Kubicki: Am besten wäre ein Prozess in den USA – nicht nur für Snowden
Was wäre, wenn Snowden vor ein amerikanisches Gericht gestellt würde? fragt Wolfgang Kubicki. Dann müsste sich die amerikanische Gesellschaft intensiv damit beschäftigen: Was darf der Staat überhaupt? Wie tief darf er in das Private der Menschen eindringen, um die Sicherheit der Bürger zu garantieren? Welche Rolle spielen die Medien in der Aufklärung solcher Staats-Affären?
Es ist Unsinn, Snowden in Deutschland politisches Asyl zu geben. Die USA sind ein Rechtsstaat mit strengen Regeln, die man auch einklagen kann. Statt politisches Asyl in Deutschland zu fordern, wäre es sinnvoller, wir in Deutschland ein paar Millionen zu sammeln, Snowden die besten Anwälte zu besorgen und ihm ein gutes Verfahren in den USA zu ermöglichen.
Das sagte Wolfgang Kubicki am Rande eines TA-Gesprächs mit jungen Wähler in Nordhausen. Kubicki kandidiert für den Bundestag, ist FDP-Chef in Schleswig-Holstein und Mitglied des Präsidiums der Bundes-FDP.
AP-Chef: Regierung muss Journalisten vor Abhör-Aktion warnen
Die amerikanische Regierung soll die Verfassung achten, vor allem die Pressefreiheit beachten, statt sie auszuhöhlen, schreibt AP-Chef Gary Pruitt im Blog seiner Nachrichtenagentur. Er reagiert auf das Abhören gegen AP-Journalisten im vergangenen Monat.
Pruitt stellt fünf Forderungen auf, um die Pressefreiheit dauerhaft zu sichern:
1. Das US-Justizministerium muss die Presse vor Abhör-Aktionen warnen und anhören, bevor es sich Zugriff auf ihre Aufzeichnungen verschafft.
2. Gerichte müssen sicherstellen, dass die Gewaltenteilung ebenso strikt eingehalten wird wie die Verfassung und journalistische Rechte nicht durch die Selbstermächtigung der Exekutive untergraben werden.
3. Die Richtlinien, die besagen, dass Journalisten keiner Auskunftspflicht unterliegen, müssen an die modernen Kommunikationsformen wie Mails oder SMS angepasst werden.
4. Zur Durchsetzung dieser journalistischen Schutzrechte brauchen wir ein strenges Bundesgesetz.
5. Das Justizministerium muss eine Vorschrift erlassen, die auch künftige Regierungen verpflichtet, keinen Reporter zu kriminalisieren, nur weil er seinen Job macht.
(Zusammenfassung und Übersetzung: Felix Voigt)
AP beruft sich auf den ersten Zusatz der US-Verfassung, verabschiedet im Dezember 1791:
Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof; or abridging the freedom of speech, or of the press; or the right of the people peaceably to assemble, and to petition the Government for a redress of grievances.
Der Kongress darf kein Gesetz machen, das die Einführung einer Staatsreligion zum Gegenstand hat, die freie Religionsausübung verbietet, die Rede- oder Pressefreiheit oder das Recht des Volkes einschränkt, sich friedlich zu versammeln und die Regierung um die Beseitigung von Missständen zu ersuchen.
(Übersetzung: Wikipedia)
Streitgespräch über NSU: Die FAZ-Sonntagszeitung kniff
Provinz-Zeitung aus Thüringen gegen „Qualitätszeitung“ aus Frankfurt – auf dieses Streitgespräch hatte ich mich gefreut. Zwei Redakteure, die offene Briefe geschrieben hatten, sollten sich öffentlich bei der Jahreskonferenz des Netzwerk Recherche streiten. „Da können Sie nicht Nein sagen!“, lockte mich das Netzwerk. Ich sagte spontan zu.
Es sollte um meinen Blog zum NSU-Prozess gehen, der auf einen Offenen Brief des FAS-Redakteurs Schäffer reagierte, gerichtet an das Oberlandesgericht in München. Albert Schäffer schrieb in dem Brief:
Wie soll Öffentlichkeit in einem Verfahren, in dem die Grundfeste unseres Gemeinwesens verhandelt werden, anders hergestellt werden als durch eine Berichterstattung in überregionalen Tageszeitungen und Wochenzeitungen?
