Die zynischen Mechanismen öffentlicher Empörung: Eine Redakteurin wird Oberbürgermeisterin und verzweifelt
Man wird unglücklich, wenn man erst einmal in der Mühle drin steckt. Man wacht um vier Uhr nachts auf, voller Angst, weil um halb fünf die Zeitung mit der nächsten üblen Geschichte vor der Tür liegt.
So spricht heute Susanne Gaschke (SPD), Oberbürgermeisterin in Kiel, zuvor Redakteurin bei der Zeit.
Die Süddeutsche widmet Susanne Gaschke die Seite Drei (30. September) wegen ihrer Verstrickungen in einem Skandal, in dem sie schmerzhaft spürt – diesmal auf der anderen Seite – „wie hartnäckig eine empörte Menge aus Journalisten, Opposition, Netzgemeinde sich an die Fehlersuche machen kann, wie viel Häme und Unterstellungen damit eingehen, wie zynisch die Mechanismen öffentlicher Erregung sein können.
Eine aufschlussreiches Porträt liefet Charlotte Parnack in „Von der Rolle“: So schwer ist der Rollenwechsel von der Redaktion ins Rathaus, in die Politik. Die Journalistin kannte und recherchierte Skandale – „aber sie kannte sie nur aus dem warmen Kokon der Redaktion heraus“.
„Wo eine gute Lokalredaktion ist, verändert sich die Politik einer Stadt“ – Interview, Deutscher Lokaljournalistenpreis
Für die Serie „Die Treuhand“, einer Geschichte über die friedliche Revolution auf dem Arbeitsmarkt, wird die Thüringer Allgemeine neben dem Hamburger Abendblatt in diesem Jahr mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung ausgezeichnet.
Vor der Preisverleihung am 30. September auf der Wartburg hat der Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen, Paul-Josef Raue, im Interview mit der Online-Redaktion der KAS das Konzept hinter der Serie vorgestellt und sich über die wachsende Bedeutung des Lokalen geäußert.(Podcast auf kas.de)
Herr Raue, herzlichen Glückwunsch zum Deutschen Lokaljournalistenpreis, den Sie sich mit dem Hamburger Abendblatt teilen. Sie erhalten den Preis für die Serie „Treuhand in Thüringen“, die vorbildlich zeigt, wie ein brisantes politisches Thema lokal und regional umgesetzt und damit eine lebendige Debatte entfacht wird. In einem Leserbrief an die Thüringer Allgemeine heißt es: „Die Serie ‚Treuhand in Thüringen’ ist sehr interessant, bringt sie doch zum Ausdruck, was in der Zeit des Umbruches so gelaufen ist oder auch nicht’.“ Bitte schildern Sie uns, welches Konzept hinter der Serie steckt.
Raue: „Die Treuhand“ ist im Grunde die Geschichte der friedlichen Revolution auf dem Arbeitsmarkt. Da die DDR-Wirtschaft völlig zusammengebrochen ist, waren mit einem Schlag Millionen von Menschen arbeitslos. Man musste also zusehen, dass man die Unternehmen aus der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft bekommt, den Menschen möglichst viele Arbeitsplätze anbietet und viele Firmen in die neue Zeit hinein retten kann.
Wenn man allein das schon sieht, ahnt man, wie viele Millionen menschliche Schicksale sich dahinter verbergen. Es gab kein historisches Vorbild. Es gab eine friedliche Revolution, dann ist ein System zusammengebrochen und es musste ein neues Wirtschaftssystem etabliert werden – das hat vorher keiner geschafft und es war vorher auch noch keiner in dieser Lage.
Diese Zeit hat sehr viel Elend über die Menschen gebracht, aber auf der anderen Seite ist eine Wirtschaft entstanden, die sich mittlerweile mit den meisten Volkswirtschaften in Europa messen kann. Thüringen ist das wirtschaftlich stärkste der fünf neuen Bundesländer.
Aber die drei, vier Jahre nach der Wende sind seltsamerweise aus dem Bewusstsein der Menschen ausgeklammert. Man kann sogar sagen, es ist ein Tabu geworden. Die am lautesten ihre Kritik äußern, sagen, alles was schlecht an der Wiedervereinigung war, ist Treuhand. Auf politischer Ebene wird dies von den Linken als Beweis dafür genommen, dass der Westen den Osten bis heute nicht ernst nehmen würde.
Zwischen diesen beiden Positionen schwanken die Meinungen. Die Menschen sehen diese Zeit rückblickend als nicht besonders positiv. Wir wollten das Thema aus der Tabu-Zone holen und haben nachgeforscht – was bisher keiner getan hat – wir wollten wissen, was wirklich in der Zeit passiert ist.
Welche Abläufe gab es? Stimmen die Vorurteile? Müssen wir die Vorurteile revidieren? Wer hat was getan? Wir haben gemerkt, dass wir dazu mit den Menschen reden und in die Archive gehen müssen. Und schlussendlich auch aufschreiben müssen. Das hat uns etwa anderthalb Jahre gekostet.
Daraus ist eine 60-teilige Serie entstanden, die weitergeführt wird und ein Buch, dass sich auch im Westen sehr gut verkauft. Hinzu kommt noch der Preis, über den wir uns sehr gefreut haben.
