Alle Artikel der Rubrik "53 Was die Leser wollen"

Sollen Journalisten in der Zeitung ihr Gesicht zeigen?

Geschrieben am 13. September 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Debatte entzweit Redaktionen: Dürfen Journalisten, auch im Lokalen, bei Kommentaren ihr Porträt-Foto zeigen? Journalisten, die lange Debatten lieben, debattieren darüber mit Inbrunst, als gehe es um die Zukunft der Zeitung.

Wir spielen uns in den Vordergrund!, ist das am meisten erwähnte Argument. Wir sind nicht wichtig, es geht um die Sache, die Meinung, nicht um mich!, lautet ein ähnliches Argument. Die Leser wollen das nicht!, ist das beliebteste Hilfs-Argument, das allerdings von keiner Leserbefragung gedeckt wird.

Anton Sahlender, Leseranwalt der Mainpost (Würzburg), hält in seiner wöchentlichen Kolumne ein Plädoyer: „Mit ihren Autoren können Tageszeitungen mehr Gesicht zeigen“:

In einer Zeit, in der Absender von Botschaften in Internet-Netzwerken sich weltweit profilieren, sollten Zeitungen in lokaler Nähe mehr Gesicht zeigen – nicht alleine in Bildern zu Kommentaren oder persönlich gehaltenen Kolumnen. Einige im TV oft präsente Moderatoren genießen fast Kultstatus. Zeitungen bieten dagegen mit gesetzlich vorgeschriebenen Impressen leblose Verzeichnisse von Namen und Aufgaben.

Mit persönlichen Anmerkungen sollten aber nur stilistisch markante Artikel oder solche mit aufwendigen Recherchen verlängert werden. Geeignet erscheinen mir auch Themen, zu denen die Autorin oder der Autor einen besonderen Bezug haben, aber auch solche, bei denen sie Neuland betreten. Sie können besondere Beweggründe nennen, etwa für eine ungewöhnliche Form, in der das Thema dargestellt ist.

Manche Autoren sind sogar Teil ihres Themas. Das müssen Leser ohnehin erfahren. Sie sollten aber nicht ständig denselben Lebenslauf eines Autors geboten bekommen. Es sind Sätze, die vom Beitrag zum Autor führen, die den Inhalt weiter erschließen können.

Journalismus-Lehrer fordern vor dem Hintergrund der komplett veränderten Medienlandschaft längst mehr Transparenz für Tageszeitungsredaktionen. Über ihre Autoren können sie wiedererkennbarer und damit unverwechselbarer werden.

Gesicht zeigen ist zudem Teil einer guten Kommunikation. Inhalte bekommen eine persönliche Note, wenn neben den Quellen gleichermaßen die Autoren besser erkennbar werden. Es erhöht Glaubwürdigkeit und zeigt Streben nach Objektivität, wenn auch Subjektivität bei Journalisten offen sichtbar gemacht wird.

Der Dialog wird gefördert. Es ist leichter, einen Redakteur anzusprechen oder anzuschreiben, der zuvor selbst etwas von sich preisgegeben hat. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Der Autor solle nie wichtiger werden als der Inhalt. Journalistischen Starkult brauchen wir nicht. – Was denken Sie?

Anlass für Sahlenders Ansprache an seine Leser war ein flott geschriebener Vorschau-Text auf das Bundesliga-Derby zwischen Bayern München und dem 1. FC Nürnberg, unter dem der Autor mit Bild zu sehen war.

Was Leser fragen: Apostrophen, Anwälte und der Viadukt

Geschrieben am 23. August 2013 von Paul-Josef Raue.

B. B. aus Weimar arbeitet auch als Korrektorin und ärgert sich über den falschen Apostrophen in unserer Zeitung. Worum geht’s: Wenn in einem Wort ein oder mehrere Buchstaben ausgelassen werden, setzen wir einen Beistrich –wie eben in „geht’s“:

„Ich weiß nicht, ob man hier der Technik die Schuld in die Schuhe schieben kann, denn in der Online-Version stellt sich der Apostroph völlig unauffällig dar.
In der Druckversion jedoch verkommt der Apostroph zu einem einfachen Ausführungszeichen: Er wird regelmäßig falsch herum gedruckt.“

Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:

Sie haben Recht, wir werden es ändern: Der korrekte Apostroph ist ein Bogen der sich von rechts oben nach links unten neigt.