Meine Antwort:
Provinzzeitungen sind für Provinzler da, wir schreiben für die Welt. Also stellt Euch in die Ecke, Ihr Lokalzeitungen und Provinz-Redakteure!
Mit Verlaub, geschätzter FAZ-Redakteur, dies ist ein Prozess für die Provinz, vor allem für die ostdeutsche Provinz. Aus Jena kommen die meisten der jungen Leute, die des Terrorismus angeklagt sind; sie sind im Osten aufgewachsen und haben in Thüringen und Sachsen ihre Unterstützer gefunden.
Dem Streitgespräch wollte sich der FAS-Redakteur laut Auskunft der Veranstalter nicht stellen. Immerhin wollte FAS-Redakteur Volker Zastrow zu einer Podiumsdiskussion kommen, musste aber in letzter Minute wegen Krankheit absagen. So kam es ersatzweise zu einer Podiumsdiskussion ohne große Kontroversen:
Hans Leyendecker von der Süddeutschen fand die Reaktionen der Journalisten übertrieben und überzogen, was das Losverfahren des Gerichts betraf. Er mahnte zudem, gerade Rahmi Turan von Sabah (Türkei), die rechtsstaatlichen Regeln des Verfahrens zu achten und für die Leser, auch in der Türkei, erkennbar zu machen – also ohne Vorverurteilung und mit Respekt vor dem Recht der Angeklagten, komplett schweigen zu dürfen.
Ulli Jentsch stellte seinen Blog NSU Watch vor, auf dem sämtliche Protokolle der Gerichts- und Ausschussverhandlungen zu finden sind. Diskussionsleiter Kuno Haberbusch (NDR) lobte diese Arbeit der freien Journalisten, die gut 200 Zuhörer applaudierten lange.
Off the record! Wenn Politiker die Bürger täuschen und Journalisten mitspielen
„Nur ein Hintergrund-Gespräch!“ „Off the record!“ „Sie dürfen mich nicht zitieren!“ So schützen sich Politiker und andere Mächtige, indem sie ihre Informationen und Botschaften öffentlich machen – und sich gleichzeitig verstecken. Im AP-Blog wird daran erinnert, dass in den meisten Demokratien explizit das Recht auf freie Veröffentlichung garantiert wird. Wenn ein Politiker nicht als Quelle einer Nachricht bekannt werden will, täuscht er die Bürger. Daraus folgert AP:
Vertraulichkeit ist nur sinnvoll, wenn der Informant um seinen Arbeitsplatz bangen muss oder gar um sein Leben. Das ist aber nur selten der Fall.
So sind AP-Mitarbeiter verpflichtet zu fragen, das Treffen als nicht-vertraulich einzustufen. Gelingt das nicht, müssen sie entscheiden, ob sie gegen die Regel verstoßen – wenn die Information wichtig und glaubwürdig ist.
So viel Freiheit gewährt der deutsche Pressekodex nicht. Er bestimmt in Ziffer 5 (Berufsgeheimnis): „Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren“ und lässt in einer Richtlinie nur als Ausnahmen zu:
Vertraulichkeit kann nur dann nicht bindend sein, wenn die Information ein Verbrechen betrifft und die Pflicht zur Anzeige besteht. Vertraulichkeit muss nicht gewahrt werden, wenn bei sorgfältiger Güter- und Interessenabwägung gewichtige staatspolitische Gründe überwiegen, insbesondere wenn die verfassungsmäßige Ordnung berührt oder gefährdet ist.
Im AP-Blog geht es zudem um die Praxis von Präsident Obama, im Weißen Haus nur seine eigenen Fotografen arbeiten zu lassen – damit nur die Fotos in die Welt rausgehen, die dem Präsidenten gefallen. AP verbreitet diese Fotos nicht.
Zudem erinnert Michael Oreskes in dem Blog an die Abhör-Affäre: Das Justizministerium ließ AP-Reporter heimlich überwachen:
The importance we place on being allowed to gather the news without interference was given a great deal of attention after it was revealed last month that the Justice Department had thrown an investigative drift net over the phone records of some of our reporters and editors to identify their sources. We protested, vehemently. As AP CEO Gary Pruitt said, this was an unprecedented intrusion and chilled our ability to gather news. The case was unusual, but our position flowed from the work we do each day to assure access to the workings of governments all around the world.
