Alle Artikel der Rubrik "K. Wie man Leser gewinnt"

Lügenpresse (8): Wenn Leser lügen

Geschrieben am 28. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Die Internetumfrage, die wir im vergangenen September (2005)  durchführten, erbrachte ein wenig schmeichelhaftes Resultat. Nicht für uns, sondern für 139 der 1883 Teilnehmer. Sie gaben an, das NZZ-Folio zum Thema «Katastrophen» habe ihnen besonders gut gefallen. Bloss: dieses Folio hat es nie gegeben.

Aus  Folio, dem Magazin der NZZ  (Neue Zürcher Zeitung, Statistik-Heft Januar 2006)

Der Ombudsmann und sein Plädoyer für den Leserbrief: „Ein unverzichtbarer Teil der Demokratie“

Geschrieben am 9. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

„Kritiker sind die besten Medien-Kunden. Man muss sie einfach mögen. Sie sind für Redaktionen demokratisches Lebenselement.“ So endet das fulminante Plädoyer für den Leser und seine Briefe, geschrieben von Anton Sahlender,  Leseranwalt der Main-Post und Sprecher der Vereinigung der Medien-Ombusleute. In seinem Main-Post-Blog lesen wir unter anderem:

„Leserbriefe sollte man noch viel mehr schätzen lernen. Sie sind wertvoll. Nicht nur für Zeitungen. Folglich muss man Brief-Schreiber einfach mögen. Sie haben Bedeutung. Geben sie sich doch (noch) Mühe, ihre Gedanken zu aktuellem Geschehen beizutragen. Das heißt, sie denken erst nach, bevor sie ihre Meinung an die Zeitung schreiben. Ja, das gibt es noch. Sie greifen schließlich unter ihrem Namen öffentlich in eine Diskussion ein.

Und die ist sogar ein unverzichtbarer Teil der Demokratie. Das hat das Bundesverfassungsgericht schon vor langer Zeit festgestellt. Es hat dabei eine freie Presse, zu der Leserbriefe gehören, als schlechthin konstituierend für ein freiheitlich demokratisches Staatswesen bezeichnet. Dessen Lebenselement sehen die Richter nämlich weiterhin in der ständigen geistigen Auseinandersetzung, die den Kampf der Meinungen ermöglicht. In diesem Sinne: Mitkämpfen ist erwünscht.

Fakten für den Stammtisch

Je früher man das Debattieren lernt, um kompetent an Auseinandersetzungen teilzunehmen, desto besser. Für eine richtige Debatte, die die Teilnehmer weiterbringt, gibt es Grundregeln. Erfolgreiche Debattierer halten sich daran, weil sie beispielsweise gut zuhören können. Verfassungsrichter sind in der Formulierung ihrer Urteilsbegründungen zu Diskussionen meist noch etwas anspruchsvoller. Dennoch muss sich niemand scheuen, die Niederungen gepflegter Stammtisch-Runden in den demokratischen Diskurs einzubeziehen, sofern aus Fakten geschöpft wird.

Wein- und bierselige Runden sind dann besser als ihr Ruf. Denn es geht nicht nur um politische Streitfragen, sondern um alles, was zum menschlichen Leben gehört. Da lässt sich doch der eine oder andere Ausrutscher verzeihen. Unterhaltung ist bekanntlich sogar Teil der Pressefreiheit.

D i e Medien gibt es nicht

Ich riskiere es, das heftig diskutierte Wullf-Beispiel an dieser Stelle einzusetzen: Ein Bundespräsident musste zurücktreten, weil er den Maßstäben, die man an den Lebenswandel des höchsten Repräsentanten eines Staates stellen muss, nicht gerecht wurde. Vorwiegend Medien haben das verdeutlicht, und zwar in seltener Einigkeit. Sie wurden ihrer Wächterrolle gerecht. Aber im Gespräch halten Kritiker an den journalistischen Fehlgriffen fest, die es während der Affäre zweifellos gegeben hat und machen daran generelle Zweifel am Journalismus fest.
Es gibt eigentlich fast immer den Faktor, dass Betroffene, die ihr Tun bloßgestellt sehen, meist dem Journalismus die Schuld in die Schuhe schieben. Sie halten Ursache und Wirkung nicht auseinander.

Wissen macht Demokraten
Durchaus zulässig ist es  zu sagen, dass vorwiegend Menschen, die Tageszeitung lesen, die die Demokratie stärken. Unter ihnen findet man konstruktive Kritiker. Die müssen dazu nicht unbedingt Briefe an die Redaktion schreiben. Ihre Bedeutung lässt sich auch ohne solche Aktivitäten gut begründen. Zeigt sich doch seit Jahren, dass vornehmlich sie es sind, die zur Wahl gehen.

Das gilt gleichermaßen für Leser, die seriöse Medien im Internet nutzen. Sie heben sich durch besseres Wissen von den Leuten ab, die Verschwörungen unterstellen und Lügenpresse rufen, aber vermutlich keine Zeitung wahrnehmen, weder gedruckt noch digital. Unwissen macht anfällig für Gerüchte und falsche Behauptungen.

Man könnte daraus allzu leicht die Umkehr-Regel formulieren: Fundiertes Wissen macht Demokraten. Das funktioniert aber nicht, schon gar nicht von heute auf morgen. Oft müssen Vorurteile abgebaut werden, indem Fakten dagegen gestellt werden. Das ist ein Prozess gegen die Beharrlichkeit im menschlichen Bewusstsein. Denn Botschaften, die aus den Nachrichten abgeleitet werden, entstehen bekanntlich erst in den Köpfen.