Bei Mails kommt in der Tat meist ein einfacher Strich zum Vorschein. Aber auf gedruckten Seiten, ob im Buch oder der Zeitung, sollten wir die Kultur der Schrift, die Typografie, in Ehren halten.

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D. K. aus Friedrichroda fragt:
Wer bezahlt die Gelder für die Anwälte im Zschäpe-Prozess?

Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:

Der Angeklagte bezahlt seine Verteidiger. Wird er freigesprochen, zahlt der Staat, weil er folgenlos angeklagt und den Prozess provoziert hatte. Fehlt den Angeklagten das Geld, wie wohl im Zschäpe-Prozess, zahlt auch der Staat, weil er allen Bürgern die gleichen Chancen in der Verteidigung bieten muss – unabhängig ob einer reich ist oder arm.

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F.K. aus Eisenach kritisiert das Geschlecht des Viadukts: „Das historische Viadukt in Angelroda“ schrieben wir im Thüringenteil. „Laut Fremdwörterbuch ist ein Viadukt männlich und nicht sächlich.“

Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:

Sie haben Recht, Herr Kalkbrennen. Der Viadukt ist die korrekte Form, aber – wie so oft – lässt der Duden auch das Viadukt gleichberechtigt zu.
Über Jahrhunderte war die hohe Brücke über ein Tal männlich, abgeleitet aus dem lateinischen Wort „aquaeductus“, das auch ein männliches Geschlecht hat. Aber ein Wort muss nur lange genug falsch gebraucht werden, dann lenkt der Duden ein.


Thüringer Allgemeine
, Samstagskolumne „Leser fragen“, 24. August 2013

Wie lange darf man ein Thema zum Aufmacher treiben?

Geschrieben am 3. August 2013 von Paul-Josef Raue.

Die Frage kennen Redaktionen: Können wir das Thema am dritten Tag immer noch als Aufmacher bringen?

In Thüringen wechselt der Regierungssprecher als Vorstand zu einer Internet-Firma. Er kündigt nicht seinen Job in der Regierung, sondern bekommt von der Ministerpräsidenten den goldenen Handschlag – also viel Geld bis ins hohe Alter.

Ein Leser aus Sondershausen schreibt an die Thüringer Allgemeine (TA):

Was ist mit der TA los? Zum dritten Mal in dieser Woche wird auf der Titelseite der TA die Provinzposse mit Herrn Zimmermann wiedergekäut.

Gibt es nichts Wichtigeres und/oder Besseres zu berichten? Dieser Gaul ist doch schon sowas von tot geritten, töter geht nicht (extra für Sie als Liebhaber der deutschen Sprache).

Es ist ja schön, wenn die Redakteure Luther beherzigen und „den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie (was) sie reden“, aber ich bezweifle, ob die Leser dies zu würdigen wissen. Mal abgesehen davon, dass diese Berichterstattung meiner Meinung nach die Politikverdrossenheit massiv fördert.

(Ironie ein) Wenn meine Frau nicht gern den Hägar läse, hätte ich womöglich die TA schon abbestellt (Ironie aus). Mir ist zwar klar, dass die vielen Seiten der TA täglich irgendwie „gefüllt“ werden müssen und Redakteure auch nur Menschen sind, aber die ständigen Wiederholungen sind eine Beleidigung jedes denkenden Menschen und nerven.

In seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Provinzposse? Provinz: Ja – wir leben in Thüringen, wir leben gerne hier, wir schämen uns nicht. Posse? Nein – wir haben die Arroganz der Macht an einem Beispiel offenbart; wir haben der Regierung klar gemacht, wie das Volk, das sie vertritt, denkt; wir haben den Mächtigen gezeigt, dass in einer Demokratie Kontrolle wichtig ist – und wir, die Journalisten, sie ernsthaft ausüben.

Die Aufmacher zur Zimmermann-Affäre waren auch keine Wiederholungen. Das Drama hatte, wie in der griechischen Tragödie, drei Akte:

> Der Jammer am ersten Tag: Was ist passiert?

>Der Schrecken am zweiten Tag: Droht eine Katastrophe?

> Am dritten Tag die Lösung, die „Katharsis“: die Reinigung.