Hamburger Abendblatt mit riesiger weißer Fläche – statt Foto von Cecilia Bartoli
Die Kultur-Seite des Hamburger Abendblatt ließ in der Donnerstag-Ausgabe (6. Juni 2013) viel Raum für Notizen. Das geplante 4-spaltige Foto zur Rezension des Cecilia-Bartoli-Konzerts kam nichts ins Blatt, stattdessen gab es weißen Raum und den Hinweis:
An dieser Stelle hätten wir gern ein Konzertfoto der Sängerin gezeigt. Doch das Schweizer Management stellte unannehmbare Bedingungen: Fotos in der Pause zur Auswahl vorlegen, die nicht genehmen löschen? Darauf haben wir uns nicht eingelassen.
Fotos bearbeiten: Wieviel Manipulation darf sein?
Wie stark darf man ein Foto digital bearbeiten? Wann wird die Wahrheit eines Bildes verfälscht? Nahezu jedes Jahr wird die Debatte geführt, wenn die besten journalistischen Bilder des Jahres gekürt werden, die Worldpress-Fotos – so auch in diesem Jahr über das Foto, das einen Trauerzug in Gaza zeigt.
Auch im Blog der Nachrichtenagentur AP ist die Fotobearbeitung ein Thema; in den internen Richtlinien von AP ist festgelegt, dass geringfügige Anpassungen in Photoshop erlaubt sind. Allerdings ist verboten: Nachträgliche Änderung von Belichtung, Kontrast, Farbwerten und -sättigung, die die Aufnahme entscheidend verändert.
Wie viel Manipulation darf sich eine Lokalredaktion erlauben, zumal viele Redakteure mit Photoshop arbeiten und im Volontariat die Technik gelernt haben. Die THÜRINGER ALLGEMEINE hat in der Wochenend-Beilage ein Interview mit ihren Fotografen Marco Kneise und Alexander Volkmann geführt über ethische Grenzen bei der Bildbearbeitung:
Den Möglichkeiten zur nachträglichen Bildbearbeitung in der Digitalfotografie sind ja kaum Grenzen gesetzt. Wie aber stelle ich sicher, dass die Fotos in meiner Zeitung authentisch sind?
Volkmann: Bei uns Fotografen der Thüringer Allgemeine gilt ein strenger Kodex, wonach Bildbearbeitung nur in dem Rahmen erlaubt ist, wie er auch in der Dunkelkammer hätte gemacht werden können.
Also beispielsweise die Farbstimmung verändern?
Kneise: Ja genau. Im Fotolabor können wir – anders als bei digitalen Fotos – an dem Negativbild ja keine Details mehr verändern. Möglich ist dort allenfalls Helligkeit, Kontraste oder Farbe über die Wahl von Belichtungszeiten, Fotopapier oder Entwicklungszeiten zu verändern. Auch das so genannte Abwedeln ist im Labor möglich und damit in der digitalen Bildbearbeitung erlaubt.
Was ist Abwedeln?
Kneise: Das bezeichnet eine moderate Veränderung der Kontrastumfänge in einzelnen Bildbereichen. Wenn eine Person im Schatten vor einer hellen Lichtquelle kaum zu sehen ist, kann ich diese Person auf dem Bild sichtbarer machen, wenn ich den Bereich im Labor nicht so stark belichte wie den Rest des Bildes. Das geht natürlich auch in der digitalen Nachbearbeitung am Computer.
Mehr Veränderung ist nicht erlaubt?
Volkmann: Wenn wir bei der Thüringer Allgemeine Veränderungen an den Bildern vornehmen, die darüber hinausgehen, müssen wir das als Fotomontage oder als nachbearbeitet kenntlich machen.
Als Manipulation bekannt geworden ist ja das Bild von der winkenden Bundeskanzlerin Angela Merkel, der die Schweißflecken unter den Achseln wegretuschiert wurden. Sollte so etwas nicht doch erlaubt werden?
Kneise: Nochmal, wenn man das Bild als bearbeitet kennzeichnet, geht das in Ordnung. Aber wo würde Manipulation anfangen und wo aufhören, wenn alle möglichen begründbaren Ausnahmen zugelassen wären. Das Bild mit Achselflecken ist nun einmal die Realität. Und der Wahrheit ist der Journalismus nun einmal verpflichtet.