Starke Treuebeweise
Ich gönne mir noch etwas Gegenwart. Dazu gehören Wünsche oder Beschwerden von treuen Lesern, allesamt aus der älteren Generation. Die sind vermehrt von Hinweisen begleitet, wie den, dass die Familie schon in der dritten Generation die Main-Post, das Schweinfurter Tagblatt oder auch den Boten vom Haßgau liest. Die Absender schreiben das so, als würden sie sich einer verschworenen Gemeinschaft zugehörig fühlen. Solche Treuebeweise könnten Redakteure, oft zermürbt von schleichenden Auflagenverlusten und hässlichen Kritiken, schwach machen, selbst bei unerfüllbaren Wünschen. Darf es aber nicht! Denn ein langjähriges Abonnement ist kein Kriterium für Veröffentlichungen. Aber es ist ein Quell für Motivation.

Viele sollen zu Wort kommen

Für Leserbriefe gibt es natürlich Regeln – wie für den gesamten Journalismus.  Hier drei, die zuletzt oft übersehen wurden:

> Je kürzer der Text, desto größer die Wahrscheinlichkeit seiner Veröffentlichung. Das gilt vor allen Dingen für Zuschriften zu überregionalen Themen, etwa solchen zur Bundespolitik oder zum internationalen Geschehen. Lange Texte wandern zumindest unter mainpost.de komplett ins Internet. Im Netz spielt Länge keine Rolle.

> Kurze Briefe lassen es zu, auf dem  begrenzten Platz der gedruckten Zeitung möglichst viele Einsendungen unterzubringen. Aber auch sie wandern ins Netz, wenn es der Einsender nicht ausgeschlossen hat.

> Und Leserbriefe zu Berichten über Ereignisse, die Wochen zurückliegen, haben kaum Chancen noch einen Platz zu finden. Diese Regel drängt natürlich die Redaktion selbst die Pflicht, eingegangene Zuschriften möglichst zeitnah zu veröffentlichen. Sie nicht zu lange warten zu lassen. Insgesamt lässt sich sagen, dass etwa 90 Prozent der Zuschriften abgedruckt oder im Netz veröffentlicht werden, die redaktionellen Regeln entsprechen.

Das Haar in der Suppe
Ein Vorwurf, lässt sich nicht ausrotten. Er ist mit Manipulation zu kennzeichnen. Dieser Vorwurf kommt meist von Interessengruppen: „Leserbriefe oder Kommentare, die der Redaktion unliebsam sind, werden nicht veröffentlicht oder gar weggeworfen.“ Zu kontroversen konfliktreichen Artikeln scheint dieser Vorwurf zu gehören, wie das Haar in der Suppe. Einer trägt diese Vermutung an den anderen weiter: so lange, bis man sie für Tatsache hält. Vor allem glauben jene an das Haar, denen die Suppe nicht geschmeckt hat.
Dabei hat keine Redaktion Interesse, sich die Suppe selbst zu verderben. Einseitigkeit tut sie sich nicht an. Die widerspricht zutiefst journalistischem Selbstverständnis.
Fakt ist aber, dass es Einseitigkeit gibt. Zu manchen Themen gehen tatsächlich nur Leser-Stimmen zu „einer Seite der Medaille“ ein. Und keine Redaktion erfindet selbst Gegenstimmen, um ihre Leserbriefspalte auszugleichen. Ich würde es allerdings gutheißen, wenn die Redaktion der Leserschaft der einseitige Briefeingang offenbart wird. Das gilt gerade für kontroverse Themen. In diesen Zeiten, sollte manches was in Redaktionen vorgeht, transparent gemacht und erklärt werden.

Erhöhtes Qualitätsbewusstsein
Für Zeitungsleser ist es ein wesentlicher Faktor für Qualität, dass Leute, die ihre Meinung schreiben, ihren korrekten Namen darunter setzen. Mit Phantasienamen aus dem Internet wollen sie nichts zu tun haben. Sie beschweren sich, wenn ihre namentlich gezeichneten Meinungen den Ansichten begegnen, die da unter einem Pseudonym erscheinen. Das mögen sie schon gar nicht in ihrer gedruckten Zeitung. Der Presserat freilich, hat in seinem Kodex die Nicknames sanktioniert. (Richtlinie 2.6) Eine Debatte unter ungleichen Bedingungen hat er dabei nicht erwähnt.

Es gilt die Verbreiterhaftung
Alles, was unter der Marke dieser Zeitung veröffentlicht wird, prägt nicht nur ihr Image. Die Redaktion haftet auch dafür. Auch für namentlich und mit Phantasienamen gezeichnete Kommentierungen gilt die Verbreiterhaftung. Schon deshalb bemühen sich professionelle Redaktionen um eine erträgliche Diskussionskultur. Sie lassen Boshaftigkeiten und Beleidigungen nicht zu. Die fallen auf das Image ihrer Marke zurück. In langfristig gepflegten und kontrollierten Meinungsportalen, hat man bekanntlich kaum noch unter dem Einfall von „Trollen“ und ihren meist persönlich beleidigend hingeworfenen Behauptungen zu leiden.

Wer sie kritisiert, hängt an der Zeitung
Ich habe es oft erfahren, dass gerade Zeitungsleser eine gepflegte Diskussionskultur zu schätzen wissen. Man begegnet diesen Lesern – darunter ältere Semester – vermehrt auch im Internet. Hoffentlich tragen sie dort zum Fortbestand einer gepflegten Diskussionskultur bei. In deren Rahmen – also ohne persönliche Schmähungen und unbewiesene Behauptungen – sind auch Beschwerden am besten platziert. Debatten sind dann anregend und fruchtbar. Willkommen ist, wer dabei Zeitung oder Redaktion kritisiert, denn dem ist sie nicht gleichgültig. Er hängt meist sogar an ihr. Im Sinne geistiger Auseinandersetzung sind Kritiker ohnehin die besten Medien-Kunden. Man muss sie einfach mögen. Sie sind für Redaktionen demokratisches Lebenselement.

