Alle Artikel der Rubrik "53 Was die Leser wollen"
Wer mit Lesern spricht, die Wut-Briefe schreiben und Pegida loben, der ist überrascht, wie wenige dem Klischee des Neonazis entsprechen. Aber sie mögen die Medien nicht, weil sie mit den Mächtigen unter einer Decke mauscheln, weil sie nicht die Wahrheit schreiben, sagen sie.
Mich erstaunt immer wieder, wie viele von denen, die wütende Briefe schreiben, die Zeitung lesen – trotzdem. Wir sollten mit ihnen sprechen. Dirk Lübke, der Chefredakteur des Mannheimer Morgen, hat nach dem Petry-Schießbefehl-Interview viele Wut-Briefe bekommen: Sie sind nicht objektiv! Er schreibt sie alle an und lädt sie ein zum Gespräch. Kommt jemand? Oder einige? viele?
Wahrscheinlich kommt keiner: Die Redaktion ist fremdes, vielleicht sogar feindliches Terrain. Wahrscheinlich ist es sinnvoller, zu den Leser zu gehen – Hausbesuche.
So hat es die Süddeutsche Zeitung getan, einige von den Wütenden besucht, in München und Dresden. Sie haben den Redakteur eingeladen: Bernd Kastner, der Reporter, reiste an, in Dresden kamen vier Freunde hinzu, es gab Sächsische Eierschecke.
Ein Finanzdienstler hatte aus seiner Firma gemailt:
Ihr Knallchargen von der vierten Gewalt, die Ihr noch nie den Koran gelesen habt! Ich persönlich würde sogar bewaffnete Gewalt gegen den Münchner Moscheeneubau begrüßen.
Er hat tatsächlich „Ihr“ groß geschrieben, aber bei Anruf legte er auf.
„Pegida ist eine Gedankenwelt“, schreibt Kastner. Aber zuerst ist sie eine wirkliche Welt. In München freut sich eine 79-jährige: Jederzeit – nur am Montag und Donnerstag gehe es nicht „Da gebe ich Migranten Deutschunterricht.“
In Dresden stehen Tucholsky und Kisch im Bücherregal, auf dem Boden liegt ein Stapel der Sächsischen Zeitung. Ihren Namen wollen die Dresdner nicht lesen, sie bekommen ein Pseudonym. „Man wisse ja nie bei der Presse.“ Der 44jährige ist promovierter Diplom-Ingenieur, ein anderer Besitzer einer Autowerkstatt im Erzgebirge.
Man debattiert, der Reporter stellt klar, was an den Gerüchten nicht stimmt. Fast alles stimmt nicht:
- Die vier Frauen eines Muslims bekommen alle eine Rente, wenn er gestorben ist? Ja, aber jede nur ein Viertel.
- Der Staat zahlt den Flüchtlingen die Handy-Gebühr? Jeder bekommt ein Taschengeld, so wie es das Gesetz bestimmt, und damit kann er machen, was er will.
- In München kann man abends nicht mehr mit der U-Bahn fahren? München ist die sicherste Großstadt, obwohl hier mehr Migranten leben als in Berlin.
Dem Reporter fällt Karl Valentin ein: „Jedes Ding hat drei Seiten, eine positive, eine negative und eine komische.“
Jutta Wölk in München will kein Pseudonym, sie lässt sich fotografieren und erzählt, dass sie jeden Tag stundenlang liest, die Welt, die Jüdische Allgemeine, die Süddeutsche.Der Reporter notiert:
„Die SZ sei auch Teil des Schweigekartells, das Anweisungen der Politik befolge. Wie, Frau Wölk, stellen Sie sich das vor? „Da ruft der Seehofer an, die Frau Merkel, und sagt: Das wird nicht gedruckt. So einfach.“ So einfach? „Ich bin überzeugt, dass es so läuft.“ Tatsächlich? „Wie soll ich Ihnen das erklären? Natürlich rufen die nicht selbst an, sie lassen anrufen.“ Woher wissen Sie das? „Natürlich habe ich keinen Beleg dafür.“ Warum dann dieser Vorwurf? „Mir gefällt einfach die Haltung der SZ zur Flüchtlingspolitik nicht.“
Frau Wölks Lippen beginnen zu zittern. „Parallelgesellschaft“, ruft sie, „warum kann man das nicht einfach schreiben?“ Warum sind auf den Fotos in den Medien so oft Flüchtlingsfamilien, so oft Kinder? Es seien doch viel mehr alleinstehende Männer gekommen. Jetzt beben die Lippen.
