, entscheidend ist allein, was am Ende herauskommt: Eine Wahrheit, die die Bürger unbedingt wissen müssen. Oder nicht.
Ähnlich schwankend ist die Argumentation des „Pressekodex“. Erst lesen wir „Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren.“ Meist wenn der Kodex „grundsätzlich“ schreibt, meint er das Gegenteil: es gibt reichlich Ausnahmen, zum Beispiel:
Vertraulichkeit muss nicht gewahrt werden, wenn bei sorgfältiger Güter- und Interessenabwägung gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen… Über als geheim bezeichnete Vorgänge und Vorhaben darf berichtet werden, wenn nach sorgfältiger Abwägung festgestellt wird, dass das Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit höher rangiert als die für die Geheimhaltung angeführten Gründe.
Da stehen alle Türen weit offen, um einmal zugesichertes Vertrauen brechen zu dürfen. Rene Pfister nennt mehrere Gründe für Schwans Vertrauensbruch:
1. Kohl hat die Gespräche geführt, damit sie veröffentlicht werden. Streit ist nicht, ob sie veröffentlicht werden, sondern wann. Pfister vermutet, Kohl – oder seine neue Frau – wolle bestimmen, „welchen Platz er einmal in den Geschichtsbüchern einnehmen würde“.
2. Kohls Erinnerungen sind ein „historischer Schatz“ der jungen deutschen Geschichte, ein „historisches Vermächtnis“, wie das Landgericht Köln vor einem Jahr feststellte. Für Historiker sind sie eine einzigartige Quelle. So etwas nennt man ein hohes Informationsbedürfnis der Öffentlichkeit.
3. Wir Zeitgenossen erfahren Neues über die Geschichte und die Mächtigen im Land – erzählt von einem, der fast zwei Jahrzehnte der Mächtigste war.
4. Wir erfahren Neues über die Deutsche Einheit, dem wichtigsten Ereignis der Nachkriegszeit.
5. Die Interviews mit Schwan sind offenbar die einzigen, in denen sich Kohl relativ unverstellt einem Journalisten offenbart hat.
6. Kohl selber hielt wenig von Vertraulichkeit: In seinen Memoiren veröffentlichte er mehrere vertrauliche Briefe Weizsäckers.
7. Kohl ist so krank, dass er keine ausführlichen Interviews mehr geben kann.
Erinnern wir uns auch noch: Während jeder Deutsche, jeder weniger berühmte, ertragen musste, dass aus seinen Stasi-Akten zitiert wurde, schaffte es Helmut Kohl, dass seine Stasi-Akte gesperrt blieb. Der Kanzler wollte sein Bild für die Geschichte selber zeichnen. Das kann kein Journalist dulden, wenn er gründlich recherchiert.
Haben Schwan und der Spiegel also Kohl hintergangen? Ja, aber die Wahrheit und das Informationsbedürfnis der Bürger haben einen höheren Rang, einen Verfassungsrang. Die deutsche Geschichte, wie sie wirklich war und wie sie die sehen, die vom Volk gewählt sind,diese deutsche Geschichte gehört dem Volk und nicht dem höchsten Volksvertreter, dem Kanzler a.D. Helmut Kohl.
Sicher hat Moral einen festen Platz im Journalismus. Den höchsten Grad der Moral nenne ich die Verfassungs-Moral. Sie ist unser erstes Gebot.
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Beitrag für Bülend Ürük, Chefredakteur von Newsroom.de, der diese Fragen zum Spiegel-Aufmacher stellte; alle Antworten unter newsroom.de:
- Darf man als Journalist Recherchen verwenden, auch wenn ein Gesprächspartner, dem man dies auch vorher zugesichert hat, dies ablehnt, dies nicht möchte?
- Wie würden Sie reagieren in einem Fall wie jetzt bei Herrn Schwan und Herrn Kohl? Würden Sie trotzdem auf Gespräche zurückgreifen und daraus ein Buch machen?
- Gebe es Skrupel, wenn es nicht die Person Helmut Kohl wäre, über die Herr Schwan schreibt? Was wäre, wenn es ein weniger berühmter Mensch der Zeitgeschichte wäre?