Oxy moxy Oxy moxy – Der Albtraum, wenn der Blindtext in die Zeitung kommt

Geschrieben am 24. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.
2 Kommentare / Geschrieben am 24. Juni 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, K 40 Layout.

Berliner-Zeitung-Blindtext-136007-detailp„Aufmacher über den Idioten in der Staatskanzlei“ steht als Titel über dem wichtigsten Text der Zeitung – aber nur als Blindtext im Layout-Entwurf. Am Abend, wenn die Zeitung gedruckt wird, ist die Schlagzeile wieder seriös.  Ein Albtraum jedes Chefredakteurs ist: Der Blindtext ist am nächsten Morgen auch für jeden Leser sichtbar.

Solch Übel passiert immer wieder, selten bis nie bei den herausragenden Texten, aber gerne mal beim Zwischentitel oder der Überschrift einer Meldung; in manchen Redaktionen sind flapsige Blindtexte deshalb verboten. Offenbar auch bei der Berliner Zeitung. Denn der Berliner Zeitung widerfuhr das Unglück in der Dienstagausgabe (23. Juni 2015): Durch einen Stromausfall konnten nicht alle Texte für die erste Ausgabe fertig redigiert werden: Ein Artikel erschien mit der Überschrift „Das Lageo“ und dem Zwischentitel

 Oxy moxy Oxy moxy Oxy moxy Oxy moxy Oxy moxy Oxy moxy / Zitat Autor

Den Text sollte man sich merken: Er wird jeden Leser eher belustigen denn empören. Empfehlenswert ist auch ein Satz, den zu Fernschreiber-Zeiten die Agentur AP zum Test schickte. Um sämtliche Buchstabenhebel zu prüfen, gab es diesen Satz, in dem alle Buchstaben des Alphabets vorkommen:

The quick brown fox jumps over the lazy dog 1234567890

 

Was dürfen Journalisten? Presserat entschied über Beschwerden zu Germanwings-Absturz (Leser fragen)

Geschrieben am 15. Juni 2015 von Paul-Josef Raue.

430 Leser von deutschen Zeitungen haben sich nach dem Absturz der Germanwings-Maschine an den Presserat gewandt und sich über die Berichterstattung beschwert. Eine Leserin der Thüringer Allgemeine hatte sich direkt an die Redaktion gewandt und kritisierte die „respektlose und pietätlose und vor allen Dingen lauthalse Berichterstattung über den Absturz der Unglücksmaschine“: Er sei „zutiefst menschenunwürdig und nur einem verachtungswürdigen Voyeurismus geschuldet“.

Ein anderer Leser wollte gleich den Staat einschalten, damit er Medien verbiete, „persönliche Daten in solchen Fällen zu veröffentlichen. Normalerweise müssten hier empfindliche Strafen ausgesprochen werden. Bis zum Berufsverbot. Allerdings, wie vereinbart sich das dann mit dem Grundgesetz?“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete der Chefredakteur:

Sehr geehrter Herr W.,

Sie fragen zu Recht: Wie vereinbaren sich Berufsverbote und harte Strafen für Journalisten mit dem Grundgesetz?

Gar nicht, so lautet die klare Antwort. Die Presse kontrolliert den Staat und nicht der Staat die Presse – so steht es in Artikel 5 des Grundgesetzes. „Eine Zensur findet nicht statt“ bedeutet: Keiner darf Journalisten zwingen, über eine Sache oder eine Person zu schreiben oder dies zu unterlassen. Die Presse ist frei.

Allerdings müssen auch Journalisten die Persönlichkeits-Rechte beachten und dürfen, falls sie dagegen verstoßen, bestraft werden; sie dürfen nicht beleidigen oder die Unwahrheit schreiben.

So läuft zurzeit ein umstrittenes Gerichtsverfahren in Mecklenburg: Ein Reporter muss 1000 Euro bezahlen, weil er einen Jäger „Rabauken“ genannt hat; der Jäger hatte ein totes Reh an seiner Anhänger-Kupplung befestigt und über die Landstraße gezogen. Der Nordkurier akzeptiert diese Strafe nicht und zieht in die nächste Instanz. Der Chefredakteur in Neubrandenburg spricht von einer Gefährdung der Pressefreiheit durch Staatsanwalt und Richterin:

„Dieses Land hat zwei Diktaturen hinter sich und leider auch eine entsprechend fürchterliche Justizgeschichte. Die beiden über die freie Presse herfallenden Juristen haben daraus nichts gelernt. Vielleicht wäre es ihnen genehm, wenn der Nordkurier seine Artikel künftig den Behörden vorab zur Begutachtung vorlegt – war doch früher auch schon so.“

Der Staatsanwalt hat Anzeige gegen den Chefredakteur gestellt.

Sehr geehrte Frau Z.,

der Presserat entscheidet, ob Journalisten gegen den Pressekodex, also die Moral der Medien, verstoßen haben. Er hat so über die Beschwerden gegen die Berichterstattung zum Flugzeug-Absturz entschieden:

1. Der Name des Piloten durfte genannt werden.

Nach der Pressekonferenz des französischen Staatsanwalts durften Journalisten davon ausgehen, dass Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hatte. Der Sprachrekorder war ausgewertet und Ermittlungen der Luftfahrtbehörde lagen öffentlich vor. Von Vorverurteilung konnte keine Rede mehr sein.

