Alle Artikel der Rubrik "Vorbildlich (Best Practice)"

Kommentare zu: Medien und Christian und Bettina Wulff

Geschrieben am 21. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Die Medien und den Rücktritt des Bundespräsidenten  thematisieren nur wenige Kommentatoren. Auf der Titelseite des Samstag-Feuilletons der FAZ greift Michael Hanfeld, nach achtzig Zeilen „Ende einer Hetzjagd?“, eine sensible Frage auf: Warum beschäftigte sich selbst die Bildzeitung nicht mit Frau Wulff und ihrer Vergangenheit?

„Von ehrverletzenden Gerüchten über Bettina Wulff, die man bei einer Google-Suche im Internet sofort angezeigt bekommt, war, wenn wir es richtig überblicken, in der deutschen Qualitätspresse nirgends zu lesen, nicht einmal in der „Bild“-Zeitung. Blogs hingegen sind voll davon. Und hingedeutet darauf hat niemand anderes als Wulff selbst – in seinem Interview mit ARD und ZDF.“

Im englischen oder amerikanischen Boulevard wäre die Vergangenheit der First Lady schnell ein Thema gewesen, vielleicht als Pretty-Woman-Story, vielleicht als Skandal. Niedersächsische Zeitungen wussten schon davon zu Zeiten, als Wulff Ministerpräsident in Hannover war. Sie brachten nichts darüber trotz der Verärgerung, dass Wulff seine Trennung, Scheidung und neue Freundin exklusiv über „Bild“ öffentlich gemacht hatte.

Michael Hanfeld verteidigt, nach einigen Seitenhieben, die Recherche-Leistung der deutschen Zeitungen: „Es sind ohne Zweifel Pharisäer unter uns. Es gibt auch keinen Grund, zu jubeln. Doch eine Presse, die ihre Arbeit ernst nimmt, kann auf Recherchen und auf die entsprechenden Berichte und Kommentare nicht verzichten. Den Gegenstand dafür hat Christian Wulff produziert. Er hat sich politisch selbst zerstört.“

Dass auch Zeitungsleser die Medien genau beobachten,  zeigt ein Leserbrief aus Gotha, den die „Thüringer Allgemeine“ in der Dienstag-Ausgabe (21.2.2012)  veröffentlicht:

„Unfraglich hat sich Christian Wulff mehr als ungeschickt und in keiner Weise auf dieses Amt vorbereitet verhalten. Wahrscheinlich sollte man die Stellenbeschreibung für das Amt des Bundespräsidenten bis ins Detail präzisieren. Denn wer immer auch bereit sein sollte, für dieses Amt zu kandidieren, muss wissen, dass es für ihn keine Privatspäre und keinen Datenschutz geben wird.

Er muss wissen, dass der große Bruder, die Presse, ihm ständig über die Schulter schaut und auch die kleineste Verfehlung in Vergangenheit und Gegenwart bis ins Detail zu recherchieren vermag. Und die Macht der letzteren ist nicht zu unterschätzen, denn wer mit uns im Fahrstuhl hochfährt, fährt auch wieder mit uns runter, lautet eine eiserne Regel der Klatschpresse.“

Positiv über die Leistung der Journalisten urteilt auch Kurt Kister, der Chefredakteur der „Süddeutschen“, im Leitartikel am Samstag:

„Die Medien übrigens, vor allem die Printmedien, haben in der Angelegenheit Wulff im Großen und Ganzen jene Rolle gespielt, die sie spielen sollten: Es waren professionelle Journalisten, die jene hundert Kleinigkeiten, aber auch die paar sehr relevanten größeren Dinge herausgefunden und veröffentlicht haben. Gewiss, auch dabei gab es Fehler. Übertreibungen und Bizzarrerien wie etwa einen Reime schmiedenden FAZ-Herausgeber oder die Vielzahl der posaunierenden Kollegen, die ein Bobbycar für 30 Silberlinge hielten und jeden Tag dreimal Wulffs Rücktritt forderten.

Ohne die manchmal auch in Sackgassen führende Recherche und durchaus auch das Räsonieren der Journalisten aber hätten die Kontrollmechanismen so versagt, wie sie über Jahre hinaus in Niedersachsen nicht funktioniert haben.“

(zu: Handbuch-Kapiteln 2-3  „Die Journalisten“ und 91 „Recherche“)

 

Aktion zur Leser-Blatt-Bindung: 500 Funklöcher und mehr

Geschrieben am 27. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.

Die Redaktion der „Thüringer Allgemeine“ hatte die Idee: Leser, meldet die Orte, an denen Eure Handys keinen Empfang haben! 500 Leser meldeten die Funklöcher, die Zeitung brachte auf einer Panoramaseite eine Thüringen-Karte mit allen Löchern in allen Netzen. Und die Netzbetreiber kamen ins Schwitzen und kündigten an: Bald wird es keine Funklöcher mehr geben.

Einsam schrieb ein Leser; „Danke für diese detaillierte Karte der Funklöcher Thüringens. Jetzt weiß ich wenigstens, wo ich dem ununterbrochenen Gesabbel entkommen kann, das allerorts über mich hereinbricht. Ein bissel neugierig bin ich ja auch, aber über Hautkrankheit fremder Personen, über Eheprobleme junger Frauen, über Rheuma-Attacken anderer, über Seitensprünge von Ehemännern oder über die Ereignisse und Folgen nächtlicher Orgien möchte ich doch nicht unbedingt informiert werden…“

(zu: Handbuch-Kapitel 56 „Service und Aktionen“)

Kommentare, Hinweise, Fundsachen – bitte!