- „Hintergeht“ man seinen Gesprächspartner nicht, wenn man trotz seines Vetos auf diese Gespräche zurückgreift? Ist das ethisch sauber?
- Wie wirkt sich das auf den Journalismus aus, wenn wir Zusagen an Gesprächspartner nicht mehr halten? Können Gesprächspartner dann noch sicher sein, dass wir eine Info, die sie uns im Vertrauen oder unter Bedingungen gegeben haben, nicht doch später ganz nach unserem Sinn verwenden?
- Und wie ist das eigentlich, wenn man „nur“ über ein Buch berichtet, wie jetzt im aktuellen Fall der „Spiegel“ – hätten Sie moralische Bedenken, über ein Werk zu berichten, das so viel Streit zwischen den Beteiligten hervorgebracht hat?
- Hat so etwas wie „Moral“ überhaupt Platz im Journalismus oder ist es nicht viel wichtiger, aufzudecken, Themen zu setzen und andere Geschehnisse zu ignorieren?
NACHTRAG
Das Landgericht Köln hat Anfang Oktober einen Antrag Kohls, die Buchauslieferung zu stoppen, abgelehnt mit der Begründung: Es geht nicht um Urheber-, sondern um Persönlichnkeitsrechte. Nun muss das Oberlandesgericht entscheiden, bei dem Kohls Anwälte Beschwerde eingelegt haben.
Wie umgehen mit der Forderung eines Gesprächspartners: Den Artikel muss ich vorher komplett lesen?
Misstrauen begleitet die meisten Recherchen, Misstrauen von Leuten, die wir fragen – aber die nie wissen, was der Reporter aus dem Gespräch mitnimmt und in der Zeitung oder Zeitschrift druckt. Brand Eins gibt ein Heft über „Vertrauen“ heraus. Chefredakteurin Gabriele Fischer schreibt im Newsletter über eine besonders kribbelige Recherche von Andreas Molitor, der mit Vertrauensleuten sprach, jenen nicht zu beneidenden Menschen, die zwischen Gewerkschaft, Betriebsrat und Kollegen sitzen:
Er bekam das Misstrauen zu spüren, das in solch ungeklärten Situationen gedeiht. Am liebsten hätte der oberste Vertrauensmann vor einer Veröffentlichung den kompletten Text gelesen und auch gleich noch die Fotoauswahl bestimmt. Weil beides bei brand eins nicht möglich ist, wäre die Geschichte um ein Haar nicht erschienen.
Wie hat die Chefredakteurin den Beitrag gerettet? Sie knickte nicht ein, sondern machte klar, wie das Magazin mit Vertrauen umgeht:
Am Ende aber einigte man sich nach einer Sondersitzung des Vertrauensleute-Gremiums auf das bei brand eins einzig mögliche Verfahren: Wörtliche Zitate können auf Wunsch abgestimmt werden – mehr nicht („Zwischen den Stühlen“; Oktoberheft, Seite 80).
Native Werbung ist Betrug am Leser (Zitat der Woche)
Native will den Leser überlisten – Journalisten wollen überzeugen.
Lars Reckermann, Chefredakteur Schwäbische Post. in einem Tweet vom Verleger-Kongress in Berlin – als Reflex auf FAZ-Online-Chef und Ex-Spiegel-Chefredakteur Mathias Müller von Blumencorn, der gegen native Werbung argumentierte (also Werbung, die wie ein redaktioneller Beitrag aussieht): „Einzige Überlebenschance der Zeitung im Netz: Glaubwürdigkeit“.
Quelle BDZV Intern Ende September 2014
Fachausdruck: Native advertising
Volontariat der Zukunft (2): Welchen Schwerpunkt setzen?
Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab.
Das ist der zentrale Satz im schriftlichen Interview mit der Drehscheibe, die in einer ihrer nächsten Ausgaben über Volontärsprojekte berichten will. Dies ist das Interview über das Volontariat bei der Thüringer Allgemeine:
Worauf legt der Verlag Wert bei der Ausbildung?