Zwar war durch die Namensnennung auch die Identifizierung der Eltern möglich, aber das öffentliche Interesse wog stärker als das Verschweigen des Nachnamens bei dieser außergewöhnlich schweren Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist.

Eine besondere Zurückhaltung, die bei Selbstmorden geboten wäre, tritt mit dem Blick auf 149 Todesopfer zurück.

2. Bilder von den Opfern durften nicht veröffentlicht werden.

Opfer und ihre Angehörigen dürfen im Bild nur gezeigt werden, wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelt oder eine ausdrückliche Zustimmung vorliegt. Also durften Fotos der Angehörigen, aufgenommen an den Flughäfen in Düsseldorf und Barcelona, nicht gedruckt werden.

Die TA hatte ein solches Foto gedruckt; wir haben dafür um Entschuldigung gebeten.

3. Die Partnerin des Co-Piloten durfte nicht erkennbar sein.

Eine Zeitung hatte zwar nicht den vollständigen Namen genannt, jedoch waren in dem Text so viele persönliche Details enthalten, dass die Partnerin des Co-Piloten identifizierbar war. Das verstößt gegen den Pressekodex und ist zu rügen, entschied der Presserat.

Auch die Berufe der Eltern des Co-Piloten zu erwähnen und ihr Wohnhaus nebst Umgebung zu zeigen, verletzt den Persönlichkeitsschutz.

Thüringer Allgemeine, 13. Juni 2015, Kolumne „Leser fragen“

Überschriften: Nicht-Nachrichten sind selten eine Nachricht

Geschrieben am 28. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

Wurst für Vegetarier: Kein Trend in Brandenburg

Titelzeile Märkische Allgemeine, Potsdam, (Hinweis im Text: „Nachfrage in Berlin ist größer“) / zitiert im Checkpoint von Lorenz Maroldt, 28.5.15

FACEBOOK Hinweis von P Achim Tettschlag

28.11.11 GEHEIMNIS einer ÜBERSCHRIFT
Gestern las ich:

„Viele MENSCHEN
erkennen beim LESEN zwischen den ZEILEN nur,
dass dort nichts steht … “

Heute sage ich:

Wer zwischen den ZEILEN nicht lesen kann,
weil er dort nichts stehen sieht,
hat die ÜBERSCHRIFT nicht verstanden !

Ein Kommentar dazu: Während meiner ABI-Zeit auf der Volkshochschule und während des Fernstudiums habe ich mir autodidaktisch das sogenannte „DIAGONALLESEN“ angeeignet.
Dabei ist bereits das geistige Erfassen und Deuten der ÜBERSCHRIFT / des TITELS von großer Bedeutung für das Weiterlesen … Ohne Zweifel birgt dieses Verfahren Gefahren in sich, aber ich bin damit eigentlich erfolgreich alt geworden …

Wie wird man 90? Wolf Schneider: „Ein tägliches Quantum Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude“

Geschrieben am 6. Mai 2015 von Paul-Josef Raue.

„Es lag an mir, ob ich diesen Tag überleben wollte.“ Mit solch einem „Erdbeben“ beginnt Wolf Schneider seine Memoiren. „Erdbeben“ kommt in seinem Lieblingszitat vor, das jeder seiner Schüler dutzendmal gehört hat, das ihm in den Ohren klingt, wenn er zu schreiben beginnt, das er jedem weitergibt, der ein guter Journalist werden will: „Mit einem Erdbeben anfangen und dann ganz langsam steigern“, Samuel Goldwyns Forderung an seine Drehbuch-Schreiber.

Also fängt Wolf Schneider nicht mit seiner Geburt an: Die hat keiner erlebt und die ist meistens langweilig; dass man sie überlebt hat, versteht sich, denn ein Toter schreibt in der Regel keine Memoiren. Die Geburt folgt in Kapitel 32.

Der Tag des verhinderten Selbstmords, beschrieben in Kapitel 1, war der Tag der Kapitulation: Ein romantischer Abend mit „Mondlicht an einem Teich bei der alten Villa“ – und ein grübelnder Unteroffizier, der gerade 20 geworden war, und sich fragt: „Sollst du dich erschießen?“

Wolf Schneider hat es nicht getan, wovon gut vierhundert Seiten zeugen, die auf „Leben oder Tod?“ folgen. Diese Seiten müssen alle Journalisten lesen, um zu staunen, was ihnen alles nicht gelungen ist, um zu lernen, was ihnen meist schwer fällt, um sich zu ärgern und aufzuregen, was ihnen meistens nicht schwer fällt. Schneiders „Hottentotten“ ist das erste Geschichtsbuch des Journalismus in Deutschland, in dem ohne Verklärung oder Verkleisterung zu lesen ist, wie es wirklich in den Redaktionen zugegangen ist.

Wen wundert’s, wie eitel das Journalisten-Volk war und ist, zumindest in den Führungskreisen? War Wolf Schneider arrogant? Er dürfte der einzige sein, der das bestreitet: „Ich hatte mein Leben lang niemals das Gefühl, arrogant zu sein.“ Als er mit 17 vernahm, er wirke so, war er erstaunt und ratlos. Der 90-jährige Memoiren-Schreiber fragt: „Was soll man da machen?“

War Wolf Schneider nett? Die Frage könnte man mit einer Gegenfrage beantworten: Gibt es überhaupt nette Chefredakteure? Ich kenne keinen, wenigstens keinen, der lange erfolgreich war und erfolgreich bleiben will.