Der Deutsche Lokaljournalistenpreis gilt als einer der renommiertesten Preise seiner Branche. Kulturstaatsminister Bernd Neumann hat einmal gesagt, der Preis sei einer der bedeutendsten Auszeichnung für Regionalzeitungen im deutschsprachigen Raum. Den Preis erhält man nicht einfach so, sondern man muss sich bewerben und vor einer fachkundigen Jury um Dieter Golombek bestehen. Was war für Sie initiativ, um sich für den Preis zu bewerben?
Es ist das dritte Jahr, in dem wir uns mit einer historischen Serie beworben haben. „Treuhand“ ist Teil einer Trilogie. Wir wollten die Zeit der Revolution und der davor aufarbeiten und für die Menschen lebendig machen. Wichtig ist dabei, sie nicht Historikern zu überlassen, sondern Menschen zu Wort kommen zu lassen.
Der erste Teil hieß „Meine Wende“ und hatte auch einen Spezialpreis beim Lokaljournalistenpreis vor zwei Jahren erhalten. Darin haben Menschen geschildert, wie sie seelisch die Wende – wobei ich das Wort nicht mag – diesen Umschwung mitbekommen haben. Es war nicht die Frage, wann ich in Eschwege das erste Mal einkaufen war, sondern was ist mit mir seelisch passiert. Ein höchst bewegendes und auch widersprüchliches Buch.
Der zweite Teil der Trilogie war die Grenzwanderung. Wir sind den größten Teil der alten Grenze von Thüringen abgewandert. Meter für Meter sind wir wochenlang gelaufen und haben geschildert, wie es den Menschen heute und zur Zeit der Wende ging und natürlich auch das geschildert, was vorher passiert ist. Wir haben die Geschichte der Grenze beschrieben, worüber kurioserweise zuvor keiner geschrieben hatte.
Der dritte Teil behandelt das Tabuthema Wirtschaft. In der Serie wird die friedliche Revolution noch einmal in der Erfahrung der Menschen gespiegelt, die ihre Arbeit verloren oder wiedergewonnen haben. Was man in dem Zusammenhang nicht vergessen darf, ist, dass sehr viele sich selbständig gemacht haben. Thüringen ist ein Musterbeispiel für mittelständische Industrie und sogar Weltmarktführer in einigen Nischenprodukten.
In der Serie haben wir die Frage gestellt: Wie ist das entstanden und was hat es mit den Menschen gemacht? Weil wir die Trilogie damit abgeschlossen haben, haben wir uns damit beworben und auf einen der kleineren Preise gehofft. Wir haben nicht damit gerechnet, dass wir den ersten Platz beim Deutschen Lokaljournalistenpreis erhalten.
Was bedeutet Ihnen persönlich diese Auszeichnung und was bedeutet Ihrer Redaktion dieser Preis?
Ich habe nicht zum ersten Mal diesen Preis gewonnen, aber es war der, über den ich mich am meisten gefreut habe. Es war auch der, der am schwersten erarbeitet worden ist. Als ich nach Erfurt kam, folgte ich einem Chefredakteur, der fast 20 Jahre die Redaktion geleitet hat. Hinzu kam, dass ich der erste Westdeutsche in leitender Position war. Da hat die Redaktion auch mit sich und dem Chefredakteur gerungen und es gab Auseinandersetzungen, die zum Teil auch öffentlich waren.
Ich will es so sagen: Es hat der Redaktion gut getan, denn sie hat gemerkt, dass diese Kämpfe nicht nur innere oder Abwehrkämpfe waren, sondern die Redaktion hat auch gezeigt, welche Kraft in ihr steckt – was sie an Recherche schafft, an journalistischer Potenz und Professionalität besitzt. Dieser Preis ist für die Redaktion enorm wichtig.
Wir merken gerade jetzt, dass wir im Vergleich zu anderen Lokalzeitungen die intensivste und durchdachteste Berichterstattung vom NSU-Prozess haben. Wir sind jeden Tag mit mindestens einem Redakteur im Gerichtssaal dabei und sehr stark online. Dieser Preis unterstreicht die Professionalität der Redaktion und er hat Kräfte freigesetzt, die die Thüringer Allgemeine zu einer der großen Zeitungen machen wird.
In Zeiten von Globalisierung und weltweiter Mobilität erlebt Heimatverbundenheit eine Renaissance. Die Lokalzeitungen stellen sich mit unterschiedlichem Erfolg auf das Bedürfnis nach noch mehr Berichterstattung über lokale Ereignisse ein. Ist diese Entwicklung eine Gegenreaktion auf die Vielfalt und Unübersichtlichkeit einer globalisierten Welt?
So wird es immer dargestellt. Man muss sich mal die Geschichte dieses Preises anschauen. Vor gut 30 Jahren hat man angefangen dem Lokaljournalismus die Bedeutung in Deutschland zu geben, die er verdient. Damals wusste man noch gar nicht, dass irgendwann das Internet kommt. Lokaljournalismus ist für eine Demokratie extrem wichtig, weil so die Menschen verstehen, wie ein Gemeinwesen tickt, wie es funktioniert – und dass man sich engagieren kann. Dafür braucht es aber einen funktionierenden Journalismus und eine Zeitungslandschaft.
Damals war es der Sprecher der Jury, Dieter Golombek, der das Lokaljournalistenprogramm aufgesetzt hat. Ich glaube, in den vier Jahrzehnten hat sich der Lokaljournalismus von einer Honoratioren-Berichterstattung hin zu einer wirklich ernstzunehmenden Professionalität entwickelt.