Die Volontäre sollen die Fähigkeit lernen oder kräftigen, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen:
> Sie lernen zwar den Ablauf in Redaktionen kennen, aber schauen kritisch auf Routinen und Fallstricke;
> sie entwerfen Konzepte für einen noch besseren Journalismus, vor allem im Lokalen;
> sie konzipieren effektive Organisationen, vor allem im Zusammenspiel mit den Online-Medien;
> sie probieren Modelle für Beteiligungen von Lesern aus, die von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern werden;
> sie entwickeln neue Ideen und Produkte – sowohl Online wie in den traditionellen Medien -, um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu können.
So lernen sie Methoden und Umsetzung von Leserforschung kennen, Möglichkeiten und Grenzen des Marketings, optimale Strukturen sowie Selbstorganisation. Sie überschreiten die Grenzen des Zeitungs-Journalismus, arbeiten bei Zeitschriften und Nachrichtenagenturen und eigenständig in Projekten.
Auf der einen Seite lernen die Volontäre das Spektrum des Journalismus kennen wie in einem „Praktikum Universale“, auf der anderen Seite sollen die besonderen Begabungen und Fähigkeiten erkannt und gefördert werden. So können wir Nachwuchs für Führungs-Positionen entdecken oder Talente für Organisations-Aufgaben oder für tiefe Recherchen oder Online-Spezialisten oder Verliebte in Kultur, Wirtschaft oder die lokale Welt usw.
Nach dem Volontariat treffen sich die Redakteure zu Tages-Seminaren, um ihren Fortschritt zu kontrollieren, neue Ideen zu diskutieren und Schwierigkeiten anzusprechen und zu bewältigen.
Welche Schwerpunkte werden in der Ausbildung gesetzt?
Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab:
> Als Grundlage zuerst das Handwerk, das jeder beherrschen muss: Recherche, informierende und unterhaltende Information, Meinung.> Dem Handwerk folgt die Haltung: Die Ethik des Journalismus, der Dienst am Leser und die Leidenschaft für den schönsten Beruf in einer offenen Gesellschaft.
> Auf Handwerk und Haltung folgt die Lehre der Verständlichkeit, also der Wille so zu schreiben, dass die Menschen mit Lust und Gewinn lesen.
Die gesamte Ausbildung ist multimedial. Die neuen Möglichkeiten des Journalismus – etwa Daten-Journalismus, soziale Netzwerke, Timeline – sollen erlernt und ausprobiert werden. So endete die Ausbildung mit einer Recherche-Woche, in der die Volontäre eine Multi-Media-Reportage produzierten mit Notizblock, Kamera, Video und Diktiergerät – fürs Internet und eine Sonderausgabe der Wochenend-Beilage.
Ist eine Redaktion mitschuldig, wenn Bergsteiger bei einer Weltrekord-Jagd im Himalaja ums Leben kommen?
Zwei deutsche Bergsteiger wollen auf zwei Achttausendern im Himalaja einen neuen Weltrekord aufstellen, werden von einer Lawine verschüttet und wahrscheinlich getötet. Spiegel-Online berichtete exklusiv und ausführlich. Deshalb stellt die Redaktion, von Spiegel-Reporter Cordt Schnibben auf Twitter herausgestellt, grundlegende Fragen:
> Welche Verantwortung bringt eine so intensive Berichterstattung mit sich?
> Befeuern wir gar durch die Aufmerksamkeit einen Trend – höher, schneller, weiter, riskanter?
> Was treibt uns?
> Und haben wir die Idee mit vorangetrieben?
> Können wir noch nüchtern berichten? In Syrien oder bei der Ebola-Tragödie stellt die Redaktion die eigene Trauer zurück, analysiert und erklärt die Folgen. „Bei den vermissten Extrembergsteigern Sebastian Haag und Andrea Zambaldi fällt uns das schwer. Es fällt uns schwer, nur unserer Arbeit nachzugehen und nüchtern zu berichten.“
Die Redaktion gibt die möglichen Antworten:
> Einfach nicht mehr berichten? Doch die Grenze zur Ignoranz wäre fließend.