Frau Wölk hat Angst, sie sagt, fremdenfeindlich sei sie nicht, nur skeptisch; sie beklagt, dass die Medien pauschalieren, pauschaliert selber und sagt: „Gefühle lassen sich nicht so einfach beseitigen.“ Und als der Reporter sie beim Herausgehen fragt, ob sie die Süddeutsche abonniert habe, wundert sich Frau Wölk: „Selbstverständlich.“
Wie wohl die Leser in Dresden und in München die Seite-Drei-Reportage des Reporters beurteilen? Objektiv? Herablassend? Belehrend? Wir könnten von ihnen lernen, wenn wir es wüssten.
**
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 10. Februar, Seite 3, „Hausbesuch“
Bei der Wahl der „Journalisten des Jahres“ werden die beachtet, die aus dem Fernsehen bekannt sind wie Anja Reschke oder Oliver Welke. Sie haben die Auszeichnung zu Recht erhalten – ebenso wie Hans Leyendecker von der Süddeutschen, der bescheidene Star unter den investigativen Rechercheuren, für sein Lebenswerk. Aber da ist auch noch Uwe Vetterick, Sächsische Zeitung, der Chefredakteur des Jahres bei den regionalen Tageszeitungen. Diese Ehrung wird überregional wohl wieder untergehen:
Wer ist Uwe Vetterick? In der Tat wohl der beste deutsche Chefredakteur, dessen Laufbahn so faszinierend ist wie die Zeitung, die er macht und die dank seiner Strategien und Ideen zu einer großen wurde – nicht nur im Osten Deutschlands.
Uwe Vetterick ist Ostdeutscher und begann seine Karriere als Zwanzigjähriger in der Wende: Eine beneidenswerte Startposition!
Ich bin Journalist geworden, weil mich ein Verleger und ein Chefredakteur im Frühjahr 1990 zu einem Praktikum überredet haben
schreibt er, in der ihm eigenen Bescheidenheit, im Online-Portal der Sächsischen Zeitung
Er begann bei dem in der Wende neu gegründeten Greifswälder Tageblatt, für das Unternehmer aus dem Oldenburger Münsterland ihr Geld gegeben hatten. Es war eine phantastische Wende-Zeitung, die 1990 als erste ostdeutsche den Deutschen Lokaljournalismus-Preis bekam – in dem Jahr, als Vetterick als Volontär begonnen hat.
Der Preis begleitete Vetterick: Als Chefredakteur der Sächsischen Zeitung holte er ihn 2013 nach Dresden für den „SZ-Famlienkompass“, für eine Serie mit 400 Artikeln: Wie glücklich sind die Familien in den sächsischen Städten? Was ist gut? Was fehlt?
Vetterick wird wohl ein Abonnent dieses Preises werden. Seine erste Zeitung überlebte den Preis und die ersten Jahre nicht: Die erst gelungene, dann schreckliche Geschichte des Greifswälder Tageblatts lohnt, einmal aufgeschrieben zu werden.
Für Vetterick war sie ein guter Start, wie übrigens auch für Frank Pergande, der bei der FAZ eine beeindruckende Karriere gemacht hat.
Vetterick stieg steil auf, wurde stellvertretender Chefredakteur bei Bild und verantwortlich für den Osten (in dem Bild nie Fuß fassen konnte), ging für ein Jahr als Vize-Chefredakteur zum Tagesanzeiger in die Schweiz – als einer der ersten Deutschen; heute leitet mit Wolfgang Büchner, dem Ex-Spiegel– und dpa-Chef, ein Deutscher die Blick-Gruppe, der sich mit Michael Ludewig von dpa eine Art Super-Deskchef geholt hat.