Zeitungen werden von Agenturen beliefert. Wie kann man sicherstellen, dass die Bilder dort nicht zuvor bearbeitet wurden?
Volkmann: Zum einen gilt solch ein Kodex auch für jede seriöse Nachrichtenagentur. Manch internationale Agentur geht sogar so weit, die stellen nur die Rohdaten der Bilder ein. Ob die Kunden dann an der Farbe, der Helligkeit oder den Kontrasten ändern, liegt dann in deren Ermessen.
Und selbst haben Sie noch nie das Bedürfnis verspürt, etwas wegzuretuschieren?
Kneise: Nein. Manchmal schießt man ein tolles Bild aus der Situation heraus. Und dann läuft im Hintergrund jemand durch das Bild. Das ist dann ärgerlich. Aber nicht zu ändern.
Volkmann: Da denkt man nicht dran. Wenn solche Manipulationen nachträglich herauskommen würden, wären sie sofort Gesprächsthema auf allen Fotografenstammtischen.
So wie das Worldpress-Foto 2012. Das soll ja auch bearbeitet worden sein.
Kneise: Ist es auch. Die Farbe und die Kontraste vor allem. Aber das ist, wie gesagt, erlaubt. Ich denke, das Bild – es zeigt einen Trauerzug durch Gaza-Stadt – wird zu Unrecht kritisiert.
THÜRINGER ALLGEMEINE, 1. Juni 2013 (Thüringen Sonntag)
NSU-Prozess: Wie viel Vorverurteilung darf sein?
Wenn die Presse die Rolle von Inquisitoren übernimmt, kennt sie keine halben Sachen
schreibt ed2murrow2 in seinem Blog „Heute schon exorziert?“ und lenkt den Blick von der Gerichts-Tombola zur Vergabe der Presseplätze auf ein zentrales Thema von Gerichtsberichten: Wie viel Vorurteilung darf sein?
Keine – das ist die korrekte Antwort. Aber dann dürften nur noch Protokolle einer Verhandlung in den Zeitungen stehen und vorab die Veröffentlichung der Anklageschrift (wobei das Zitieren daraus immer noch verboten ist) nebst Gegenrede der Verteidiger.
Jede Auswahl von Fakten, jedes Porträt eines Angeklagten oder Opfers, jede Reportage zeichnet ein Bild, das sich ins Bewusstsein der Leser brennt. Wo sind die Grenzen?
Überschritten hat sie die Bildzeitung mit der Schlagzeile „Der Teufel hat sich schick gemacht“ und den Zeilen:
Als Beate Zschäpe (38) den Saal betritt, stehen wir Journalisten auf unseren Sitzen. Einen Blick erhaschen auf den Teufel, der kurz in unsere Richtung blickt. Was ist das, das da in ihren Augen blitzt? Reue? Angst?
ed2murrow2 berichtet über den Aufmacher im Magazin von Österreich Eins – „allerdings nicht als lobende Erwähnung, sondern mit dem eigenen Statement von der ‚Vorverurteilung auf den ersten Blick'“:
In dem knapp 2 Minuten langen Feature wurden zwei weitere Beispiele angeführt:
+ Das der in Wien im vergangenen Jahr verurteilten Mörderin Estabiliz-Carranza, die sich im Gerichtssaal mit einem „kleinen grauen Kleid“ präsentiert hatte.
+ Und das der Amanda Knox, nach einem nicht rechtskräftigen Freispruch in Italien auf freien Fuß gesetzt, die mit „Engel mit den eiskalten Augen“ tituliert wurde.
Das Fazit des ORF: „Egal ob schuldig oder nicht, vorveruteilt wurde sie alle, ihre Beinamen werden sie nie wieder los.“
Erwähnt wird in dem Blog das Urteil des Bundesgerichtshofs vom März 2013, in dem die Stigmatisierung eines Angeklagten durch Medienberichte als rechtswidrig bezeichnet wird, und formuliert wird in einem Satz das eherne Prinzip eines Rechtsstaats: „Unschuldsvermutung ist keine Frage von Solidarität, sondern Prinzip einer zivilen Gesellschaft.“
Die folgende Frage des Bloggers muss jedem Journalisten allerdings peinlich sein: Könnte ein gewisses Unbehagen Kommentatoren davon abhalten, für Zschäpe die Unschuldsvermutung zu reklamieren?
