Alle Artikel der Rubrik "Vorbildlich (Best Practice)"

Wer kürt noch den Redakteur des Monats?

Geschrieben am 3. Juli 2012 von Paul-Josef Raue.

Die für ihre Exklusivmeldungen bekannte Neue Osnabrücker Zeitung fördert mit einem verlagsinternen Wettbewerb die journalistische Qualität. Monatlich kürt das Blatt Mitarbeiter, die bemerkenswerte Beiträge ins Blatt gebracht haben. Die Gewinner erhalten eine Prämie. (aus dem Medienbrief der Industrie- und Handelskammern)

Als ich vor gut zwei Jahrzehnten in Alaska bei den Anchorage Daily News hospitierte, standen auf den Schreibtischen Kaffeebecher mit Widmungen wie „Beste Bildzeile Juli 1987“ oder „Bestredigierte Nachricht November 1986“. Wenn ich mich recht erinnere: Diese Auszeichnung hatte nur zu Beginn die Chefredaktion verliehen, danach rückten die Ausgezeichneten für einige Zeit in die Jury auf (Last-in-First-out).

Das hatte zwei Vorteile: Die Redaktion verlieh selber die Auszeichnungen, und die Jury-Mitglieder durften sich nicht gegenseitig ehren, so dass nicht immer dieselben Redakteure auf der Ehrenliste standen (die am Schwarzen Brett zu lesen war).

Die Auszeichnung gab es abwechselnd für die beste Reportage, Recherche, das beste Interview – also für wechselnde Genres.

Wo gibt es Auszeichnungen innerhalb der Redaktion? Wer plant solches?

(zu: Handbuch-Kapitel 46-47 „Die Redaktion“)

Mehr zur Anchorage Daily News im Handbuch-Kapitel 17 „Die eigene Recherche“

Wie schreibe ich eine milde Kritik?

Geschrieben am 30. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
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Der Kritiker schätzt Donna Leon, die Krimi-Autorin, aber ihm gefällt der neue Krimi nicht. Er verreißt ihn nicht, er verplaudert ihn.

Er verweist auf das Alter der Autorin, bald 70; auf die Jahreszeit, in der der Roman spielt: Herbst, der Winter des Lebens steht vor der Tür; auf die Gattin von Kommissar Brunetti, die sich eingehend mit der „Lichtmetaphorik im Spätwerk von Henry James“ beschäftigt. „Brunettis Fall ist entsprechend“, schreibt der Kritiker, milde und klar.

Noch milder, noch klarer der Satz: „Und nach und nach findet sich der Krimi, wohlgeordnet wie die Wohnung einer alleinlebenden, älteren Dame: Alles ist an seinem Platz.“

Fast, nur fast kippt am Ende die Milde des Kritikers, offenbar ist das Buch allzu langweilig: „Doch es geht langsam voran in ,Reiches Erbe‘ – fast so, als wär’s ein Spätwerk von Henry James.“

(Kritik von „wfr“ in Literarische Welt vom 26. Mai 2012)

(zu: Handbuch-Kapitel 37 „Der Kommentar“)

Deutsche Lokaljournalistenpreise: Glückwunsch nach Bonn, Dortmund und Regensburg!

Geschrieben am 18. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.

Die Deutschen Lokaljournalistenpreise sind die Oscars der Zeitungsbranche. Sie werden für große Projekte, Konzepte und Serien vergeben – wie für das Konzept der Familienzeitung, mit dem Chefredakteur Andreas Tyrock den ersten Preis für den Bonner Generalanzeiger holt.

Nach Regensburg und zur Mittelbayrischen Zeitung, die erstmals auf das Treppchen steigt, geht der zweite Preis für das Konzept der Themenwochen.

Der zweite Preis wird geteilt und geht auch an die Westfälische Rundschau in Dortmund und somit vor allem an Frank Fligge, den stellvertretenden Chefredakteur und Vater der großflächigen Themenpräsentation im Lokalen.