Stellvertretende Chefredakteure von Bild werden gute Chefredakteure bei Regionalzeitungen: Es gibt einige Beispiele, die herausragenden sind Uwe Vetterick und Sven Goesmann, der die Rheinische Post wieder in Schwung gebracht hatte und nun bei dpa reüssiert, nicht nur weil er gerade drei Frauen in die Chefredaktion berufen hat.
Wie kam Vetterick aus der Schweiz zur Sächsischen Zeitung:
Ein Anruf des damaligen Geschäftsführers, zwei gemeinsame Essen (einmal Frühstück, einmal Brunch), ein ungewöhnliches Gespräch. Das war’s.
In Dresden spielt Uwe Vetterick seine entscheidende Stärke aus: Er ist Stratege, der Kopf der Redaktion, der mehr Ideen hat als der Verlag je umsetzen kann, der aber auch Ideen seiner Redakteure zulässt, der ermutigt, vorantreibt und bei Flops nicht die Peitsche schwingt, sondern gleich das nächste Projekt aus den Ruinen des alten auferstehen lässt. So nahm zwar vor wenigen Wochen der Verlag die Wochenzeitung AuSZeit nach einem Jahr vom Markt, weil nur tausend Exemplare verkauft wurden, aber Neues aus der Vetterick-Werkstatt wird sicher folgen.
Er besitzt das Vertrauen von Julia Jäckel, der Chefin von Gruner+Jahr, die weiß, dass Vetterick die SZ zu einer Zeitung gemacht hat, die man nicht mehr verkaufen will – und auch nicht verkaufen muss, weil Erfolg das beste Argument ist.
Vetterick nutzt intensiv die eigene Leser-Forschung: „Lesewert“: Er weiß genau, was seine Leser wirklich lesen und richtet nach den Bedürfnissen der Leser seine Zeitung aus – wohl wissend, dass selbst eine kontinuierliche Leserforschung nur das messen kann, was in der Zeitung steht. Für das Neue, das Experiment, das Überraschende ist er verantwortlich. So antwortet er auch auf die Frage, was er an seinem Job mag: „Geschichten erzählen, Blattmachen, Menschen überraschen.“
Und da ein Chefredakteur kaum mehr zu eigenen Recherchen und großen Geschichten eine Zeit findet, geht die Antwort auf die Frage nach seiner besten Story in die Greifswälder Zeit zurück:
Sie ging kurz erzählt so. Ein Mann, Mitte 50, verliert durch Krankheit seine geliebte Frau. Eine Frau, Mitte 50, verliert durch Krankheit ihren geliebten Mann. Durch Zufall werden beide nebeneinander begraben. Zufällig auch treffen sich bei der Grabpflege Witwe und Witwer und verlieben sich ineinander. Die Geschichte erschien zu einem Totensonntag. Selbst aus großem Leid kann neues Glück wachsen.
Pegida ist für Dresden ein Unglück, für Vetterick bringt sie die Auszeichnung als Journalist des Jahres. Er hätte sie auch ohne Pegida verdient gehabt – aber wer schaut schon genau in die Provinz hinein?
So bezieht sich die Jury-Begründung auch auf die Pegida-Berichterstattung:
Uwe Vetterick und seine Redaktion erleben vor Ort Tag für Tag, was es heißt, wenn die Stimmung im Land kippt. Seit Ende 2014 werden jeden Montag ,Lügenpresse‘- Parolen direkt vor der Dresdner Verlagstür skandiert. Die Berichterstattung über die politische Stimmung und Spaltung ist eine permanente Gratwanderung. Er muss seine angefeindete Redaktion auf Kurs halten und motivieren. ,Rückendeckung von oben‘ ist täglich nötig und wird von Vetterick gegeben. Zugleich treibt er redaktionelle Innovationen voran (z. B. das Onlineportal Schul-Navigator). Bester Lokaljournalismus unter widrigsten Bedingungen: Das verdient hohe Anerkennung.