Henri Nannen zum Beispiel. „Ein zu großer Mann, um auch noch ein angenehmer Mensch zu sein“, stellt Schneider fest und ergänzt: „Die ganz Großen sind das nie.“ Wahrscheinlich war Nannen ein Kotzbrocken; wer ihn erleben durfte, wird es kaum bestreiten. Schneider erzählt von einer Abkanzelung unter Zeugen: Ein Redakteur gibt Nannen ein zehnseitiges Manuskript, und Nannen gibt es nach einer Minute zurück, „Ihr Manuskript taugt nichts!“

Was folgt, ist widerlich und brutal in der Form, wie es Schneider nennt, aber lehrreich für den Schreiber und alle, die zuhören:

Der Autor, entgeistert: „Aber Sie können doch die zehn Seiten unmöglich schon gelesen haben!“
Nannen: „Nein, ich habe im dritten Absatz aufgehört“
Der Redakteur: „Aber ich musste doch im dritten Satz…“
Darauf Nannen mit Donnerstimme: „Das erzählen Sie mal unseren zehn Millionen Lesern, was Sie im dritten Absatz mussten! Gehen Sie raus.“

Solche Patriarchen ohne Manieren gibt es wohl nicht mehr, solche Redaktionen wie „ein Hochdruckkessel“, den Chefredakteure lustvoll beheizen, wohl auch nicht. Den Leser mag das Gefühl beschleichen, dass der Niedergang der Magazine und Zeitungen mit dem Niedergang der Patriarchen einherging, die Unlust der Leser und die Erlahmung der Redakteure ebenso.

Nannen war für Schneider wie ein Bruder: Brillantes Handwerk, berserkerhafte Entschlossenheit. Dies permanent von allen Redakteuren zu erzwingen, bewunderte Schneider und übernahm es zur Ertüchtigung seiner Journalistenschüler. Ein Lehrgang ließ in Stein meißeln: „Qualität kommt von Qual“.

Nannen war es auch, der Schneider im „Gruner+Jahr“-Vorstand empfohlen hatte als Leiter der Journalistenschule – mit den Worten: „Der Schneider ist zwar ein Arschloch, aber er ist der Einzige, der das kann.“ Der 90-jährige Schneider kommentiert dies in der ihm eigenen Bescheidenheit: „Mit solchen Komplimenten konnte ich leben.“

Wer weitere Beispiele sucht wie die Forderung an seine Schüler „Sie werden bitte nicht krank“, der wird auf nahezu jeder Seite fündig. Und wer sich über den Schinder entsetzen sollte, wird einräumen: Erzählen kann er jedoch, der Schneider, erzählen wie kein anderer.

So ist das Geschichtsbuch zuerst ein Geschichtenbuch über eine Karriere, wie sie so nur nach dem Krieg möglich war: Redakteur – ohne Volontariat oder Uni wohlgemerkt – zuerst bei den amerikanischen Besatzern, dann bei AP, der größten Agentur der Welt, und schließlich bei der Süddeutschen Zeitung, als Autor von 167 Streiflichtern und zum guten Ende als Korrespondent in Washington.

Es folgten Henri Nannen und der Stern, die Chefredaktion der „Welt“, die ersten Bücher und schließlich die Journalistenschule: 330 Schüler, nicht wenige von ihnen Chefredakteure, Star-Reporter oder –Kolumnisten. Kein Journalist in Deutschland hat den Journalismus und die Journalisten so geprägt wie Schneider, als Lehrer und als Autor der besten Stil-Lehren, ein Nachfahre Luthers, der in der Stadt gepredigt hatte, in der Schneider geboren wurde, Erfurt.

„Ungeduld war mein Lebenselexier“, schreibt er im letzten Kapitel „Abenddämmerung“. Und – ich bin im Alter nicht gelassen geworden. Das stimmt so wenig wie die Erinnerung, in der DDR habe man die Heizung per Ventil regulieren können. Nein, sie sperrten die Fenster auf, wenn’s zu warm wurde in der Stube, und sie machen es heute noch so in Erfurt und spotten jeder Energiewende.

Das dürfte auch sein einziger Fehler sein auf gut vierhundert Seiten, die faszinierend geschrieben sind, prall und lebenssatt. Und sein Rezept, 90 Jahre alt zu werden – und im Kopf wie 50? „Ein tägliches Quantum Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude hält mich bei vorzüglicher Gesundheit“, hatte er Peter Tamm zugerufen, dem Springer-Chef, nachdem der ihn gerade gefeuert hatte.

Nett und ein wenig gelassen geworden ist er übrigens auch, zumindest ist beides zu ahnen. Es gibt kein Leben, auch kein großes, ohne Energiewende. Heute wird Wolf Schneider 90, und alle, die ihn gelesen haben, die ihn erlebt haben, die ihn erlitten haben, die ihn noch verfluchen, werden ihn nicht vergessen. Einige knien nieder.
Wolf Schneider ist ein Erdbeben.

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kress.de zu Schneiders 90. Geburtstag am 7. Mai 2015
Seine Memoiren „Hottentotten Stottertrottel“ sind bei Rowohlt erschienen (448 Seiten, 19.95 Euro)

Ethik nach dem Absturz (4): Es gibt respektable Gründe, den Namen des Kopiloten zu nennen

Geschrieben am 22. April 2015 von Paul-Josef Raue.

„Absurd“ nennt  FAZ-Onlinechef Mathias Müller von Blumencron die Diskussion über die Namens-Nennung des Kopiloten des German-Wings-Flugs 4U9525.  „Die ganze Diskussion darüber ist merkwürdig und wird außer in Deutschland auch nirgendwo geführt“, sagt er in einem W&V-Interview.