In den einzelnen Kategorien gehen die Preise an:

  • Augsburger Allgemeine (Kategorie Geschichte)
  • Badische Zeitung (Service)
  • DeWeZet (Alltag)
  • Rhein-Zeitung (Reportage „Lobo, der Wolf vom Zentralplatz“)
  • Süderländer Tageblatt (Wirtschaft)
  • Saarbrücker Zeitung (Integration)
  • Stuttgarter Zeitung (Alltag)
  • Thüringer Allgemeine (Zeitgeschichte)
  • Weser Kurier (Verbraucher)

(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)

Wer ist ein guter Kritiker?

Geschrieben am 14. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
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„Die Texte sind lebensnah, der Autor hat ein Herz“, so schreibt die FAZ über ihren Filmkritiker Michael Althen, der, nicht einmal 50 Jahre alt, im vergangenen Jahr gestorben ist.

Was macht den Zauber seiner Texte aus? Wer einen Film gesehen hat und die Kritik liest, sagt sich: „Woran liegt es, dass er über Erfahrungen und Empfindungen schreibt, von denen ich dachte, ich wäre mit ihnen allein?“ (FAZ vom 12. Mai)

Was wäre ein weniger guter Kritiker? Einer der „nur in den Betrieb, ins jeweilige Milieu hineingesprochen hätte“.

Selbst die Künstler mochten seine Texte. So sitzen Autoren, Regisseure und Schauspieler in der kleinen Jury, die den Althen-Preis für Kritiker vergeben wird, den die FAZ stiftet. „Es geht um Kritik, die nicht unbedingt recht haben will, um Kritik, die sich die eigenen Gefühle nicht mit wasserdichten Begriffen vom Hals hält, um Kritik, die vom Bewusstsein lebt, dass analytische Schärfe und Wahrhaftigkeit der Emotion einander nicht ausschließen.“

Um von Althen zu lernen, wäre es gut, wenn es ein Buch mit seinen besten Kritiken gäbe. Das Taschenbuch „Warte, bis es dunkel ist“ ist vergriffen. Zu lesen sind darin so schöne Sätze wie diese:

„Das Kino ist keine Wunschmaschine, sondern vor allem eine Folterbank. So lange man jung ist, lässt es uns von all jenen Wünschen träumen, die wir uns erfüllen können, wenn wir erst mal alt genug sind. Kaum ist man erwachsen, schürt es die Sehnsucht nach einer Jugend, die wir so leider nie erlebt haben. Im Kino ist man entweder zu alt oder zu jung, zu reich oder zu arm – oder zu deutsch, um etwa amerikanisch zu sein oder französisch.“

(zu: Handbuch-Kapitel 47 „Newsdesk und Ressorts (Die Kultur)“)

Was ist ein journalistischer Selbstversuch? Gene basteln

Geschrieben am 5. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
Kommentare deaktiviert für Was ist ein journalistischer Selbstversuch? Gene basteln / Geschrieben am 5. Mai 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Recherche, Vorbildlich (Best Practice).

Ist der journalistische Selbstversuch eine neue Form der Recherche und Reportage? In der FAS vom 29. April erzählen drei Journalisten, wie sie in der Ecke ihres Berliner Büros mit Genen experimentierten – so wie es offenbar immer mehr Amateure weltweit probieren, in ihrer Küche oder den legendären amerikanischen Garagen.

Die Journalisten als Biohacker können preiswert Erbgut kaufen; die Maschine, gebraucht, kaufen die Journalisten für 240 Euro.

  • Wieviel Schaden können Amateure anrichten?
  • Besteht das Unbehagen über die Unregulierbarkeit der Gentechnik zu Recht?

Diese Fragen wollen die Journalisten Hanno Charisius, Richard Friebe und Sascha Karberg beantworten, deren Recherche von der Bosch-Stiftung unterstützt wird.

Im Editorial wirft Jörg Albrecht die Frage auf: Wie weit dürfen Journalisten den Status des Beobachters und Kommentators verlassen und selber ins Geschehen eingreifen?