Auch den SZ-Reporter Ulrich Wolf ehrt die Jury:
2015 war das Jahr, in dem Dresden nicht mehr als Elbflorenz glänzte, sondern zur Pegida-Stadt wurde. Ulrich Wolf hat Recherche dagegen gesetzt – und u.a. Lutz Bachmanns kriminelle Machenschaften aufgedeckt. Und er hat sich jeden Montag aufs Neue zwischen die Demonstranten gestellt – trotz unmittelbarer Drohungen gegen ihn persönlich. Er ist der Journalist Deutschlands, der sich am längsten und intensivsten mit dem Thema Pegida beschäftigt und von dessen Recherchen viele nationale Medien profitieren.
Wer fragt, wie ein Chefredakteur das alles leisten kann, der schaue auf die Online-Seiten der SZ, wo Vetterick seinen typischen Arbeitstag beschreibt – mit gerade mal dreißig Minuten Pause zwischen 8.30 und 21 Uhr:
08.30 – 10.30 Uhr Zeitungslektüre, Agenturen checken, Kaffee trinken
10.30 – 11.00 Uhr Konferenz mit den newsgetriebenen Ressorts und Onlinern
11.00 – 12.00 Uhr Verwaltungskram
12.00 – 13.00 Uhr große Redaktionskonferenz
13.00 – 13.30 Uhr Lunch
13.30 – 14.30 Uhr neue Redaktionsprojekte besprechen und entwickeln
14.30 – 21.00 Uhr Blattmachen
Herzlichen Glückwunsch, Uwe Vetterick!
Die Flüchtlinge sind das Top-Thema der deutschen Facebook-Nutzer in diesem Jahr. Weltweit steht dagegen das Vorspiel zur US-Präsidenten-Wahl vorn: Kandidiert Hillary Clinton? oder kandidiert sie nicht? Was hat sich Trump als nächste Dummheit ausgedacht?
Dies Thema schaffte es in Deutschland nicht einmal in die Liste der Top 10 ebenso wenig wie das Erdbeben in Nepal (weltweit Platz 4), die Ehe von Homosexuellen (Platz 6), der Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris (Platz 8) und die wieder aufgeflammten Rassenunruhen in der USA: Proteste in Baltimore nach dem Tod des 25-jährigen Freddie Gray im Polizeigefängnis (Platz 9) und der Amoklauf von Charleston, nachdem ein Rassist neun Menschen in der Emanuel-Kirche ermordet hatte (Platz 10)
Das sind die deutschen Themen, die weltweit dagegen wenig interessierten: Die Wahlen in der Türkei (Platz 4), die Bahn- und Lufthansa-Streiks (Platz 7), die Ukraine (Platz 8), Fußball: DFB-Pokal (Platz 9) und der Absturz der German-Wings-Maschine im März (Platz 10).
Neben den Flüchtlingen, dem Krieg in Syrien und dem Krieg gegen den IS gibt es nur zwei Themen, die in Deutschland und der Welt gleichermaßen interessieren: Die griechische Schuldenkrise (Platz 2 in Deutschland, Platz 5 weltweit) und die Anschläge in Paris ( Platz 6 in Deutschland, 2 weltweit).
Welche Artikel faszinierten die Online-Leser der New York Times am meisten? Mit welchen Reportagen und Nachrichten verbrachten sie meiste Zeit? Vorne liegt in diesem Jahr eine Liebes-Geschichte – mit 36 Fragen zur Liebe „No. 37: Big Wedding or Small? / Quiz: The 36 Questions That Lead to Love“
Die Leser verbrachten rund 900.000 Stunden in dieser Geschichte. Die 36 Fragen hat der Psychologe Arthur Aron entworfen. Sie sind in drei Kapiteln versammelt. Einige Beispiele zu Kapitel 1:
- Wen in der Welt wünschst Du Dir als Dinner-Gast?
- Möchtest Du berühmt sein? Und wie?
- Überlegst Du vor einem Telefonat, was Du sagen möchtest? Warum?
- Was bedeutet für Dich ein perfekter Tag?