Absurd war die Diskussion, weil viele Medien wortreich begründeten, warum der Name genannt oder eben nicht genannt wurde. War dies quasi das Gegenstück zum Eskalationsjournalismus? Statt lautstarker Versuche, mit mehr oder weniger wichtigen Informationen große Resonanz zu erzeugen, die anbiedernde, fast peinliche Erklärung, warum man etwas so oder so sieht?

Auf die Frage von Volker Schütz: „Gehört zu dem von Ihnen beschworenen Qualitätsjournalismus auch die volle Namensnennung?“ antwortet Blumencron:

Selbstverständlich. Der Mann hat 149 Menschen in den Tod gerissen. Die Öffentlichkeit hat ein Recht darauf, zu erfahren, wer dieser Mann war. Denn nur seine Biografie kann uns helfen, diesen Irrsinn zu verstehen. Und dabei helfen, dass wir die Mechanismen verbessern, um eine Wiederholung zu verhindern.

Blumencron geht auf den Vorwurf ein, Medien bauschen auf, suhlen sich in der Sensation, eskalieren:

Bei der Berichterstattung über dieses Ereignis gab es nichts zum Eskalieren. Diese Tat selbst ist eine der größten vorstellbaren Eskalationen. Selbst wenn ich mich dem Ereignis ganz nüchtern nähere, und nichts anderes ist angemessen, entfalten die Berichte eine ungeheuerliche Wucht. Und das ist für viele Leser verstörend: Die Wirklichkeit ist kaum auszuhalten.

Aber wie sollen  wir umgehen mit den Lesern, die sich einmischen in unsere Debatten, die Medien beobachten wie nie zuvor, die kritisieren und verstören:

Das bedeutet: Journalisten müssen manchmal erklären, warum sie wie berichten. Das ist gut so, das ist nicht anbiedernd. Man darf allerdings keinesfalls das Gefühl erzeugen, permanent über sich selbst zu philosophieren. Unser Geschäft ist die Aufklärung über den Gang der Welt, nicht über den Gang einer Redaktion.

(W&V 16.4.)

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Das Dart-Center: Wachsendes Bewusstsein für Ethik

Es lohnt für uns Journalisten ein Blick ins „Dart-Center“, in dem sich Psychologen und Journalisten um traumatische Erfahrungen kümmern: Wie gehen Journalisten mit traumatisierten Menschen nach einer Katastrophe um? Wie erkennen sie Traumata? Wie gehen Journalisten mit ihren eigenen Traumata um?

Auf ihrer Homepage stellen die Dart-Center-Experten das neue Phänomen fest:

Die Berichterstattung der Tage direkt nach dem Unglück zeichnet sich auch dadurch aus, dass Medienkritiker fast zeitgleich mit der akuten Berichterstattung schon zu Achtsamkeit und zum differenzierten Umgang mit den Informationen und Angehörigen mahnten. In den sozialen Medien wurde der Absturz selbst fast genauso leidenschaftlich besprochen, wie die Berichterstattung über den selben.

Das „Dart Center für Journalismus und Trauma“ kommt zu dem Ergebnis: „Der Germanwings-Absturz war nicht unbedingt “ein Absturz des Journalismus” war, sondern auch ein Zeichen  für ein wachsendes Bewusstsein für Ethik in der Berichterstattung.“

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Hatte der Co-Pilot gute Absichten? 

Ein ungewöhnliches Argument finde ich in einem Kommentare auf persoenlich.com: War der Copilot „vielleicht war er sogar in der Meinung ,gut‘ zu handeln?“ Deshalb könne man den Co-Piloten ein Opfer nennen.

Ein Kommentator entgegnete: „‚Gut‘ zu handeln“ – wie krank ist das? Damit kann man alles entschuldigen. Hitler war dieser Meinung, Stalin, Breivik. Alle meinten es nur gut.“

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Beim 11. September nannten wir die Namen der (muslimischen) Attentäter

Warum haben wir bei dem Absturz ein Problem, den Namen zu nennen? fragt Wolfgang Kretschmer auf Facebook: 

Erinnert sich noch jemand an die Terroranschläge auf das World Trade Center? Damals hatte niemand in keiner Redaktion ein Problem damit, die bald darauf bekannten Klarnamen der Attentäter abzudrucken, deren Hauptakteure Studierende in Deutschland waren.

Warum handeln wir bei vergleichbaren Katastrophen unterschiedlich? 

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BILD und der Absturz

Zum Abschluß sei Bild-Chefredakteur  Kai Dieckmann zitiert, der mit Julian Reichelt die Berichterstattung von Bild rechtfertigt, sie „für völlig selbstverständlich und absolut zwingend hält“. Auch wenn wir anderer Meinung sind als Dieckmann, finde ich es respektabel, dass sich Dieckmann äußert und seine Gründe ausführlich darlegt. Man muss schon sehr überzeugt von der eigenen Rechtschaffenheit sein, um sie nicht wahrnehmen und diskutieren zu wollen:

Argument 1: Es war ein Ritualmord von historischem Ausmaß

Nach Erkenntnissen der ermittelnden Staatsanwaltschaft hat Andreas Lubitz „die Zerstörung des Flugzeugs bewusst eingeleitet“ und somit 149 mit in den Tod gerissen – ermordet. Er hat selbst gewählt, ein Verbrechen von historischen Ausmaßen zu begehen. Er ist ein Amokläufer, der mehr Menschen auf dem Gewissen hat als jeder Einzeltäter der deutschen Nachkriegsgeschichte. 