Der „Selbstversuch“ orientiert sich an der „teilnehmenden Beobachtung“ der soziologischen Feldversuche. Er ist aber mehr als Beobachtung, er ist eine besonders gründliche Recherche, aufwändig, aber lohnend.

Wer kennt ähnliche journalistische Selbstversuche? Wer hat so etwas schon selber gemacht oder darüber berichtet?

(zu: Handbuch-Kapitel 17-18″Wie Journalisten recherchieren“)

Wie werde ich Bürgermeister? – Wahlen im Lokalen

Geschrieben am 22. April 2012 von Paul-Josef Raue.

Am heutigen Sonntag (22. April 2012) wählen Thüringer in den meisten Städten und Landkreisen ihre Bürgermeister und Landräte. Die  Thüringer Allgemeine hat über viele Woche ihre Leser neugierig gemacht auf die Wahl, die Kandidaten, die Probleme in ihrer Stadt, die Lösungen, die Möglichkeiten.

Mit dem TA-Mobil, einem reinen Elektro-Auto (mit all seinen Tücken), fuhren die Volontäre jeden Tag in eine der kleineren Städte, um mit den Kandidaten auf der Straße zu sprechen; die Leser waren zu diesen Interviews eingeladen, die Termine angekündigt.

Die Volontäre besuchten 49 Städte und Gemeinden, die sie zumeist zum ersten Mal sahen, sie sprachen mit weit über hundert Kandidaten. In seiner Bilanz erzählt Nicolas Miehlke von den finanziellen Schwierigkeiten von Bürgermeistern und Bürgern, von Fördermitteln und der Neuordnung der Gemeinde-Grenzen, aber er schreibt auch (TA 20.4.2012):

In den kleinen Gemeinden haben wir Menschen getroffen,die sich einfach für ihren Ort engagieren wollen, fernab von Parteimeriten. Leute, die reden, wie es ihnen aus dem Herzen kommt, und sich nicht mit Politikersprech ins Ungefähre retten.

In 16 von 49 Kommunen gab es auch keine Widerrede, weil es nur einen Kandidaten gibt und die Wähler nur Ja oder Nein stimmen können.

Alle Artikel, alle mehrspaltig als Aufmacher, standen im Thüringen-Teil der Thüringer Allgemeinen, hatten also die größtmögliche Leserschaft – selbst wenn es um den Bürgermeister einer Gemeinde mit nur wenigen tausend Einwohnern ging.

Mein Leitartikel in der Ausgabe vor der Wahl (21.4.2012) war auch ungewöhnlich, wandte sich an die Bürger, die laut verkünden, das Vertrauen in die Politiker verloren zu haben.

Wie werde ich Bürgermeister?

Haben Sie auch kein Vertrauen mehr in unsere Politiker? Sind Sie enttäuscht von den Parteien? Klopfen Sie ihrem Nachbarn auf die Schultern, wenn er über den Zustand unseres Landes klagt?

Wenn einer sagt: „Es wird immer schlimmer“, nicken Sie dann und wiederholen: „Ja, immer schlimmer.“ Und wissen Sie auch nicht, wie man das ändern kann?

Warum kandidieren Sie nicht? Als Bürgermeister beispielsweise. In einigen thüringischen Städten gibt es nur einen Kandidaten, so dass die Bürger keine richtige Wahl haben.

Warum sagt keiner von denen, die immer nur klagen: Ja, ich werde Bürgermeister! Ich zeige, wie man es besser macht! Ich beweise, dass die Bürger Vertrauen haben können – in mich beispielsweise!

„Das ist ein Scherz“, sagen Sie. Nein, in kleineren Städten reichen ein paar Tausend Stimmen und ein überzeugender Auftritt – und Sie sind gewählt, sogar ohne einer Partei nahetreten zu müssen.

Für die Wahl am Sonntag kommt eine Kandidatur wohl zu spät, aber Sie können es sich ja überlegen: Schon in zwei Jahren beispielsweise wählen die Thüringer die Gemeinde- und Stadträte.