Oder glauben Sie, Herr Schwartz, dass eine Regierung schwach wird – wenn wir einmal berichten und dann „Wichtigeres“ auf die erste Seite heben? Ermuntern sie die Mächtigen nicht, durch Schweigen, Halbwahrheiten und Aussitzen die Probleme in ihrem Sinne zu lösen?

„Provinzposse“ – so sähen es die Mächtigen gerne. Wir, die Redakteure, sehen es anders. Durch unsere Kontrolle der Macht fördern wir keine Politikverdrossenheit, sondern zeigen, wie stark eine Demokratie ist – in der Kontrolle funktioniert.

Thüringer Allgemeine 3. August 2013

Wie viele Lokalredakteure beherrschen ein Tablet?

Geschrieben am 15. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Der Vertrieb muss sich umstellen, wenn immer mehr Leser auf dem Tablet statt auf Papier lesen wollen. „Das hat neue Bewegung in die Vertriebsabteilung gebracht“, sagt Iris Bode, Vertriebschefin der Welt-Gruppe,in einem nb-Interview und erläutert:

Wir betreuen Neukunden, die digitale Produkte bestellen und dann Fragen zur Registrierung haben. Printlesern erklären wir das digitale Angebot… Das bedeutet natürlich eine große Umstellung für den Kundenservice, der bisher vor allem Lieferunterbrechungen oder Reklamationen im Printgeschäft bearbeitet hat. Heute müssen die Mitarbeiter im Vertrieb und im Service selbstverständlich alle Endgeräte beherrschen.

Und wie selbstverständlich ist das in Redaktionen? Wie viele Redakteure in Lokalredaktionen beherrschen wenigstens ein Gerät? Wer kann schnell und gut Texte und Bilder online stellen? Wer antwortet auf Tweets der Leser, auch schnell und kompetent?

Quelle: New Business, 15.Juli 2013 „Ein spannender Prozess“

Zeitung ist für die Bürger da – und nicht Bürger für die Zeitung

Geschrieben am 14. Juli 2013 von Paul-Josef Raue.

Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.
Markus, 2. Buch, Vers 27

Dies ist der Urtext des Respekts, er gilt für alles Denken und Handeln, das den Menschen ins Zentrum stellt und nicht Regeln, Gesetze und Ideologien, auch nicht Politiker, Gurus und Journalisten. Die biblische Geschichte erzählt von hungrigen Jüngern und Pharisäern: Die einen rupfen Ähren aus, um die Körner zu essen; die anderen verweisen auf das Gesetz Moses, am Sabbat prinzipiell nichts zu tun.

Man muss nicht gläubig sein, um den uralten Satz immer wieder zu nutzen:

+ Der Staat ist für die Bürger da, und nicht der Bürger für den Staat (beispielsweise in der Debatte um die Überwachung der Bürger).
+ Der Journalist ist für die Leser da, und nicht Leser für den Journalisten (beispielsweise in der Debatte, ob Redaktionen die Wünsche ihrer Leser zu erfüllen haben).

Der Mensch im Zentrum, der Bürger im Zentrum, der Leser im Zentrum – das ist die Idee der Demokratie, die Idee des Journalismus in der Demokratie. Eine Aufforderung zur Anarchie ist sie nicht: Es geht nicht darum, alle Regeln zu brechen; es geht darum, Regeln nicht absolut zu setzen.

„Frau Zschäpe ist schwanger“ oder: Wie Leser auf den NSU-Prozess reagieren

Geschrieben am 29. Juni 2013 von Paul-Josef Raue.

„NSU-Berichte provozieren Leser. Chefredakteur der Thüringer Allgemeine bringt Abonnenten gegen sein Blatt auf“, schreibt Jens Twiehaus im Kress-Report. Er folgt einer Podiumsdiskussion bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche in Hamburg und einem Gespräch mit mir.