Wenn Sie sich die Entwicklung des Preises anschauen, sehen Sie das ziemlich gut. Ich denke, dass die Entwicklung unserer Demokratie sehr viel damit zu tun hat, und der Lokaljournalismus sehr viel stärker geworden ist. Er ist kritischer in den Städten geworden.
Ich bin davon überzeugt, wo eine gute Lokalredaktion ist, verändert sich auch eine Politik in einer Stadt. Wenn ich einiges nicht mehr in meinem Hinterstübchen machen kann und damit rechnen muss, dass die Öffentlichkeit davon erfährt, mache ich eine andere Politik. Erstmal hat das mit dem Internet relativ wenig zutun.
Aber es hat damit zutun, dass Menschen sich für ihre Nachbarschaft und ihre unmittelbare Umgebung interessieren, denn da können sie etwas bewirken.
In Brüssel oder in New York bei der Uno etwas zu bewirken – da muss man schon sehr euphorisch sein. Aber in seiner eigenen Stadt oder Dorf etwas zu bewegen, dafür muss man nicht euphorisch sein, das kann man lernen und dazu braucht es die Lokalzeitungen, um seine Chancen zu erkennen.
Dieter Golombek sagte einmal in einem Interview mit der Thüringer Allgemeinen: „Es reicht für die Zeitungen nicht mehr aus, die Leser mit Neuigkeiten zu versorgen.“ Wie sieht für Sie die Zukunft des Lokaljournalismus’ aus?
Das ist richtig. Aktualität spielt allerdings auch noch im Lokalen eine Rolle. Man sollte das nicht unterschätzen. Die Zeitungen haben das Privileg des aktuellsten Mediums endgültig an das Internet und Fernsehen abgegeben. In der Stadt ist es noch ein bisschen anders. Zumal es auch Zeitungen sind, die das Neue erst herausbekommen und recherchieren müssen. Sie glauben gar nicht, was hinter alten Rathausmauern alles passiert und was alles keiner mitbekommen soll. Das ist das eine.
Das zweite ist, den Menschen zu erklären, was dort passiert. Nehmen Sie die Serie „Treuhand“. Es muss jemand Zeit, Geduld und das Können besitzen, um in 30.000 Dokumenten zu suchen und zu schauen, was damals passiert ist. Einen Großteil dieser Dokumente sollten wir eigentlich gar nicht erhalten. Die liegen noch irgendwo verschlossen. Darum geht es: Du musst den Menschen das Fundament des Gemeinwesens zeigen, in dem wir leben und das unsere Heimat ist.
Dies ist die Hauptaufgabe von Lokalzeitungen in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. Ob dies auf Papier oder im Internet geschieht, wird sich zeigen. Ich denke aber, dass das Papier im Lokalen noch sehr wichtig sein wird. Weil, wenn man länger und intensiver lesen möchte, ist das Papier das bessere Trägermedium.
Immer wieder wird den Zeitungen insgesamt vorgeworfen, nicht genügend neue Ideen für kreative Geschäftsmodelle zu haben. Stimmt das? Wenn ja: Was sind die Gründe? Gibt es Geschäftsmodelle mit denen der Lokaljournalismus überleben kann? Zum Beispiel aktuell das Leistungsschutzrecht für Presseverlage?
Ich denke, das Leistungsschutzrecht zeigt den Weg an, in den das Ganze gehen muss. Das wir unsere Inhalte verschenken, ist unsinnig, denn jemand muss unseren Journalismus bezahlen. Guter Journalismus ist sehr teuer. Das funktioniert im Augenblick noch, indem quer subventionieren. Aber die Diskussion scheint mir beendet zu sein. Wir wissen, dass wir unsere Inhalte im Print- und Onlinebereich verkaufen müssen.
Die entscheidende Frage, die nun kommen wird, ist: Sind es dieselben Formate, mit denen wir Zeitungsleser und Onlineleser gewinnen können? Dazu kann ich ein Beispiel aus der vergangenen Woche geben. In Erfurt gibt es ein großes Festival namens „Domstufenfestspiele“. Wir haben zum ersten Mal einen Liveticker von einer Opernpremiere gemacht. Das war eine Mischung aus Erlebnisschilderungen, Bildern und Videos. Die Menschen vor Ort haben sich dazu eingeschaltet, und es gab einen Dialog mit den Lesern. Das sind Formate, mit denen wir experimentieren müssen.
Was sich dann schlussendlich in Geld verwandeln lässt, wird sich zeigen. Der Lokaljournalismus war in den vergangenen Jahren sehr innovativ, und wir werden auch in der Onlinewelt viel Neues entdecken. Die Treuhand-Serie ist mittlerweile ein großes Archiv, in dem viele Firmen zu finden sind. Die Serie werden wir sicherlich irgendwann bezahlbar machen.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Wir haben den Preis zusammen mit dem Hamburger Abendblatt gewonnen. Die Kollegen haben den Preis für die Vermessung Hamburgs bekommen. Auch wir haben zurzeit eine Serie laufen, die heißt „Thüringen vermessen“, aber sie unterscheidet sich ein wenig von den Hamburgern.
Sie werden sämtliche Orte Thüringens dort wiederfinden. Das wird natürlich ein Angebot für jemanden, der nach Thüringen zieht oder geschäftliche Beziehungen knüpfen will, sein. Er kann es dann nutzen und bezahlt dafür.
Am 30. September erhalten Sie in einem Festakt die Urkunde für den Deutschen Lokaljournalistenpreis. Wissen Sie schon, wo die Urkunde einen festen Platz bekommen wird?