Wenn Sie gewählt wurden, weil ihnen die Bürger vertrauen, dann klagen Sie vielleicht nicht mehr so laut. Vielleicht sagen sie: „Es geht uns eigentlich recht gut in dieser Demokratie. Sicher, manches könnte besser sein, aber ich kann ich ja dafür kämpfen.

In einer Demokratie darf man stöhnen und verdrossen sein ohne Ende. Aber man darf auch mitmachen, es besser machen. Zumindest sollte man wählen gehen.

Am Sonntag auf jeden Fall.

Online sind alle Artikel und Bilder zu sehen auf:
www.wahlen-in-thueringen.de
Dort stehen heute im Wahl-Ticker auch alle Ergebnisse.

(zu: Handbuch-Kapitel 56 „Service und Aktionen“)

Journalisten als Künstler – einfach provokant

Geschrieben am 20. April 2012 von Paul-Josef Raue.

Zum Nachdrehen empfohlen: Ein Reporter der Bildzeitung stellt in der Kunstmesse „Art Cologne“ ein selbst gemaltes Bild aus – „Das ist KUNST“ steht mit dahin geschmierten roten Acryl-Buchstaben auf dem Gemälde, dazu ein paar gelbe Kringel und signiert mit „Mike B.“.

Ermöglicht hat die Aktion ein befreundeter Galerist, der das Bild in die Messe schmuggelte. Bildzeitungs-Reporter Bischoff notiert, wie ihm ein Maler Respekt zollt („provokant“) und eine Kunststudentin das Werk auf mehrere Tausend Euro taxiert. (Bild-Bundesausgabe 20. April 2012)

(zu: Handbuch-Kapitel 32 „Die Reportage“ und 55-56 „Der neue Lokaljournalismus / Service und Aktionen“)

Amoklauf – Der Spagat zwischen Nähe und Distanz

Geschrieben am 12. April 2012 von Paul-Josef Raue.
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Die Waiblinger Kreiszeitung und die Thüringer Allgemeine verbindet ein tragisches Ereignis: Beide Redaktionen mussten über einen Amoklauf berichten – der erste in Erfurt vor zehn, der zweite in Winnenden vor drei Jahren.

Beide Redaktionen haben sich intensiv damit beschäftigt, wie Journalisten über einen Amoklauf berichten sollten. Wie schon zuvor die Redakteure in Winnenden setzen sich auch die Redakteure in Erfurt heute (12. April 2012) zu einem Workshop zusammen, um sich mit dem „Dart Center for Journalism and Trauma“ auf den Zehn-Jahres-Tag des Amoklaufs vorzubereiten.
Um das journalistische Verhältnis von Nähe und Distanz geht es auch dem Kreisredakteur Peter Schwarz aus Winnenden, der das Buch ”Der Amoklauf“ in der Thüringer Allgemeine rezensierte. Das Buch schrieben Redakteure aus Erfurt; die einzelnen Teile erscheinen zuvor in der Zeitung als Serie.
„Selbstverständigung über das Unbegreifliche“ ist die Rezension von Peter Schwarz überschrieben:

Es gibt viele Bücher über Amokläufe, eindringliche und effekthascherische, wissenschaftliche und erzählerische, und so liegt eine Frage nahe: Musste dieses Buch jetzt auch noch sein? Die Antwort fällt leicht: Es ist gut, dass es dieses Buch gibt. Es dokumentiert, was geschah, spürt den Folgen nach und hilft einem Gemeinwesen bei der Selbstverständigung über ein letztlich nie völlig begreifbares Entsetzen.

Die Journalisten der ”Thüringer Allgemeine“, der in Erfurt ansässigen Zeitung, haben es geschrieben. Der Lokaljournalist ist angesichts einer solchen Aufgabe in ein Spannungsfeld hineingezwungen: Einerseits muss er Distanz wahren – sie gehört zu seinem Handwerk, sie ermöglicht es, Ambivalenzen zu erkennen, vorschnelle Urteile zu vermeiden, die Komplexität von Ereignissen auszumessen.