Die Überschrift ist zwar ein wenig reißerisch, denn es geht um 30 oder 40 Leserbriefe mit Reaktionen wie: „Wir wollen nicht jeden Tag das Gesicht von Beate Zschäpe sehen“ und „Wir haben doch nichts mit den Nazis zu tun.“ Dennoch haben einige Leser Schwierigkeiten mit dem NSU-Prozess. Ein typischer Leserbrief ist heute (29. Juni) in der Thüringer Allgemeine zu lesen:

Die Wahrheit fällt nicht vom Himmel

Dr. Hans Weigel aus Mühlhausen schreibt zum Artikel: „Post von Zschäpe an einen Dortmunder Häftling abgefangen“ (TA vom 14. Juni):

Ich hatte mir geschworen, keine Kommentare zu diesem unsäglichen Geheimdienst- und Prozess- Vor – (oder besser „Ver“) gehen abzugeben. Diese Meldung übersteigt jedoch alle Vorstellungen, die Frau Zschäpe bisher geliefert hat. Nicht nur, dass sie entsprechend der von ihr gelieferten Modenschau eine „Haft-Suite“ haben muss, nein, sie hat ausreichend Briefpapier (die Briefmarken stellte sicher die Haftanstalt zur Verfügung).

Man entschuldigt sich sozusagen noch, dass man einen 1 bis 1,5 cm dicken Brief an einen auswärts einsitzenden Verbrecher geöffnet hat. Wie nobel, wo doch die CIA alle unsere Telefongespräche ohne Entschuldigung abhören darf.

Jetzt warte ich jedenfalls nur noch auf die Zeitungsmeldung „Frau Zschäpe ist schwanger“, und keiner weiß, wie das geschehen konnte.

Der Brief steht in der Samstags-Kolumne „Leser fragen“, in der der Chefredakteur auf Leserbriefe antwortet:

Sehr geehrter Herr Weigel,

Sie sprechen wahrscheinlich für nicht wenige Leser. Ähnlich lautende Briefe stapeln sich auf meinem Schreibtisch.

Dennoch: In einem Rechtstaat gilt die Unschuldsvermutung. Bevor die Richter ihr Urteil nicht gesprochen haben, müssen alle, die Verantwortung tragen, von der Unschuld der Angeklagten ausgehen.

Das gilt auch für uns Journalisten: Es ist nicht Aufgabe von Zeitungen, Vorurteile zu bestätigen; wir haben zu zeigen und zu kontrollieren, wie ein Urteil entsteht. Nur so werden aus Vorurteilen, die von Gefühlen überwuchert sind, vernünftige Urteile.

Ein solch schwerer und komplizierter Prozess, in dem die Angeklagte schweigt – was ihr gutes Recht ist -, ein solcher Prozess, der ein Jahr dauern wird, ist zäh und ermüdend. Dennoch berichten wir ausführlich, um der Wahrheit nahe zu kommen. Wir brauchen Geduld, wir brauchen Zeit, weil die Wahrheit nicht vom Himmel fällt.

Über hundert Artikel sind in unserer Zeitung schon erschienen, noch viel mehr im Internet; die Zahl wird bis zur Verkündung des Urteils, wahrscheinlich im Sommer nächsten Jahres, erheblich wachsen.

In diesen Berichten erfahren wir auch viel über uns, über die Gesellschaft, in der das NSU-Trio aufgewachsen ist, und über das Milieu, in dem die braunen Gedanken, die Abneigung gegen Fremde wachsen konnten ebenso wie die Entscheidungen für den Terror. Darüber werden wir gemeinsam diskutieren müssen: Was hat die NSU, was hat der Prozess mit uns zu tun?

Verdrängen hilft nicht.

Und mit Verlaub, sehr geehrter Herr Weigel, eingesperrt zu sein, ist schlimm genug. Einem Menschen, der den Himmel nicht mehr sehen darf, keine Briefmarken mehr zu gönnen, ist – sagen wir: gar nicht nett.

Auf dem Podium Netzwerk Recherche wie im Kresshabe ich den Kommentar unseres Gerichtsreporters Martin Debes zitiert, der die heftigsten Reaktionen ausgelöst hatte:

Im Schwurgerichtssaal A101 sitzt auch Thüringen, auf der Anklagebank, weil dies nun einmal das Land ist, aus dem die Täter kommen.

Ein Thema ist auch der Hochmut einiger westdeutscher Beobachter, den ich auf dem Hamburger Podium angesprochen habe: „Wir sind bisweilen etwas verwundert, wie westdeutsche Zeitungen über den NSU schreiben und das Fernsehen berichtet. Es schwingt häufig im Unterton ein ,Das musste ja im Osten passieren‘ mit.“

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