Beispiele aus dem Kapitel 2:
- Wenn eine Kristallkugel die Wahrheit über Dich preisgibt, über Dein Leben, die Zukunft oder anderes mehr: Was möchtest Du wissen?
- Wenn es etwas zu tun gibt, wovon Du schon lange träumst: Warum hast Du es nicht getan?
- Was ist die größte Leistung Deines Lebens?
- Was schätzt Du am meisten in einer Freundschaft?
Beispiele aus Kapitel 3:
- Wann hast Du das letzte Mal geweint vor einem anderen Menschen? Und allein?
- Was ist zu ernst, um darüber einen Scherz zu machen?
- Wenn Du heute Abend stirbst ohne Möglichkeit, mit irgendjemanden zu sprechen: Was bedauerst Du, nie jemandem erzählt zu haben? Und warum hast Du es bis heute nicht erzählt?
- Dein Haus brennt. Wenn Du alles Persönliche gerettet hast, hast Du die Chance, noch etwas zu retten: Was wäre es? Und warum?
Auf dem vierten Rang der am längsten gelesenen Geschichten ist noch eine Liebes-Geschichte: Mandy Len Catron, Schreibtrainerin an der Universität in Vancouver, erzählt, wie sie sich verliebte:
„Vor mehr als zwanzig Jahren hatte der Psychologe Arthur Aron (das ist der Wissenschaftler der 36 Liebes-Fragen) Erfolg damit, dass sich zwei Fremde in seinem Labor verliebten. Im letzten Sommer wandte ich dieselbe Technik für mein eigenes Leben an…“ Die Geschichte endet wenig romantisch: „Liebe überfiel uns nicht. Wir haben uns verliebt, weil wir uns beide für die Liebe entschieden haben.“
Catron arbeitet, wie der Autorenhinweis preisgibt, an einem Buch über die Gefahren von Liebesgeschichten.
Die Liste der 50 am intensivsten gelesenen Artikel ist eine Mischung aus ambitionierten Investigativ-Projekte (wie „Inside Amazon“, die Arbeitswelt des Versand-Giganten – Platz 3), großen aktuellen Nachrichten (German Wings-Absturz auf Platz 11 und 30) und Service (wie das Liebes-Quiz); dabei sind die großen Themen wie Rassismus (Massaker in der Emanuel- Kirche von Charleston, Platz 21) und Terrorismus (Anschläge in Paris auf Platz 18)– aber auch die Geschichte von George Bell: Ein einsamer Mann, der einsam starb (Platz 8)
**
Quelle:
http://www.nytimes.com/interactive/2015/12/09/upshot/top-stories.html?_r=1
„Für Einordnung und Analyse bezahlen die Menschen gern“ ermittelt der Blendle-Redakteur Michael Jarjour nach den Anschlägen in Paris. Blendle ist ein niederländisches Online-Unternehmen, in dem Nutzer seit einigen Wochen in den großen Zeitungen und Magazinen und einigen Regionalzeitungen blättern und Artikel auswählen können; für den Abruf kompletter Artikel zahlen sie.
„Einordnung und Analyse“ überrascht nicht, auch nicht dass Anschläge, Katastrophen, Kriege und Groß-Ereignisse das Interesse an Informationen stark steigern. Das überrascht schon eher: An der Spitze der meistgekauften Artikel stehen Kommentare – von bekannten Autoren wie FAZ-Herausgeber Berthold Kohler (Platz 1), Springer-Chef Mathias Döpfner. (Platz 2) oder Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart (Platz 7).
Hinter den Kommentaren folgen Analysen aus der FAZ, SZ und Neuen-Zürcher-Zeitung (NZZ – mit dem Interview eines Islamwissenschaftlers: „Alle können ein direktes Ziel werden“) sowie der Magazine Zeit, Spiegel und Cicero.
Für aktuelle Nachrichten, die überall kostenlos zu bekommen sind, zahlen die Leser offenbar nicht. Also zahlen die Leser, wenn es ein Ereignis gibt, das die Menschen verstehen wollen; sie zahlen für Meinungen von bekannten Medien und Autoren; und sie zahlen für ausführliche und schnelle Analysen.