Andererseits muss er Nähe zulassen – er kennt die Betroffenen, ist selbst Teil dieser Stadt, reist nicht nach zwei Wochen wieder ab an den nächsten Katastrophenschauplatz.

Die Autorinnen und Autoren des Buches haben es geschafft, diese widerstreitenden Rollenanforderungen auszubalancieren: Sie sind ganz offenkundig nahe dran an den Menschen, genießen das Vertrauen derer, die da erzählen, sich erinnern, ihren Schmerz, ihren Zorn, ihre Zweifel offenbaren.

Und die Journalisten wahren Distanz, indem sie allen zuhören, alle ernst nehmen und dabei auch Widersprüche aushalten, unterschiedliche Wahrnehmungen nebeneinander stehen und gelten lassen. Zu Wort kommen: Hinterbliebene von Ermordeten; Polizisten; Rettungshelfer; Lehrer; Schüler; Seelsorger; ein Freund des Todesschützen; die Eltern von Robert Steinhäuser.

Nach dem Amoklauf von Erfurt rissen Klüfte auf – das war unausweichlich, wie überall, wo derart Unfassbares geschehen ist. Weder übertüncht das Buch diese Bruchstellen harmoniesüchtig noch ergeht es sich in skandallustiger Überbelichtung.
Zum Beispiel: die 17. Kerze. Nicht nur für die Opfer, auch für den Mörder, der sich schließlich selbst erschossen hatte, wurde bei der Trauerfeier auf den Stufen des Erfurter Doms – etwas abseits – ein Licht aufgestellt. Es nieselte und windete an jenem Tag, immer wieder erlosch die 17. Kerze, immer wieder aufs Neue wurde sie entzündet. Er habe sehr damit gerungen, erinnert sich ein katholischer Theologe; letztlich sei es die richtige Entscheidung gewesen. Die Frau eines ermordeten Polizisten sagt: ”Ich kann das nicht verstehen.“

Der Polizeieinsatz am 26. April 2002: Zu vorsichtig, zu zögerlich sei er verlaufen – die Kritiker kommen zu Wort in diesem Buch; genau wie der Einsatzleiter, der sich seinerzeit zwischen Töpfermarkt und ”Autofrühling“ mit einer Herausforderung konfrontiert sah, für die es keinen Erfahrungswert gab: ”Aus heutiger Sicht haben wir natürlich Fehler gemacht.“ Aber ”aus unserem Einsatz hat man vieles gelernt, was man zuvor nicht wissen konnte. Wir waren die Null-Serie.“

Dieses Buch liefert nicht den einen, großen Gesamtdeutungswurf, verordnet nicht die eine, letztgültige Lesart. Und hilft gerade dadurch, den 26. April 2002, seine Folgen und die verschiedenen Gefühlslagen so vieler auf so unterschiedliche Weise Betroffener zu verstehen.

Zu den beeindruckendsten Passagen gehört ein Interview mit einem Fotografen. Behutsam und gelassen verteidigt er seinen nach Erfurt – und auch wieder nach Winnenden – heftig in Verruf geratenen Berufsstand. Er erinnert daran, dass er bei solch einem Geschehen eine wichtige Aufgabe zu erfüllen habe: als Chronist.

Zugleich offenbaren seine Bilder und die seiner Kollegen in diesem Buch, dass es möglich ist, zu dokumentieren, ohne zu entblößen. Trauernde sind zu sehen, aber nicht im Moment der Übermannung, des Außer-sich-Seins. Auf Fotos von Erschossenen wurde ganz verzichtet. Es gab, begründet der Fotograf, ”ausreichend andere starke Bilder, um das Ausmaß des Geschehens zu zeigen“. Viele von ihnen sind hier vereint: von Kugeln durchschlagene Scheiben und Türen; ein leeres Klassenzimmer, an der Tafel sind noch die chemischen Formeln lesbar, die eine Lehrerin anschrieb, bevor sie starb. Auch Bilder, die während des Amoklaufs entstanden: ein Schild in einem Fenster, handgeschrieben in Großbuchstaben steht darauf ein Wort: ”HILFE“.