Geschrieben am 20. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.
2 Kommentare / Geschrieben am 20. Januar 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Vorbildlich (Best Practice).

Ein Klassiker: Tiefpunkt der Interviewtechnik (Welt am Sonntag, 19. 12. 1982)

Die IG Metall fordert in einigen Tarifgebieten, die Löhne im nächsten Jahr um bis zu 7,5 Prozent anzuheben. Die Metall-Lohnrunde hat Signalwirkung für die Lohnerhöhung auch in anderen Branchen und im öffentlichen Dienst.
WELT am SONNTAG fragte Dieter Kirchner, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Gesamtmetall: In der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit solche Forderungen aufzutischen, ist doch wohl ein Scherz?
Kirchner: Da haben Sie ein mildes Wort gewählt.
WELT am SONNTAG: Warum verhandeln Sie überhaupt über solche unsinnigen Forderungen?
Kirchner: Wir müssen verhandeln. Dazu sind wir vertraglich verpflichtet. Die Firmen und ihre Belegschaften würden ein anderes Verhalten
auch nicht verstehen.

 So steht es im Kapitel 26 „Das Interview“ im neuen Handbuch. Das Beispiel ist exzellent, aber bald dreißig Jahre alt. In diesem Blog bitte ich um neue Beispiele zu allen Themen: Einfach „Kommentare“ anklicken.

Erwünscht sind Hinweise auf bemerkenswerte Artikel in Zeitungen und Zeitschriften, besonders solche, die – positiv wie negativ – das Zeug zum Klassiker haben; Sprachperlen und Sprachsünden; vorbildliche Aktionen und  Checklisten; Buchhinweise usw.

Die Artikel in diesem Blog bekommen bei Facebook manches „Gefällt-mir“-Zeichen, aber die Leserinnen und Leser geizen mit Kommentaren. „O Kommentare“ steht unter der Überschrift; ich würde mich freuen, wenn der eine oder andere Aufgeregte, Begeisterte, Neugierige auf „Kommentare“ klicken würde.

 

 

Wulff: Ich bin nachtragend bei Journalisten

Geschrieben am 10. Januar 2012 von Paul-Josef Raue.

Ich werde bei Kritik manchmal sehr grimmig“, sprach Christian Wulff, als er Ministerpräsident von Niedersachsen war. Während des Landtagswahlkampfs 2008 antwortete er so auf die Frage eines kleines Mädchens bei der Kinderpressekonferenz der Braunschweiger Zeitung.

Marcel Rosenbach vom „Spiegel“ hat den kurzen Film von dieser Pressekonferenz  im Netz entdeckt bei der Recherche für seinen Wulff-Artikel im aktuellen Spiegel.
Der komplette Wortlaut auf die Kinder-Frage, wie gut er denn Kritik vertragen könne:

„Ich glaube, dass ich mit Kritik gut umgehen kann, wenn sie nur einleuchtend ist. Wenn ich also sage: Okay, der hat Recht, der hat da eine Schwäche bei mir entdeckt, ich hab da einen Fehler gemacht, jetzt wird der Fehler hervorgehoben.

Wenn Kritik unberechtigt ist, bin ich – glaube ich – genauso ärgerlich wie jeder, der sich kritisiert fühlt, aber es nicht einsehen will. Wenn Eure Eltern Euch etwas sagen und sie haben Recht – sagt Ihr auch: Naja, okay. Wenn sie nicht Recht haben nach Eurer Meinung, sagt Ihr auch: Ist überhaupt nicht okay und schmollt und zieht euch zurück. Ich glaube, es ist bei Erwachsenen auch so.

Insofern bin ich bei Kritik, wenn sie unberechtigt ist, manchmal sehr grimmig. Ich weiß es vor allem noch 20 Jahre später. Manchmal schaffe ich Redakteure, die in der Zeitung etwas geschrieben haben und sage: Damals, 1981, linke Spalte, dritte Seite – und das nehmen die mir manchmal übel, 20 Jahre später, dass ich das noch weiß und nicht vergessen habe.

 Wenn Journalisten mal kritisiert werden, dann kann ich Euch sagen, dann ist was los. Die können überhaupt keine Kritik ertragen, die kennen das gar nicht. Wir Politiker werden ja ständig kritisiert. Wir haben ein ganz dickes Fell.

 Ich möchte aber, dass Menschen mit dünnem Fell in der Politik sein können. Das ist manchmal schwierig. Man liest jeden Tag was über sich in der Zeitung und das ist nicht immer positiv.“

 Die Braunschweiger Zeitung organisierte und organisiert viele solcher Leser-Debatten, -Interviews und –Foren; sie bekam für das Konzept der „Bürgerzeitung“ 2010 den Deutschen Lokaljournalistenpreis, im Braunschweiger Dom verliehen von Wulffs Vorgänger im Amt des Bundespräsidenten, Horst Köhler. Die Kinderpressekonferenz mit allen Spitzenkandidaten ist eine von mehr als 50 BZ-Leseraktionen, ins Leben gerufen während eines langweiligen Landtag-Wahlkampfs.

(Zu Handbuch-Kapitel 56 Service und Aktionen in „Die Zukunft der Zeitung“)

Seiten:«12345

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