Die Redaktion ist in einem Loft mit Blick auf den Thüringer Wald untergebracht, dort haben wir eine große Wand. An dieser wird sie dann als dritte Auszeichnung der Konrad-Adenauer-Stiftung aufgehängt. Doch der diesjährige Preis ist uns der liebste, weil er der erste Preis ist. Darauf sind wir sehr stolz.
Machtspiele oder: Wovon Spiegel-Redakteure träumen
Der Spiegel muss zu alter Stärke zurückfinden, sind sich die Ressortleiter einig. Wir dürfen nicht mehr der Süddeutschen allein die tiefen und überraschenden Recherchen überlassen, wollen selber in Offshore-Leaks schauen, sagen sie dem neuen Chefredakteur, sogar einmütig, was sonst nur bei Aufständen gelingt. Wir wollen wieder das Gewissen der Nation werden, das Sonntags- und Montags-Gespräch der Deutschen. Wir wollen über Deutschland, Gott und die Finsternis der Welt reden statt nur über uns. Wir müssen die Kraft, Intelligenz und Phantasie der Redaktion nutzen, vor allem beim Finden des Titels, der über den Verkauf und damit über unser Gehalt entscheidet – statt einer kleinen Autisten-Runde zuzuschauen, die sich am Freitag einschließt und die Kollegen am Samstag überrascht, wenn der Bote die neue Ausgabe bringt. Wir wünschen uns „Hausmitteilungen“, die nicht die schwächsten Beiträge gleich zu Beginn des Heftes sind, und wir wünschen uns einen guten und starken Chefredakteur, der vieles macht, der zuerst zuhört und dann entscheidet, in dieser Reihenfolge; der sich gegen die Berufs-Bedenker in der Redaktion durchsetzt und sei es mit leichter Ironie. Wir wollen einen guten, einen besseren Spiegel – den nicht nur wir brauchen.
Es wäre nützlich, edel und gut gewesen, wenn sich die Spiegel-Ressortleiter am Montag so ihrem neuen Chefredakteur präsentiert hätten. Nach allem, was zu hören und zu lesen war, ging’s nicht um Recherchen und Themen, um Titel und Hausmitteilungen, sondern um das Spiel der Macht – das Redakteure nun einmal nicht beherrschen, ja sie finden nicht einmal zur Einsicht, dass sie vieles können, nur dies nicht.
Die versammelte Intelligenz der Spiegel-Ressortleiter ist die höchste in deutschen Redaktionen. Aber was spricht aus der Resolution der Ressortleiter? Ist es Phantasielosigkeit und intellektuelle Armut , die sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigt: Wir sind dagegen?
Deutschland braucht keine Spiegel-Redaktion, die sich lähmt und verkämpft und am Ende nur verliert. Deutschland braucht eine Spiegel-Redaktion, die stark ist, für starke Geschichten kämpft und am Ende aufklärt, vielleicht nicht Gott, aber die Bürger und die Welt.
Die @Spiegel-Zeitungsdebatte: Ohne gute Lokalzeitungen droht Schaden für die Demokratie – Was tun?
Deutschland ist Provinz, und die bevorzugte Zeitung der Deutschen erscheint in der Provinz: 37 Millionen lesen regelmäßig ihre lokale Tageszeitung; nur 4 Millionen eine nationale. Auch wenn die Auflagen zurückgehen, so ist die Zahl der Leser schlicht beeindruckend.
Die Erfolgs-Geschichte der Bundesrepublik verläuft parallel zur Erfolgsgeschichte der Lokalzeitungen: Je mehr Menschen lesen konnten und wollten, was in ihrer Nachbarschaft passiert, umso dynamischer entwickelte sich unsere Demokratie: Was in den Rathäusern beschlossen wird, das können die Bürger aus eigener Erfahrung kontrollieren.
Wer kontrollieren, protestieren und mitwirken will, der muss wissen, was in seiner Stadt läuft. So entwickelten sich die Lokalzeitungen, zumindest die besten, in den 70er und 80er-Jahren von Honoratioren-Zeitungen zu Bürger-Zeitungen. Je umfangreicher und kritischer die Lokalteile wurden, umso höher stiegen die Auflagen: Von 10 Millionen Abonnenten kurz nach Gründung der Bundesrepublik auf 14 Millionen im Jahr der Einheit; das war der höchste Stand der alten Bundesrepublik. Auf einem ähnlich hohen Stand befinden wir uns heute.
Wer vom Sterben der Zeitung spricht, muss sich zuvor klar machen, wie sie der Demokratie nutzt:
1. Journalisten haben die Aufgabe, das Volk zu informieren und aufzuklären. Sie erfüllen eine lebenswichtige Aufgabe in der Demokratie: Der Bürger wählt, bildet Vereine und Initiativen, er demonstriert und klagt um sein gutes Recht, er redet mit und dagegen – kurzum: Er muss wissen, was im Staat und in der Gesellschaft läuft. So sieht unsere Verfassung die Journalisten als Treuhänder der Bürger, wenn es um die Kontrolle der Macht geht; das Verfassungsgericht hat dies immer wieder, erstmals im Spiegel-Urteil, eindrucksvoll bestätigt.
2. Zeitungen sind eine verlässliche und glaubwürdige Instanz, die auch Massen erreicht. Beides ist untrennbar wichtig: Vertrauen und Öffentlichkeit, Qualität und Quantität. Nur wenn viele Bürger über dieselben seriösen Informationen verfügen, können sie für stabile Regierungen in Berlin und den Städten sorgen, für Widerstand gegen Entscheidungen, die den Bürgern schaden, für Debatten, die nicht in kleinen Zirkeln verpufft. Die Freiheit des einzelnen hängt vom Wissen und Verständnis vieler ab.