**
Quelle: Meedia.de, 23. November
Die Anschläge auf Paris zeigen nicht einen Erfolg für den „Islamischen Staat“, sondern sind ein Indiz für seine Niederlage: Er verliert immer mehr Städte, Schlachten und Führer und somit an Attraktivität für mögliche Anhänger. So schreibt Bernard Haykel, Professor für Studien des Nahen Ostens an der Princeton-Universität. Die Propaganda im Al Bayan-Radio „erinnert an die Radio-Propaganda der Nazis oder Sowjets – weiter, vorwärts, kein Rückzug, keine Kapitulation. Dem IS fehlt es nicht nur am Selbstbewusstsein, die Wahrheit zu vermelden. Für einen selbsterklärten Staat von Gottes Gnaden kann es nur Siege geben, niemals Niederlagen. Da liegt die Achillesferse des IS, denn mit Verlusten verliert er an Reiz.“
Die Analyse, eine der besten zum IS – ob man sie teilt oder nicht -, steht nicht vorne in der SZ, weder auf Seite 2 oder 3 oder auf den Politik-Seiten, sondern als Aufmacher im Feuilleton. Folgt die SZ allmählich der Schirrmacher-Strategie, der das Feuilleton der FAZ zur Zeitung in der Zeitung verwandelte? Oder lösen sich langsam die Ressorts auf: Alles ist alles? Der Sport ist Wirtschaft, die Wirtschaft ist Politik, und die Politik ist Feuilleton?
In der Tat ist die Welt nicht mehr so leicht in Schubladen zu stecken wie vor einigen Jahrzehnten. Aber der Leser ist eine Ordnung gewohnt, die sich in den traditionellen Ressorts spiegelt, er sucht seine bevorzugten Orte in der Zeitung, die er am liebsten eher dünner als dicker wünscht, eben übersichtlicher angesichts der immer kürzeren Lese-Zeit. Der Leser will nicht suchen, sondern lesen; er will nicht in der Zeitung herumirren, sondern schnell das finden, was ihn interessiert. Das spricht übrigens nicht gegen die eine oder andere Überraschung in der Zeitung: Ist das vielleicht die IS-Analyse im Feuilleton?
Journalisten schreiben nur selten ihre eigene Geschichte. Manche, die prominent genug sind, schreiben ihre Geschichten auf, die sie ihr Leben nennen; das kann durchaus lesenswert sein wie zuletzt bei Wolf Schneider, dessen Memoiren sich aber nicht so gut verkaufen wie seine Sprachbibeln. Schade: Ob’s am Titel liegt „Hottentotten Stottertrottel“?
Schön sind Kolumnen, wenn Journalisten aus alten, fern erscheinenden Zeiten erzählen, zum Beispiel von der Abwehr in Redaktionen, den Kommentar oder ein anderes feines Stück mit dem Porträt des Autors zu versehen: „Selbstbeweihräucherung! Pure Eitelkeit! Eines guten Journalisten unwürdig! Dann kann man ja gleich ins Fernsehen gehen!“
Ich habe Redakteure erlebt, die lieber wochenlang keinen Kommentar mehr geschrieben haben, als mit Bild in die Zeitung zu kommen; zudem pochten sie auf ihr Recht am eigenen Bild und wandten sich an die Gewerkschaft. Für sie war der Untergang des Abendlands verbunden mit ihrem Foto. Sie haben alle aufgegeben, mittlerweile, seufzend und unter Berufung auf den Zeitgeist, dem sie sich nie unterwerfen wollten.
Das Argument mit dem Fernsehen ist nicht das schlechteste: Auch dort dauerte es lange, bis der Korrespondent aus Washington nicht mehr nur aus dem Off sprach, sondern einen roten Schal zum Markenzeichen machte und sein Gesicht in die Kamera hielt. Die Zuschauer protestierten nicht, sondern freuten sich: Sie wollten den sehen, der sprach – so wie es im normalen Leben auch üblich ist.