ed2murrow2 ist auch ein Kenner der Philosophie-Geschichte: Er liest die „Betrachtungen über die Öffentlichkeit und Mündlichkeit der Gerechtigkeitspflege“ von Anselm von Feuerbach (1775 – 1833), in denen es – wie bei der Bildzeitung – um Teufel und Hexen geht. Feuerbach kannte noch die Prozesse der Inquisition und fragt sich, ob „es hinsichtlich der beglaubigenden Handlungen, und überhaupt räthlich sey, die Thüren blos einem auf Gerathewohl sich darbietenden Publikum zu öffnen, oder bestimmte, vom Volk zu erwählende Gerichtszeugen, in gesetzlicher Zahl, den Gerichten beizuziehen?“
Wie die Ziehung der Lottozahlen: Pressekarten zum NSU-Prozeß
Wir wischen uns die Augen und denken: Das kann doch nur Satire sein – Heute-Show, Scheibenwischer oder Neues aus der Anstalt. Die Anstalt ist ein diesmal Gericht, und die Satire läuft so:
An einem Frühlingsmorgen in München treffen sich ein Richter und eine Aufsichtsperson, gespielt vom Ex-SPD-Chef Hans-Jochen Vogel, zur Ziehung der Lottozahlen, Pardon: zur Ziehung der Pressekarten für den Neonazi-Prozess.
Eine Direktübertragung der Ziehung fand nicht statt, so dass die Frage bleibt: Sind alle Kugeln auch in die Trommel gefallen? Das ist keine abwegige Frage: Vor wenigen Wochen blieben zwei Lotto-Kugeln stecken, trotz notarieller Aufsicht. Die falschen Zahlen wurden verkündet. Ein Gewinner mit sechs Richtigen ging leer aus, weil nochmals gelost werden musste. Zum Trost kam der Gewinner groß in die Bildzeitung.
Wie beim Lotto fand auch im Münchner Gericht die Verkündigung vor laufenden Kameras statt. Man nennt so etwas ein Medien-Ereignis, wohl gemerkt: Nicht der Prozess-Auftakt, sondern die Presse-Lotterie.
So etwas kann die beste Satire nicht leisten. Das unwürdige Schauspiel fand wirklich statt – im Münchner Oberlandesgericht. Aus Ärger über ein Urteil des Verfassungsgerichts verschob das Gericht den Prozess und verordnete eine Lotterie. Dabei wäre das Verfassungsgericht schon zufrieden gewesen, hätte man drei Stühle für türkische Journalisten in den Saal 101 gestellt.
Große Medien mit internationaler Bedeutung wie die FAZ oder die „Welt“ sind durchgefallen, politisch unauffällige wie „Brigitte“ oder „Radio Lotte“ aus Weimar sind dabei. Das Gericht in München hat eine der großen Prinzipien unseres Rechtsstaats lächerlich gemacht: Die Öffentlichkeit von Gerichtsverfahren. So viel Häme hat unsere Demokratie nicht verdient.
Leitartikel der Thüringer Allgemeine für den 30. April 2013 (unredigiert)
Informantenschutz ist wichtiger als Schäubles Haushalt: Die SZ bleibt hart
„Die Presse wahrt das Berufsgeheimnis und gibt Informanten ohne deren ausdrückliche Zustimmung nicht preis. Die vereinbarte Vertraulichkeit ist grundsätzlich zu wahren“, so steht es unter Ziffer 5 im Pressekodex. Daran hält sich die Süddeutsche und schlägt die Bitte von Finanzminister Wolfgang Schäuble aus, die Daten des Offshore-Leaks staatlichen Behörden zu geben.
Die Süddeutsche schreibt auf ihrer Webseite:
Von der Pressefreiheit ist die Beschaffung der Information geschützt. Zur Pressefreiheit gehört es, dass die Informanten der Presse vom Redaktionsgeheimnis geschützt werden und geschützt bleiben. Eine Weitergabe der Daten an Ermittlungsbehörden würde diesen Schutz gefährden und weitere Recherchen in Frage stellen.