3. Die Zeitung sortiert, macht die schiere Fülle der Informationen übersichtlich, reduziert sie auf ein menschliches Maß. Sie lässt nicht zu, dass ein Leser nur seine, vermeintlich nützlichen Nachrichten liest, ausgesucht von einer Maschine. Wir brauchen Bürger, die sich in Maßen verstören lassen, die andere Meinungen kennenlernen und aushalten. Das gehört zur Freiheit dazu.
4. Die Zeitung überfordert die Menschen nicht: Täglich reichen zwanzig bis dreißig Minuten Lektüre, um konzentriert das Wichtigste zu erfahren; die Lektüre ist eine Routine mit hohem Nutzen. Wer morgens liest, kann mitreden.
5. Nur wer informiert ist, wer viele Meinungen kennt und wer Debatten verfolgt, der engagiert sich. Eine Demokratie lebt von Menschen, die in einem Ratsausschuss mitwirken, die F-Jugend des Dorfvereins trainieren, krebskranken Kindern vorlesen, überhaupt ein Ehrenamt bekleiden.
6. Zeitung ist ein Jedermann-Medium; das ist jedenfalls das demokratische Ideal der Zeitung, dafür haben Generationen gekämpft von der Aufklärung bis zur friedlichen Revolution in der DDR. Jeder Bürger hat das Recht, alles zu wissen. „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“, formulierte Kant den Wahlspruch der Aufklärung. Der Verstand braucht aber seriöse Information. Kant würde heute für die Zeitung kämpfen. Wäre die Zeitung ein Medium der Wohlhabenden, der Mächtigen und der Beamten, verlöre sie ein Stück ihrer demokratischen Legitimation.
Die Demokratie braucht Zeitungen. Wenn wir ihr Ende prophezeien, müssen wir schon Antworten bereit halten:
Wer gleicht aus, was die Zeitung an Nutzen stiftet?
Wer kontrolliert unsere Demokratie, vor allem in der Städten und Kreisen? Wer sorgt dafür, dass wir keine demokratie-freien Zonen in Deutschland bekommen?
Wer verhindert, dass Macht ohne Kontrolle despotisch wird?
Wer finanziert ein anderes Modell? Das beste Modell, das wir kennen, ist die Finanzierung eines teuren und kostbaren Journalismus durch erstens: Verlage, zweitens: öffentlich-rechtliche Medien; die vom Staat finanzierten scheiden durch ihre Nähe und Abhängigkeit durch die Mächtigen aus (die noch größer würde, wenn es nur wenige starke Verlage als Wirtschaftsunternehmen gibt).
Zeitungen mögen nicht perfekt sein, aber sie sind näher an einer Sozialutopie, die das Internet versprochen, aber nicht gehalten hat: Alle Bürger haben Zugang zu jeder Information und Teilhabe am öffentlichen Leben. Wir wissen, dass im Internet Viele wenig lesen und Wenige viel. Ohne Zeitungen wird das Wissens-Fundament der Gesellschaft tiefe Risse bekommen. Besteht die Öffentlichkeit nur noch aus Minderheiten, bleiben die wichtigen Informationen für die meisten versteckt.
Im Spiegel-Blog ist oft ein zutreffender Einwand zu lesen: Redaktionen sind von dem Ideal, wie ich es formuliere, mehr oder weniger weit entfernt. Das ist richtig.
Versagen die Redakteure, droht der Demokratie ebenfalls großer Schaden. Lesen immer weniger eine Zeitung, droht ebenfalls Gefahr: Dann schlägt die große Stunde der Pädagogen, auch der Oberlehrer unter den Politikern.
Wir brauchen schnell eine Selbstbesinnung der Journalisten. Der klügste Satz von Cordt Schnibben – zu Beginn der Debatte – lautete: „Wir haben uns zu lange darauf verlassen, dass Verlage und Verleger die Konzepte entwickeln, die uns und unseren Journalismus sichern.“
Das lässt sich schnell ändern.
Wer hindert Redakteure, vor allem im Lokalen, daran, den besten Journalismus zu verwirklichen:
o Kontrolle der Mächtigen durch tiefe und umfassende Recherche (die noch stärker wird durch Nutzung der Daten-Fülle, die wir im Netz greifen können); Abschied von der Haus- und Hofberichterstattung, die „blackwildcat“ in einem Kommentar geißelt und mit DDR-Zeiten (unglücklich) vergleicht: Da „waren die Tageszeitungen das Sprachrohr der Partei“.
o verständliche Sprache und Erklärungen, die ohne den Oberlehrer im Journalisten auskommen;
o Mehr und tiefere Analysen, was die Welt zusammenhält; weniger Pressemitteilungen (und die mit einem Schuss Misstrauen redigiert); keine Manipulationen, etwa durch grobes Vermischen von Nachricht und Kommentar;
o Nähe zu den Menschen, die uns lesen und vertrauen: Was brauchen sie an Informationen und Meinungen? Was nützt ihnen? Aber auch: Was könnte sie interessieren und unterhalten? Das ist kein Plädoyer für Populismus (den die Leser gar nicht wollen), sondern für ein wenig Demut und für viel Respekt und Aufrichtigkeit.