Seine Waffe war keine Pistole, kein Gewehr, sondern – wie bei den Terroristen des 11. September – ein Passagierflugzeug. Er hat seinen Opfern nicht mal die „Gnade“ eines schnellen Todes gewährt, sondern sie qualvollen acht Minuten Sinkflug in den Tod ausgesetzt. Wenn man versucht zu erahnen, was diese acht Minuten für die Menschen an Bord bedeutet haben müssen, kann man das durchaus als grausam, als Folter, als Ritualmord bezeichnen.

Argument 2: Der größte Verbrecher des Jahrhunderts

Wir haben es mit einem Mann aus der Mitte unserer Gesellschaft zu tun, der als Figur des Grauens, als bisher größter deutscher Verbrecher des (jungen) 21. Jahrhunderts in die Geschichte eingehen wird. Die Aufgabe von Journalismus ist es, Geschichte zu erkennen, zu dokumentieren, zu erzählen, während sie entsteht. Das ist zwar deutlich schwieriger als der Rückblick, wenn alle historischen Fakten bekannt sind, aber es ist der Kern unseres Berufs. 

Argument 3: Menschen, auch Amokläufer , haben Namen und machen Geschichte

Wir halten es für legitim, die Hauptbeteiligten von historischen Ereignissen beim Namen zu nennen. Der Amokläufer von Erfurt hieß Robert Steinhäuser, der Amokläufer von Winnenden hieß Tim Kretschmer. Die Geiselgangster von Gladbeck hießen Hans-Jürgen Rösner und Dieter Degowski. Geschichte wird von Menschen gemacht. Menschen haben Namen. Namen sind Geschichte.

Argument 4: Personen der Zeitgeschichte haben ein Gesicht

Wir glauben auch, dass es richtig ist, den Täter Andreas Lubitz zu zeigen. Als Person der Zeitgeschichte muss er – auch im Tod – hinnehmen, dass er mit seiner vollen Identität, seinem Namen und auch seinem Gesicht für seine Tat steht. 

 Wir machen Andreas Baader, Mohammed Atta und Anders Behring Breivik nicht unkenntlich. Und genau so wenig tun wir es mit Andreas Lubitz, dessen Name der französische Staatsanwalt in einer dramatischen und historischen Pressekonferenz vor der Weltpresse buchstabierte. 

Argument 5: Psychische Krankheit macht einen nicht weniger historisch

Natürlich war Andreas Lubitz psychisch krank. Wer nicht psychisch krank ist, entschließt sich nicht zu einer solchen Tat, aber das macht Andreas Lubitz nicht weniger historisch.

Argument 6: Fast alle großen Medien nennen den Namen

Der überwältigende Anteil traditioneller Medien auf der ganzen Welt hat dieselbe Entscheidung getroffen wie wir. Darunter ausnahmslos alle Medien, die den journalistisch-ethischen Standard unseres Berufes seit Jahrzehnten prägen: Der Guardian, die BBC, die New York Times, die Washington Post, CNN, die Nachrichtenagentur Reuters, das Wall Street Journal, der Stern in Deutschland. Wir sagen damit nicht, dass wir so handeln, weil andere so handeln. Wir kommen nach langen inner-redaktionellen Debatten nur zu derselben Entscheidung wie unsere Kollegen weltweit. 

Argument 7: Social Media nennt millionenfach den Namen

Sowieso ist es abwegig zu glauben, dass die traditionellen Medien in Zeiten von Social Media Informationen kontrollieren, zurückhalten könnten. Der vollständige Name Andreas Lubitz wurde seit gestern über 120.000 Mal getwittert und ist ein weltweiter Trend. Auf Google gab es gestern allein in Deutschland eine Million Suchanfragen zu „Andreas Lubitz“. Die Vorstellung, wir könnten auch nur ansatzweise Einfluss darauf nehmen, ob der Täter idenifizierbar ist oder nicht, ist schlicht absurd.

Resumee: Es war richtig, den Namen zu nennen

Nach unserem journalistischen Selbstverständnis kann es nur eine Antwort auf die Frage geben, ob Menschen, die historisch Großes leisten und historisch Schreckliches anrichten, mit ihrer vollen Identität dafür stehen und einstehen sollten: Ja.

Ethik nach dem Absturz (3): Zu viel Rechthaberei, zu wenig Aufklärung?

Geschrieben am 19. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Warum wahren  Journalisten  in ihren ureigenen Debatten nur so schwer die Distanz,  die zum Handwerk gehören sollte? Warum dominiert Rechthaberei? Verteufelung von Argumenten, die nicht die eigenen sind?

Ein Beispiel: Michael Hanfeld (miha) schreibt in der  FAZ einen kurzen Text zu der Ethik-Debatte nach dem Absturz und entdeckt in Sendungen der ARD  „eine moralische Besserstellung“ – weil sie  den Namen des Kopiloten nicht nennt.  Aber auch er holt die moralische Keule heraus: „Die Öffentlich-Rechtlichen sind ja gern immer die Guten“, die Sondersendungen nach dem Absturz seien „ekelerregend“, und er entdeckt bei der ARD „Journalismus-Gefühlsduselei“.

Hanfeld kritisiert die Haltung von Journalisten, „die selbst bei einer solchen Gelegenheit nur von sich selbst berichten können“ – und zeigt nicht, wie er es besser machen würde. So geht seine Frage unter, die nachdenkenswert ist: „Wer den mehr als mutmaßlichen Täter anonymisiert, verhöhnt die Opfer. Die zwingendste Trennung geht unter – diejenige zwischen Täter und Opfern.“ (FAZ, 18. April).