In der Zeitung ist es ähnlich: Was sagt schon der Name? Das Bild neben dem Leitartikel zeigt, ob die Kommentatorin jung ist oder erfahren, schön oder lebensklug – und ob die Haare die Meisterschaft eines Frisörs genießen dürfen. Das Foto ist eine Information, die hilfreich ist, zugegeben eine emotionale, aber ein bisschen, wirklich nur ein bisschen Leidenschaft tut gut auf dem grauen Papier.
Ich kann „auf Augenhöhe“ nicht mehr hören; der Begriff war praktisch, als nur wenige Redakteure den Kopf senkten; aber mittlerweile wird er für jeden Unsinn gebraucht. Nur hier passt er: Wer auf Augenhöhe gehen will, muss seine Augen zeigen.
Noch früher, also vor zwanzig Jahren oder mehr, wurde es sogar teuer, wenn man als Redakteur rein zufällig in die Zeitung kam. Nico Fried erinnert in seinem „Spreebogen“ daran:
Früher gab es Redaktionen, das mussten Reporter eine Strafe in die Kaffeekasse zahlen, wenn sie auf einem Foto in der eigenen Zeitung zu sehen waren. Heute gilt es manchen Medien als Ausweis besonderer Authentizität der Berichterstattung… Ich und der Gletscher; ich und Merkel; ich im Oval Office.
Nun ja, besonders authentisch ist er schon, geradezu stylish ist Nico Fried: Über seiner Kolumne steht nicht einfach ein Foto, sondern eine Zeichnung aus vielen Pixeln aufgebaut, ein Pixel-Porträt. Das bekommt nicht Nico Fried allein, das hat jeder Kolumnist in der SZ, nur nicht der Heribert Prantl, weil er Leitartikel schreibt. Leitartikel sind besonders authentisch hoch zwei und bekommen deshalb kein Bild in der Süddeutschen; zudem ist Heribert Prantl so oft im Fernsehen, dass alle sein Gesicht kennen (und die in der SZ an ihn erinnert werden, die ihn so selten in der Redaktion sehen).
Strenge Sitten gab und gibt es nicht in der SZ, wie Nico Fried erzählt:
In der SZ muss man keine Strafe zahlen, wenn man auf einem Foto landet. Mein ehemaliger Büroleiter, der heute mein Chefredakteur ist, erwartet aber auch nicht, dass man sich auf ein Bild drängt. Wie ich ihn kenne, würde er das unter anderem ganz unumwunden mit Argumenten aus dem Bereich der Ästhetik begründen. Bei mir jedenfalls.
Wenn das kein Hieb ist auf all die Eitlen, die in den Presseclub drängen, auf jedes Podium eilen bei jedem Kongress (und keine Branche veranstaltet so viele Kongresse wie die Medien, wobei es meistens um den Niedergang geht und alle ernste Gesichter machen, obwohl ihnen nichts einfällt). Da war die Kaffeekasse kein schlechter Brauch: Aber bitte nur Scheine.
**
Quelle: SZ 29. August 2015, Seite 46, Kolumne Spreebogen
Zwei Reporter haben Thomas Manns Bürger-Roman „Buddenbrooks“ gelesen und das Schicksal der Lübecker Familie mit der von Thomas Middelhoff verglichen: Entstanden ist ein großes Feature, eine Mischung aus Essay, Porträt und Analyse, eine prächtiges Lese-Stück über drei große Zeitungsseiten. Die Süddeutsche mit ihrer neuen Wochenend-Ausgabe zeigt, was Zeitung erschaffen kann, was eine gute Redaktion leisten kann, wenn sie den Mut hat, über eine Zeitungsseite hinauszudenken. Mit der Wochenend-Ausgabe ist das Gefäß dafür geschaffen, jetzt kommen die edlen Stoffe hinein.