Die Presse ist kein Hilfsorgan der Polizei, der Staatsanwaltschaft oder der Steuerfahndung. Würde sie diese Rolle einnehmen, könnte sie ihren ureigenen Aufgaben – für die es das Grundrecht der Pressefreiheit gibt – nicht mehr nachkommen.
Zudem verpflichtet das „Internationalen Konsortium für investigative Journalisten (ICIJ)“ die kooperierenden Medien, Daten nicht weiterzugeben, weder an den Staat noch an andere Medien, Journalisten oder Organisationen. Das ICIJ ist Quelle der „Offshore Leaks“.
Facebook-Kommentar von Manfred Günther:
Denn dieser Informantenschutz ist auch wichtig, um das umzusetzen, was Alfred Polgar (1873-1955, östr. Schriftsteller u. Kritiker) forderte: „Die Presse hat auch die Aufgabe, das Gras zu mähen, das über etwas zu wachsen droht.
Caveman, Shitstorm und die „Stille Post“: Wenn Journalisten voneinander abschreiben
Wir sind auf eine fiktive Shitstorm-Agentur hereingefallen, wir entschuldigen uns – so die SZ in ihrem Feuilleton vom 6. April über ein Interview, das sie am 5. April veröffentlicht hatte und auch Grundlage meines Blog-Eintrags war.
In dem Interview behauptete ein offenbar tatsächlich existierender Oliver Bienkowsky, er würde gegen Geld Shitstorms organisieren; dabei würden ihm Obdachlose helfen, die falsche Profile in sozialen Netzwerken anlegten. Das sei eine Medienmanipulation.
Auf seiner Webseite schreibt „Cavemann“:
Im Gegensatz zu Unternehmen haben Gruppen am Rande der Gesellschaft keine große Lobby, die es ihnen ermöglicht, mit viel Investment große Reichweite und Aufmerksamkeit für ihre lebensbedrohlichen Anliegen zu finanzieren.
Jetzt nutzen wir unsere erprobten Mechanismen und Hebel der Medienmanipulation, um ein Thema aufzuzeigen und wieder zur Diskussion zu bringen, welches uns besonders am Herzen liegt:
Obdachlose Menschen und das grassierende Wohnungsproblem in deutschen Städten sollten noch mehr ins Tageslicht und so auf die Titelseiten gerückt werden.
Dieses Vorhaben ist uns geglückt mit einer geschickt platzierten Story, die das eigentliche Thema in satirischer Art und Weise aufgreift.
Wir gaben bekannt, dass wir fortan Obdachlosen einen Tagesaufenthalt bieten. Bei medizinischer Pflege, frischem Obst und Essen, wird die Zeit genutzt, um an Computern an der Erstellung von Facebook- und Twitter-Kommentaren zu arbeiten. Die Aussage krönten wir noch mit der Erwirtschaftung von Gold in Onlinegames wie World of Warcraft und der Betreuung von Shit- und Candystorms im Internet.
Wir bedanken uns bei allen Medienverlagen und Onlineredaktionen, das Sie dem Thema Obdachlosigkeit für kurze Zeit einen Platz in der Berichterstattung eingeräumt haben.
„Caveman“ beschreibt detailliert das Drehbuch der „Medienmanipulation“:
1. Am 07.11.2012 stellten wir auf www.caveman-werbeagentur.de/shitstormagentur die bekannte „Shitstormagentur“ Seite ins Netz. Zusätzlich reservierten wir die Domain www.shitstormagentur.de
Wir indexierten diese bei Google und waren kurze Zeit später im Google Index unter dem Begriff „Shitstormagentur“ auf Seite 1.
Parallel schalteten wir auch zu dem Suchbegriff „Shitstormagentur“ Google Adwords Anzeigen.
So lagen wir perfekt in der Google Suche, um vom einem Redakteur entdeckt zu werden. Nun legten wir uns auf die Lauer.
2. Schon im Dezember, nachdem wir diese Aktion auf unserer Facebook Fanseite promotet hatten und die Google Adwords-Anzeigen wirkten, sprangen 10-20 Personen bei Twitter und Facebook an – und berichteten über unsere Aktion.
Doch das Interesse war gering, keine Zeitung oder Onlinedienst sprang auf die Tweets und Facebook Berichte an, OBWOHL bei Twitter Tweets wie „Aktiver Image-Abbau durch die eigene Klientel: was sagen @bvdw und @wuv zum Thema: Shitstorm kaufen?! http://www.caveman-werbeagentur.de/shitstormagentur …“
herumgeisterten.