Die Debatte dreht sich nicht allein um Namens-Nennungen, sei es von Kopilot oder Opfern, auch nicht um die Fotos, die gezeigt werden dürfen, sondern auch um den Umgang mit den Lesern: Was dürfen wir ihnen zutrauen? Wieviel Informationen dürfen sie bekommen? Wieviel Urteil überlassen wir ihnen? Wo endet die Nachricht? Wo beginnt die Sensation? Was ist „unangemessen“?

Verstecken wir unter dem Deckmantel der Ethik nicht ein feudales Verständnis: Wir, die Journalisten, da oben sagen dem Volk, was es wissen darf und anschließend, was und wie es zu denken hat? Zielt Aufklärung nicht auf den denkenden Menschen, der zum eigenen Urteil fähig ist?

Das sind grundsätzliche Fragen, die stets bei einem überwältigenden Thema – sei es die Love Parade, sei es der Flugzeug-Absturz – auftauchen, aber zu oft in Rechtfertigungen und Rechthaberei untergehen.

Das sind die Fragen, die der Presserat Anfang Juni beantworten will; ihm liegen 430 Beschwerden gegen die Berichterstattung über den Absturz von  4U9525 vor – so viele wie noch nie zu einem Thema:

> Durfte über den Co-Piloten identifizierend berichtet werden?
> War die Veröffentlichung von Opferfotos und Opfergalerien angemessen?
> Mussten die Angehörigen von Co-Pilot und Opfern geschützt werden?
> War die Berichterstattung  unangemessen sensationell?
> Gab es  Vorverurteilungen?
> Ist das Ansehen der Presse beschädigt worden?

Auf seiner Internet-Seite hat der Presserat allerdings schon kurz nach dem Absturz darauf hingewiesen: „Opferschutz hat Vorrang“ und an die Richtlinie 8.1 des Pressekodex erinnert: 

Opfer haben einen Anspruch auf den besonderen Schutz ihrer Identität, denn für das Verständnis des Geschehens ist das Wissen darüber in der Regel unerheblich. Als zufällige Opfer eines Unglücks werden die Verstorbenen auch nicht automatisch zu Personen von zeitgeschichtlicher Bedeutung. Der Schutz ihrer Persönlichkeit überwiegt daher regelmäßig das öffentliche Interesse. Auch die Angehörigen haben ein Recht auf Privatsphäre.

Das Kreuz mit der Überschrift: Wie vital ist ein Toter?

Geschrieben am 15. April 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 15. April 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, K 44 Überschrift.

Vitaler Künstler

Titel einer Zeitung über einem Nachruf auf Günter Grass. Vital stammt aus dem lateinischen Wort für Leben und kam, laut Pfeifers Etymologischem Wörterbuch, wohl um 1800 aus dem Französischen in unsere Sprache in der Bedeutung „voller Lebenskraft“.

Dazu passt ein Facebook-Eintrag von Mario Schattney

 
grass bz

Die Titelseite der BZ hat mir am besten gefallen: GÜNTER GRASS mit Hemd und rotem Pullunder im Halbprofil, ein Riese – die ganze Seite ausfüllend, mit einem Streichholz in seiner bereits rauchenden, schmauchenden Pfeife stochernd. Dazu die Headline DAS ERLOSCHENE GENIE.

(15. April um 10:19)

Eine neue Regel: Das Wichtigste steht am Schluss? Spiegel-Online macht’s vor

Geschrieben am 14. April 2015 von Paul-Josef Raue.

Spiegel Online zeigt einen lächelnden  VW-Chef Winterkorn im Foto, schreibt in die Schlagzeile: „Er lächelt gegen seine Demontage an“, wiederholt sich im Vorspann: „Nur lächeln, nicht reden“ – nur wer kurz und knackig wissen will, was geschehen ist, der erfährt am Ende des kurzen Vorspanns:

Wenig Zeit? Am Textende gibt’s eine Zusammenfassung.

Und so läuft der Text auch ab: Nach rund fünfzig Zeilen im XL-Format und einer halben Internet-Ewigkeit gibt es die versprochene Zusammenfassung. Ist das eine neue Regel: Das Wichtigste oder die Zusammenfassung steht nicht mehr am Beginn eines Artikels, sondern am Ende?

So endet der Spiegel-Online-Artikel:

Zusammengefasst: VW-Aufsichtsratschef Ferdinand Piëch hat sich von Vorstandschef Martin Winterkorn distanziert. Bisher stellen sich andere wichtige Aufsichtsräte hinter Winterkorn, darunter Niedersachsens Ministerpräsident Weil. Doch der Branchenexperte Ferdinand Dudenhöffer glaubt, dass letztlich Piëch den Machtkampf gewinnen wird.

Torsten Beeck, Sozial-Media-Chef des Spiegel, bestätigt per Tweets das Experiment: „Das Wichtigste steht im Artikel, der letzte Absatz ist die Zusammenfassung für alle, die keine Lust haben zu lesen.“ Das Experiment sei auch sehr gut bei den Nutzern angekommen laut Befragung auf verschiedenen Kanälen: „Sehr viel Feedback via E-Mail durch Blogpost des Chefredakteurs.“

Offen ist: Steigert oder senkt die Zusammenfassung am Ende die Verweildauer? „Die Zahlenbasis ist noch zu klein“, twittert Torster Beeck, der allerdings hofft, dass die neue Regel die Zufriedenheit steigert.

**

Quelle: Spiegel Online, Montag, 13.04.2015,  10:38 Uhr

Der letzte Absatz hinzugefügt am 15. April (Zitate Beeck)

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