o Erkenntnis, was Leser lesen wollen. Der zweitklügste Satz von Cordt Schnibben haut in diese Kerbe: „Zeitungen sind redakteursgesteuert, sie richten sich mehr danach, was die Leser lesen sollen.“ Wer glaubt, seine Leser seien identisch mit Rotwein-Freunden am Abend, der irrt fatal – vielleicht nicht beim Spiegel (und Cordt Schnibbens Bekanntenkreis), aber in einer Lokalzeitung. Da können wir von Bloggern lernen. Am besten wäre jeder Lokalredakteur auch ein Blogger, und er sähe seine Welt mit anderen Augen.
o Eine bessere Ausbildung, also mehr Ideen, mehr Mut und mehr Professionalität: Wer meint, fehlende Stellen durch Volontäre ersetzen zu müssen, der verspielt die Zukunft der Zeitung und die Zukunft der jungen Leute. Wir brauchen bessere Journalisten – und die bekommen wir nicht, wenn die Jungen ihre Ausbildung in den alten Strukturen, Klagen und Ausreden verbringen.
o Bessere Chefs, die Konzepte für die Zukunft entwickeln und sich nicht auf Manager verlassen, denen außer Kostensenkungen wenig einfällt. Journalisten sichern den Journalismus und, wenn er zu retten sein muss, retten nur sie ihn. Noch besser wäre eine gemeinsame Rettungstruppe von Managern und Journalisten; von beiden haben wir zu wenige.
Wer hindert uns daran, das sofort und umfassend zu realisieren?
Es geht um unsere Gesellschaft, um unsere Demokratie, um unsere Freiheit. Ob wir sie auf Papier oder auf dem Bildschirm oder sonstwie sichern, ist zweitrangig. Sichern werden wir sie nur mit Journalisten, die professionell arbeiten können und arbeiten dürfen.
Noch geht es den meisten Zeitungen passabel bis gut. Zu viele Redakteure haben sich jedoch darin eingerichtet, mit dem altvertrauten Journalismus die Zeit bis zum Ruhestand zu verbringen; die Stellenkürzungen und Sozialpläne treffen ja die Jungen, die noch nicht von der Rente träumen. Zu viele jammern über die schlechten Zeiten, über die undankbaren Aldis und sonstigen Werbekunden, die von uns gegangen sind, über die jungen Leute, die an nichts interessiert sein sollen: Was für ein Selbstbetrug, denn Journalismus spiegelt nicht nur die Zeit, sondern beeinflusst sie!
In einem irrt Cordt Schnibben, ist er der Spiegel-Mann, der den Reiz des Lokalen nicht spürt: Das Internet spinne eine Gegenöffentlichkeit zu den klassischen Medien.
Eine gute Lokalzeitung war schon immer Öffentlichkeit und Gegenöffentlichkeit in einem. „Guter Lokaljournalismus lädt die Menschen ein, sich in die eigenen Angelegenheiten einzumischen. Das ist eine anspruchsvolle Vermittlungsaufgabe, es ist ein Bildungsangebot, und je besser es gelingt, desto mehr wachsen die Ansprüche der Leser an ihr Blatt“. So sprach Bundespräsident Horst Köhler, als er 2009 im Braunschweiger Dom die „Bürgerzeitung“ pries. Also: Erst Öffentlichkeit herstellen, dann die Öffentlichkeit zu Wort kommen lassen – ein ebenso einfaches wie wirkungsvolles Prinzip, das nicht für das Internet reserviert ist.
Brauchen wir also Journalisten, „die anarchistisch wie das Netz denken und das konservativ umsetzen können“, wie „Ettina“ in einem Blog-Kommentar schreibt? Wenn es so einfach wäre; und es wäre schön, wäre es so einfach.
Zeitungmachen in diesen Umbruchzeiten ist, erst recht für Konzepte-Schmiede, nicht einfach aus diesen (und wohl einigen anderen) Gründen:
+ Jeder im Netz kann sich über Vereins- und Feste-Berichte in den Lokalteilen lustig machen. Aber viele Leser, nicht nur ältere, wollen über das einfache Leben in ihrer Nachbarschaft so viel wie möglich lesen: Das ist ihre Welt. Wer das als Provinz belächelt und ausblendet, verliert Leser, treue Leser zumal. Der Lokalteil war immer ein großes Familienalbum und wird es in Maßen auch bleiben. Lächelt noch einer über Facebook?
+ Zeitungen sind starke Marken, weil sie ein Teil der Familie sind wie Ehemann und Kanarienvogel (was für ein Trumpf – auch im Netz!); Zeitungen genießen Vertrauen – auch bei den Jüngeren, die zu oft erlebt haben, wie man im Netz über den Tisch gezogen wird, beleidigt und getäuscht.
Wer die Kreisliga-Tabelle im Tischtennis mit dem Hinweis verbannt, die stehe doch schon im Netz, der verliert Abonnenten – mit deren Geld die Investitionen in die Online-Auftritte subventioniert werden.
+ Wer einen guten Lokalteil macht, ob auf Papier oder auf dem Schirm, der muss eine kluge Mischung bringen: Familienalbum und Tiefen-Recherche, Freude am Leben und Ärger über das Rathaus. Wer nur eines bringt, bringt zu wenig.
+ Inhalt bleibt Inhalt, ob im Netz oder auf Papier: Also müssen Redaktionen das Netz bedienen, Facebook und Twitter und die bedruckten Seiten. Das fällt vielen schwer – und nicht wegen fehlender technischer Intelligenz. Offenbar ändern sich unsere Welt, unsere Gesellschaft und unsere Medien zu schnell für Redakteure, die Veränderung per se verachten. Aber wer sich nicht mit der Welt, für die schreibt, verändert, den wird die Welt verändern.