„Warum ist Middelhoff so geworden? Was trieb ihn an? Warum handelte er so widersprüchlich? Warum erscheint sein glanzvolles Leben im Nachhinein als eine einzige Unstimmigkeit?“, fragen Uwe Ritter und Ulrich Schäfer in der SZ-Wochenendausgabe. „Mein Haus, meine Yacht, meine Familien“ ist „eine Geschichte wie ein Roman, ein Verfall wie bei den Buddenbrooks“. Nur wofür die Buddenbrooks vier Generationen brauchten, das schafft Middelhoff in nicht einmal einem Leben.
Lesen!
**
SZ 8. August 2015
Die Internetumfrage, die wir im vergangenen September (2005) durchführten, erbrachte ein wenig schmeichelhaftes Resultat. Nicht für uns, sondern für 139 der 1883 Teilnehmer. Sie gaben an, das NZZ-Folio zum Thema «Katastrophen» habe ihnen besonders gut gefallen. Bloss: dieses Folio hat es nie gegeben.
Aus Folio, dem Magazin der NZZ (Neue Zürcher Zeitung, Statistik-Heft Januar 2006)
Was geschah wirklich an der innerdeutschen Grenze? Wie lebten die Menschen am Todesstreifen? Wie die Westdeutschen im Zonengrenzgebiet? Wie leben sie heute? Die Thüringer Allgemeine erzählt die Antworten in einer umfangreichen Sommer-Serie „Die Grenze“. Diese „politische Wanderung“ provoziert bei den Lesern auch Widerspruch:
„Von was soll uns diese regelmäßige einseitige Geschichtsaufarbeitung eigentlich wieder ablenken, von der Abriegelung des Gaza-Streifens, von der Bedrohungslage durch TTIP und TISA?“, fragt ein Leser, der sich im Internet des hübschen Nicknames „erfordyx“ bedient; Nickname ist die englische Bezeichnung für einen Spitznamen, meint aber in Internet-Kommentaren die Anonymität, das Verschweigen des eigenen Namens.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Die Frage erinnert mich an drei Zeilen des Gedichts „An die Nachgeborenen“ von Bertolt Brecht, der bis zu seinem Tod in der DDR lebte:
Was sind das für Zeiten, wo
Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist
Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt!
Brecht war vor den Nazis auf die dänische Insel Fünen ins Exil geflüchtet; dort entstand sein Gedicht, das mit der fast sprichwörtlich gewordenen Zeile beginnt: „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“.
Die Zeiten waren finster: In den Zeitungen stellten die Nazis die Verfolgung der Juden als ehrenvolle Tat dar, und alle schwiegen, keiner durfte sie öffentlich eine Untat nennen.
Heute haben wir in Deutschland einen so vielstimmigen Chor in den Zeitungen und Magazinen, dass es eine andere Schwierigkeit gibt: Wer behält noch den Überblick? Wer schreibt die Wahrheit? Welcher Meinung kann ich folgen?
Nehmen Sie das Freihandelsabkommen mit den USA, kurz TTIP genannt: Sie finden Dutzende von Artikeln und Kommentaren in unserer Zeitung, manche eine komplette Seite füllend; sie können viele Briefe unserer Leser entdecken mit unterschiedlichen Meinungen.
Dabei nehmen wir als Zeitung für Thüringer die Perspektive unserer Leser ein: Was bedeutet TTIP für die Wirtschaft in Thüringen, für die Arbeitsplätze und unseren Wohlstand?
Wir wissen aus vielen Gesprächen mit unseren Lesern, dass sich viele für die Geschichte unseres Landes interessieren. Im 25. Jahr nach der Einheit sind wir entlang der kompletten Grenze zwischen Ost und West gewandert, als erste Zeitung in Deutschland überhaupt: Das erwarten viele Leser von uns in dem Land, das den längsten Abschnitt dieser Grenze hatte.
Und warum? Man muss auch die Vergangenheit kennen, vor allem die Schrecken, um wachsam zu bleiben. Zitieren wir noch einmal Brecht; er schließt sein Drama „Der aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mit den Zeilen:
Dass keiner uns zu früh da triumphiert. Der Schoß ist fruchtbar noch, aus dem das kroch!
**
Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 25. Juli 2015
Z0R0009978616