> Würden wir der journalistischen Verantwortung gerecht, indem wir Themen einfach ausblendeten? Extremsportler führen uns immer wieder vor Augen, wozu Menschen in der Lage sind.
> Hätten wir sie aufhalten können? Nein.
Was ist der Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Pressefreiheit?
Meinungsfreiheit ist das Recht eines jeden Bürgers, das er ausüben kann oder lassen.
Meinungsfreiheit liegt auch der Pressefreiheit zugrunde, sie ist aber auch eine Pflicht: Ein Journalist kann nicht selbst entscheiden, ob und wie er eine Nachricht bringt; er handelt im Auftrag der Verfassung, er ist Treuhänder des Bürgers, dem er alles, was für ihn wichtig ist, mitteilen muss.
Aus einem Leitartikel zur Thüringenwahl „Das Elend der Politik – und die AfD“ entstand auf Facebook eine kleine Debatte um die Pressefreiheit, die hier in Auszügen dokumentiert ist:
Mario Schattney
Das Elend der Politik wäre vielleicht auch das Elend einer mit der Politik symbiotisch verstrickten Medienklasse? Muss sich der Bürger in krisenhaften Zeiten wie diesen am Ende von beiden verschaukelt fühlen? Erstaunlich und bemerkenswert ist doch, wieviel politisch-mediale Häme und Geringschätzung in unserer vorgeblich demokratischen Kultur der AfD entgegen bläst …
Raue:
Sicher sind die Medien mit der Politik verbunden. Wir haben die Mächtigen zu kontrollieren und – wie das Verfassungsgericht bestimmte – Diskussionen in Gang zu halten, um als orientierende Kraft zu wirken. Die kritische Nähe von Medien und Politik ist also ein Verfassungsauftrag: Die Presse als Verbindung zwischen Volk und Politik. Die Frage heute ist: Reicht das? Müssen wir nicht selber aktiv werden, Konzepte entwickeln? Dann bewegen wir uns aber in vermintes Gebiet und könnten selber zum Akteur von Politik werden. Dürfen wir das? Müssen wir das tun?
Wolfgang Kretschmer:
Selbstverständlich ist die verfassungsmäßig aus guten Gründen unklar definierte Schnittmenge von Politik und Medien ein „vermintes Gebiet“. Diesen Begriff hätte ich derzeit allerdings nicht gewählt.
Medien und Politik, Medien und Wirtschaft, diese Verhältnisse sind Hochspannungssektoren in der Meinungsbildung demokratischer Gesellschaften, die auch wegen allerlei irrlichtender Gestalten unter „Strom“ Stehenden einiges ethisch aushalten müssen, weil sie jeweils teils einig in der Meinung teils kontrovers sind, aber auch von einander lernen, jedenfalls im besten Falle.
Journalistenjob ist es nun, abgesehen von Meinungsumfragen, herauszufinden, wo sind die Abstimmungshochburgen der AfD und dort vor Ort herumzuforschen. Je nach gutem Journalismus wird dies dann für „Volk und Politik“ aufschlussreich sein. Kurz und gut, wir sind irgendwie immer „Mitakteure“, im Sinne der aus der Ethnologie und aus anderen Disziplinen bekannt problematischen wissenschaftlichen Figur der „teilnehmenden Beobachtung“. Und wenn wir unsere Meinung sagen wollen, tun wir dies in einem fundiert furiosen Kommentar, der das Blatt fürs Publikum interessant macht. Pressefreiheit ist Meinungsfreiheit.
Raue:
Einverstanden, aber Pressefreiheit ist mehr als Meinungsfreiheit, ist Verantwortung für die Demokratie und die Gesellschaft, ist Verantwortung für die Freiheit.