+ Die Zeitung ist eine Kommode mit vielen Schubladen, die wir mehr oder minder kostbar füllen. Wie verwirklichen wir dies Erfolgsmodell im Netz? Die Idee der Zeitung ist, von allem etwas zu bringen, solange es die Menschen interessiert und von Nutzen ist. Es gibt den Lokalsport und die Kultur und die Politik und anderes mehr, das keinen Werbekunden dazu verleitet, auf diesen Seiten zu inserieren.
Adaptieren wir das Modell des Anzeigenblatts oder der Anzeigen-Beilagen in den Zeitungen, wenn wir nur noch Artikel bringen, die einzeln bezahlt werden? Reüssiert eine Zeitung, die wie das Fernsehen auf Quoten schaut und davon abhängig wird?
Was bedeutet das für Zeitungsredakteure, die sich seriös im Netz bewegen wollen? Das ist ein Dreizehn-Punkte-Plan für Qualität:
1) Der Online-Auftritt eines Lokalteils oder einer Lokalzeitung ist durch die Marke der gedruckten Zeitung aufgeladen. Also müssen die Redakteure so arbeiten, dass die Inhalte und die Gestaltung die Marke nicht gefährden, sondern stärken.
2) Es gelten die professionellen Regeln wie in der gedruckten Zeitung. Sie sind noch strenger zu befolgen, weil der Online-Leser in der Regel schneller und weniger konzentriert liest.
3) Es gelten die ethischen und rechtlichen Regeln wie in der gedruckten Zeitung.
4) Online darf kein Spiegel der gedruckten Ausgabe sein, sondern muss mehr bieten: Archiv, Verlinkung, Ergänzungen durch Geotagging, Grafiken, Videos, Podcast, Kommentare usw
5) Es kommt auch online auf die Qualität an. Es kommt auf den Inhalt an.
6) Multimediales Erzählen krönt die Qualität. Wer Geschichten erzählt, bindet die Leser. Aber Geschichten allein bringen keinen Erfolg. Der schnelle Leser will zuerst schnelle, das heißt kurze und aktuelle Texte und Bilder.
7) Sicherheit der Recherche geht vor Schnelligkeit. Aktualität ist kein Wert an sich.
8) Auf den Blaulicht-Seiten sind die Texte seriös, vor allem aber befriedigen Qualität und Quantität der Bilder nicht die Sensationslust (auch wenn dadurch die Click-Zahlen steigen).
9) Der Online-Auftritt hat eine klare Ordnung, die wegen der unendlichen Weiten des Netzes noch wichtiger ist als in der Zeitung. Vor allem muss jeder schnell die Orte seiner Heimat finden (hyperlokal).
10) Der Leser wird zum Mitwirkenden, wenn er sich zu erkennen gibt (Registrierung) und die Regeln beachtet. Der Redakteur moderiert nicht nur, sondern diskutiert mit.
11) Der Redakteur moderiert den Marktplatz im Netz, er formuliert die Regeln, diskutiert sie mit den Usern, aber er achtet strikt auf die Einhaltung.
12) Das Internet suggeriert eine Nähe, die nur virtuell ist. Journalisten brauchen wirkliche Nähe, Vier-Augen-Nähe. Wer den Kontakt mit seinen Lesern nur noch im Netz sucht, entgleitet in eine Gespenster-Welt.
13) Das ist die Leerstelle für weitere Einträge.
Enden wir mit Sätzen aus dem Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1966, die kein bisschen alt sind:
Eine freie, regelmäßig erscheinende politische Presse ist für die moderne Demokratie unentbehrlich. Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch Meinungen kennen und gegeneinander abwägen können, die andere sich gebildet haben. Die Presse hält diese ständige Diskussion in Gang.
Recherche und stinkende Quellen (Zitat der Woche)
Eine Quelle ist eine Quelle, auch wenn sie stinkt.
Hans Leyendecker in einem Artikel über die Bildzeitung, die die Entführung eines Reporters enthüllte, von anderen Medien aus Sorge um sein Leben jahrelang verschwiegen.
(SZ 14. August 2013 „Eine üble Quelle“)
Wie AP recherchierte, ob der Unglücks-Zug zu schnell gefahren ist
Recherche ist Kleinarbeit, bisweilen ein wenig Mathematik, begleitet von einer gehörigen Portion Logik – wie nach dem Zugunglück im spanischen Santiago de Compostela, bei dem 79 Menschen getötet wurden.
Der Grafik-Spezialist Panagiotis Mouzakisder von AP in London fand heraus, wie schnell der Zugführer gefahren ist mit folgender Methode:
1. Die Geschwindigkeit des Zuges ist zu berechnen, wenn er den Abstand zwischen den im Überwachungsvideo zu sehenden Leitungsmasten kennen würde.
2. Er spielte das Video Bild für Bild ab und schaute auf den Zeitstempel, um herauszufinden: Wie lange ist der Zug von einem Mast zum nächsten unterwegs?
3. Der am Unglücksort filmende Madrider Kameramann Alfonso Bartolome schätzte den Abstand zwischen den Masten.
4. Um diese Daten abzusichern, zählte Fisnik Abrashi, Redakteur am Europa-Desk der AP, die Zahl der Bahnschwellen zwischen zwei Masten auf dem Foto einer Lokalzeitung.