W&V hatte also schon am 21. Dezember 2012 die Möglichkeit zu berichten. Doch dieser Sturm verebbte schnell wieder. Nun mussten wir noch ein wenig länger warten.3. Als dann am 31.03.2013, ohne dass wir es vorher wussten, die ZEIT auf der ersten Seite im Feuilleton den Bericht „Nehmt es als Erfrischung“ veröffentlichte und unsere Dienstleistung nannte, startete unser Raketentriebwerk die nächste Stufe.
Dazu mussten wir nichts machen. Zuerst kontaktierte uns Telepolis / Heise Online – hier versuchten wir die IT-Security Vergangenheit und Zeitungsartikel über WLAN Sicherheit dazu zu nutzen, eine glaubhafte Story zu präsentieren. Das klappte dann auch soweit. Der Redakteur rief bei uns am 02.04.2013 an. Der Artikel erschien am 03.04.2013.
4. Jetzt ging die Sache richtig los. Am 03.04.2013 19 Uhr kopierte Focus Online die Meldung um 19 Uhr von Heise. Nach einem Telefonat mit Meedia.de folgte auch dort ein Artikel. Die in der Schweiz ansässige Werbewoche übernahm am 03.04.2013 den Bericht direkt von Meedia.de. Die Stille Post ging also immer weiter.
Am Abend des 03.04.2013 wechselten wir die Profilbilder von Oliver Bienkowski auf unserer Agenturseite, bei Twitter, Xing und Facebook gegen ein gemeinsames Satire- Foto von Martin Sonneborn (Titanic) und Oliver Bienkowski aus. Martin Sonneborn hat mit der Aktion nichts zu tun, es ist nur ein Foto das beim Besuch seiner Show Satire & Krawall in Düsseldorf entstanden ist.
5. Nun schalteten wir die nächste Raketenstufe. Unsere Behauptung am 04.04.2013:
Wir beschäftigen Obdachlose, die den ganzen Tag World of Warcraft Gold farmen, auf Facebook Profile klicken und bei Twitter Nachrichten schreiben, Shitstorms organisieren und gewitzte Kommentare hinterlassen.
Am 04.04.2013 fiel Horizont.net auf, dass erst einmal ein wenig Satire durchklingt und es ein Foto von Martin Sonneborn und Oliver Bienkowski auf der Homepage gibt.
6. An diesem Tag gaben wir auch der Süddeutschen Zeitung ein Interview, das am 05.04.2013 auf Seite 1 im Feuilleton erscheint. Gute Sache, 68.000 Euro Image und Markenwerbung gespart – so viel kostet eine Seite Werbung in der Süddeutschen Zeitung.
7. Am Abend des 04.04.2013 fuhren wir mit Gebäck und einem Schild mit der Aufschrift „580.000 Obdachlose sind eindeutig zu viel!“ zur uns bekannten Düsseldorfer Bahnhofsmission. Hier verteilten wir schon im Dezember 2012 selbst gebackene Kekse. Wir schossen das Foto vor der Bahnhofsmission.
8. Nun veröffentlichen wir in der Nacht des 05.04.2013 vor der logistischen Auslieferung aller Zeitungen die Auflösung auf unserer Homepage. Allen interessierten Lesern der Zeitungsberichte wird beim Besuch unserer Webseiten die Auflösung präsentiert.
Diese Satire wirft nicht nur einen Blick auf das Leiden der Obdachlosen, sondern auch auf die Arbeitsweise von Journalisten (dieser Blog eingeschlossen): Was „Caveman“ stille Post nennt, ist das unendliche Abschreiben ohne eigene Recherche – das durch die Online-Hektik noch zugenommen hat und vor allem im Medienjournalismus bis zum Überdruss praktiziert wird.
Die Süddeutsche brachte ihren Reinfall nicht nur als kleine Korrekturmeldung, sondern als Dreispalter auf der ersten Feuilletonseite, so als hätte sie eine Gegendarstellung am Ort die Erstveröffentlichung bringen müssen. Kompliment! Andreas Kreye endet seinen Dreispalter:
Trifft es andere, berichten auch wir davon mit Vergnügen. Nun traf es uns.
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