Wolfgang Kretschmer
Pressefreiheit ist in einer Demokratie Meinungsfreiheit (Kommentieren, das begann mal mit Flugbättern), das Recht, möglichst ungehindert investigativ zu recherchieren, Aktenzugang zu haben, im Gespräch mit Menschen die Hintergründe von bedeutenden Ereignissen zu eruieren oder durch journalistische Arbeit zunächst Unbedeutendes als wichtig ins öffentliche Bewusstsein zu transportieren. Insofern nehmen wir Verantwortung für Demokratie, Gesellschaft und Freiheit wahr, sind daher auch politische Akteure und Beförderer demokratischer Prozesse.
Um mal im Bild zu bleiben: Andere haben ein Interesse daran, ihr Terrain zu verminen, wiederum andere aus unserer Branche legen Minen. Das geneigte Lesepublikum macht sich ja auch selber so seine Gedanken, ob per Paper oder zunehmend online. Die sind auch mitunter schlauer als unsereins. Wir sind doch gar nicht weit auseinander. Oder?
Harald Klipp
Die Verantwortung für die Grundwerte darf aber nicht dazu führen, dass wir selbst mitmischen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass ein Journalist mit Parteibuch seiner Rolle als Journalist nicht mehr gerecht werden kann. Das Beispiel Susanne Gaschke zeigt, dass es ein Riesenunterschied ist, ob man als Journalist beobachtet, bewertet und kommentiert oder selbst zum politischen Akteur wird. Wenn es beim HSV in der Fußball-Bundesliga nicht läuft, biete ich mich ja auch nicht als Trainer oder Torwart an. Und das ist gut so.
Paul-Josef Raue
Zu Wolfgang Kretschmer: Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind zwar in einem Artikel des Grundgesetzes erwähnt, aber unterscheiden sich: Jeder, der eine Meinung hat, darf sie äußern – es ist ein Recht, das nur an den Rändern eingeschränkt ist (z.B. Beleidigung, üble Nachrede, Leugnung des Holocaust); die Meinungsfreiheit ist keine Pflicht: Wer seine Meinung nicht äußern will, kann nicht dazu gezwungen werden.
Die Pressefreiheit wird von Journalisten wahrgenommen; ihnen gilt der Schutz vor Eingriffen des Staates wie Zensur, Beugehaft o.ä. Die Pressefreiheit ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Wir handeln im Auftrag der Bürger – das ist eben der Verfassungsauftrag – und wir besorgen den Bürgern alle wichtigen Informationen, wahrheitsgemäß und unverzüglich. Das müssen wir tun.
Auch beschränken wir freiwillig, dem Verfassungsauftrag folgend, unsere Meinungsfreiheit: Der Pressekodex ist über weite Strecken eine solche Einschränkung. Jeder darf sagen: Metzger Schweinebrust hat die besten Schnitzel und nirgends gibt es bessere; wir dürfen es nicht schreiben usw.
Wolfgang Kretschmer
Meinungs- und Pressefreiheit sind im Grundgesetz nicht erwähnt, sondern hammerhart festgeschrieben.Grauzonen gibt es im alltäglichen Schreibgeschäft. Ich sehe gar nicht, wo wir auseinander sind! Unsere Texte zum Thema dienen eher einer notwendigen reflektierenden Selbstvergewisserung. Unser langsam dahinschwindener Beruf genießt ja nicht den allerbesten Ruf. Und as ist auch gut so.
Ich bleibe dabei: Wir sollten zu den AfD-Hochburgen gehen und nachschauen, was die Menschen bewegt und in ihren Köpfen haben. Darüber kann man ganz sanft und viele Aspekte betrachtend und beobachtend schreiben. Selbst dann, wenn man was von Habermas und Luhmann gelesen hat. Wir müssen als Redakteure und Journalisten manches auch verständlich machen und überraschende Varianten und Widersprüche aufdecken. Das gibt interessanten Lesestoff und ändert vielleicht gängige Meinungen. Womöglich könnte unsereins auch mal darüber nachdenken, dass wir in unserem Job auch in sich ebenso seelisch wie seelig hin- und hergerissene Figuren sind (Kir Royal, Heidemann etc etc.)..