5. AP-Redakteur Bob Barr, ein Eisenbahn-Fan, recherchierte den üblichen Abstand zwischen zwei Bahnschwellen im europäischen Schienennetz.
Beide Methoden führten jeweils zu dem Ergebnis: Die Geschwindigkeit lag zwischen 143 und 192 km/h oder zwischen 154 und 180 km/h. Da die Geschwindigkeitsbeschränkung bei 80 km/h lag,konnte die AP lange vor der Bestätigung durch die Behörden melden: Der Zug fuhr doppelt so schnell wie erlaubt.
Fünf Tage später bestätigten die Daten aus der Black Box die Richtigkeit; laut vorläufigem Untersuchungsergebnis bremste der Fahrer in den Sekunden vor dem Unfall von 191 km/h auf 153 km/h.
Aus dem AP-Blog „Spain train crash: How a journalist’s quick thinking provided vital info“ von Erin Madigan White (31. Juli 2013); aus dem Amerikanischen übertragen von Felix Voigt.
Argumente gegen Häme: Zeitungen leben und sind stark
So zu tun,als gehörte Print schnellstmöglich beerdigt,ist lächerlich.
schreibt Horizont-Chefreporter Jürgen Scharrer zum Kauf von Hamburger Abendblatt, Berliner Morgenpost, Hörzu und anderen durch die Funke-Mediengruppe und kommentiert die grenzenlose Häme auf den Kommentarseiten im Netz mit drei Argumenten:
1. Es gibt nicht nur jemanden, der verkauft, sondern auch jemanden, der kauft. Ein Ausverkauf von Print sieht anders aus.
2. Wo sind die schlauen Digital Natives, die ein journalistisches Digitalangebot entwickelt, das groß und renditestark ist, um eine Redaktion zu beschäftigen, die nicht nur bloggt, sondern richtig recherchiert?
3. Was Vertriebs- und Werbeerlöse betrifft, liegt Print nach wie vor Lichtjahre vor Online.
Journalisten über Journalisten: Einfach draufhauen!
Journalisten schreiben selten nett über Journalisten. Einige Medienseiten überraschen die Leser immer wieder mit recherchefreier Häme, wie wir sie sonst nur aus dem Netz kennen; einzig tröstlich ist, dass sie kaum ein Leser zur Kenntnis nimmt – außer Journalisten, die online bei den einschlägigen Medien-Diensten zumindest die Kurzfassungen lesen und sich freuen: „Mich hat es nicht erwischt!“
Neu auf der nach oben offenen Häme-Skala ist das ausschließliche Zitieren von Anwälten der Verleger. Im Juli-Journalist wird ein nicht benannter Madsack-Anwalt bemüht, der Bernd Hilder, dem Ex-Chefredakteur der LVZ, vorwirft „keinen Draht zur Redaktion gefunden zu haben“; „zudem habe Hilder den Trend zum Lokalen und zu mehr Online ignoriert, sich ohnehin mehr für das Repräsentieren als für das Blattmachen interessiert“.
Recherche? Nur bei den Verlegern, aber nicht in der Redaktion und nicht beim Beschuldigten selbst – jedenfalls fehlt jeder Hinweis, dass der Autor die Gegenseite gefragt hat. Also – einfach draufhauen und die Splitter einsammeln oder zündeln und sich am Feuer wärmen.
In solch recherchefreien Zonen lässt sich fein spekulieren und Gerüchten nachhängen. Mit Journalismus hat das wenig zu tun.
Der Journalist war lange Zeit nicht gerade berühmt wegen seiner gründlich recherchierten Geschichten, sondern berüchtigt wegen seiner klaren Standpunkte und seiner strikten Missachtung von Ziffer 2 des Pressekodex: Er hatte mehr gekämpft als recherchiert.
Die Qualität hatte sich unter der neuen Chefredaktion verbessert: Es lohnte sich wieder, zumindest einige der Artikel zu lesen. Ist der kurze Frühling schon vorüber?
Kubicki: Am besten wäre ein Prozess in den USA – nicht nur für Snowden
Was wäre, wenn Snowden vor ein amerikanisches Gericht gestellt würde? fragt Wolfgang Kubicki. Dann müsste sich die amerikanische Gesellschaft intensiv damit beschäftigen: Was darf der Staat überhaupt? Wie tief darf er in das Private der Menschen eindringen, um die Sicherheit der Bürger zu garantieren? Welche Rolle spielen die Medien in der Aufklärung solcher Staats-Affären?
Es ist Unsinn, Snowden in Deutschland politisches Asyl zu geben. Die USA sind ein Rechtsstaat mit strengen Regeln, die man auch einklagen kann. Statt politisches Asyl in Deutschland zu fordern, wäre es sinnvoller, wir in Deutschland ein paar Millionen zu sammeln, Snowden die besten Anwälte zu besorgen und ihm ein gutes Verfahren in den USA zu ermöglichen.
Das sagte Wolfgang Kubicki am Rande eines TA-Gesprächs mit jungen Wähler in Nordhausen. Kubicki kandidiert für den Bundestag, ist FDP-Chef in Schleswig-Holstein und Mitglied des Präsidiums der Bundes-FDP.
FAZ enthüllt neuen Beruf: Enthüllungsjournalist
Hart aber fair Zu Gast: Günter Wallraff (Enthüllungsjournalist und Buchautor)
FAZ, 1. Juli 2013, Medienseite
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