Schnitzel: Meine Recherchen etwa zur Südtiroler Speckproduktion oder meine Meinung zum geplanten Seilbahnprojekt in Brixen bringe ich jeweils anderswo unter (Textsorten). Und immer ist selbst dabei klar ersichtlich, dass ich ein spezielles forschendes Erkentnisinteresse habe. Und wenn Metzger Schweinebrust bei seiner Werbung für die besten Schnitzel pfuscht,, dann haue ich den selbst als Kunden einer Tageszeitung in die Pfanne. Dies wird dann im Verlag durchgestanden
Ice-Bucket-Challenge: Darf sich ein Redakteur von einem Politiker im Wahlkampf einladen lassen?
Wahlkampf in Thüringen. 16.000 Zuschauer im Erfurter Stadion warten auf den Anpfiff des Ost-Derbys gegen Dresden in der Dritten Liga. Am Rande des Rasens steht Bodo Ramelow, Spitzenkandidat der Linken, mit einem roten „Linken“-T-Shirt; rechts und links von ihm stehen auf zwei Hockern Rot-Weiß-Balljungen mit Eiskübel. Ein künftiger Ministerpräsident, möglicherweise, schüttet sich nicht selber Eiswasser über den Kopf.
Wir sind bei der Eiswasser-Wette, dem Ice Buckett Challenge, in den USA erfunden, um Geld für die kaum erforschte Nervenkrankheit ALS zu besorgen. Wer nicht Eiswasser über seinen Kopf kippt, zahlt hundert Dollar; Bill Gates hat sich beteiligt, Mark Zuckerberg und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann (der einen „gewissen Christian Wulff“ und seine Frau nominiert haben soll). Nicht reagiert haben Joachim Löw, Angela Merkel und Wladimir Putin.
Auch das gehört eben zum Ritual der Wette: Bodo Ramelow nennt drei Menschen, die seinem Vorbild folgen sollen. Darunter ist sein „spezieller Freund“, der Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, gegen den er im Wahlkampf unzählige Tweets, Retweets, eine Unterlassungserklärung verfasst hat und reichlich Missfallens-Bekundungen erlassen.
Soll ein Chefredakteur (oder auch jeder andere Redakteur) über dies Stöckchen im Wahlkampf springen? Wird er dann nicht Teil des Wahlkampfs? Macht er sich nicht lächerlich vor seiner Leserschaft einer seriösen Zeitung? Oder ist er einfach ein Spielverderber? Einer, der alles zu ernst nimmt?
„Kann er nicht digital“, twittert einer, als meine Antwort nicht rechtzeitig kommt. Man muss, nach den Regeln, innerhalb von 24 Stunden eiskübeln. Meine Antwort an Ramelow:
Sie können mich nicht einladen: ich bin Journalist, kein Wahlkämpfer. Ich kämpfe weder für sie, noch für andere.
Ramelow ist indigniert und grummelt, ich hätte das Ganze nicht verstanden und sollte mal Wikipedia lesen. Meine Antwort:
Wiki lesen: „Ein Internet-Phänomen, von vielen ausgenutzt, sich selbst in Szene zu setzen.“
Übrigens: Die Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis lehnte auch ab: „Ich spende lieber still und leise.“
Hanns Joachim Friedrichs sprach den legendärer Satz, im Handbuch auf Seite 176 zu finden:
Einen guten Journalist erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.
Den beiden schließe ich mich an, ebenso:
Mittlerweile schwappt die Eiskübel-Welle weiter, ohne dass noch großartig auf diesen ernsten Hintergrund hingewiesen wird. Bei der aktuellen Flut an Eiswasser in sozialen Netzwerken bekommt man den Eindruck, es werde nur noch Wasser geschüttet, um sich ins Gespräch zu bringen. […] So wird aus einer Idee, die eine ernste Angelegenheit humorvoll verpackt, ein verwässertes Internet-Phänomen, das von vielen letzten Endes nur ausgenutzt wird, um sich selbst in Szene setzen.
Tanja Morschhäuser: Verwässertes Internet-Meme. Frankfurter Rundschau, abgerufen am 23. August 2014.
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