Anhand solcher Bilder offenbart sich, wie gut im Buch der Spagat gelungen ist zwischen Nähe und Distanz: Sie zeugen von einer entschlossenen Chronistenbereitschaft, die sich doch nie in respektloser Grenzüberschreitung ergeht. Es sind erschütternde Aufnahmen, aber sie zielen nie auf reinen Schauwert. Sie malen nicht grell aus. Sie zeigen, was geschah.

Ein Mann, der seine Frau verlor, sagt: ”Die Zeit, so heißt es, würde alle Wunden heilen. Was für ein Unsinn. Man lernt nur, mit ihnen zu leben.“ Dieses Buch kann dabei helfen.

THÜRINGER ALLGEMEINE vom 11.04.2012, S. 3
Das Buch: Hanno Müller / Paul-Josef Raue (Hg): Der Amoklauf. Klartext-Verlag, Essen, 203 Seiten, 12,95 Euro

(zu: Handbuch-Kapitel 49 „Wie Journalisten entscheiden sollten“)

Zehn Jahre nach dem Amoklauf von Erfurt

Geschrieben am 11. April 2012 von Paul-Josef Raue.

Der Amoklauf von Erfurt am 26. April 2002, ein Neunzehnjähriger erschießt zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten und sich selbst. Wieder ein Jahrestag – zudem ein Jahrestag, der an einen Tiefpunkt des deutschen Journalismus mahnt. Auf der Jagd nach Gesichtern, Exklusiv-Geschichten und intimen Szenen haben Journalisten schwere Fehler gemacht, viele haben weder die unbeschreibliche Trauer der Opfer geachtet noch die Verwirrung der Kinder berücksichtigt, die beim Verlassen der Schule über ihre toten Lehrer steigen mussten.

Wie gehen Journalisten zehn Jahre danach mit dem Amoklauf, vor allem mit den Opfern um? Die Redakteure der „Thüringer Allgemeinen“ schreiben in einer großen Serie über die Interviews mit den Menschen, die den Amoklauf erleiden mussten – als Angehörige, Freunde der Opfer, Augenzeugen oder Helfer. In teilweise bewegenden Gesprächen spürten die Journalisten, dass zehn Jahre danach die Wunden noch nicht verheilt sind, die Verletzungen an der Seele weiter schmerzen.

Die Serie, die zur Zeit in der TA läuft, ist auch gebündelt als Buch erschienen, das am Dienstag nach Ostern in Erfurt vorgestellt wurde:

Hanno Müller und Paul-Josef Raue (Herausgeber): Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern und Gedenken. Klartext-Verlag, Essen, 203 Seiten, 12,95 Euro

Rücktritt nach Redaktionsschluss: Wie es der „Spiegel“ machte

Geschrieben am 21. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Ein Meisterstück präsentierte der „Spiegel“, der wegen des Rosenmontags schon am Samstag erschien: Als Wulff seinen Rücktritt erklärte, wurde die aktuelle Ausgabe schon gedruckt mit dem Titel „Der unvermeidliche Rücktritt“. Gleichwohl negert die Redaktion nicht, tut nicht so, als habe sie seinen Rücktritt erlebt (was ja gewaltig ins Auge gehen kann). Wer den glänzend geschriebenen Aufmacher liest, liest ihn mit dem Wissen des tatsächlichen Rücktritts; aber an keiner Stelle arbeitet die Redaktion unsauber, sie spricht nur von der Möglichkeit und Unvermeidlichkeit des Rücktritts. Eine Lehrstunde des Konjunktivs!

„Focus“ brachte auf dem Titel zwar auch etwas über Trennung und Abschied, aber nichts über Wulff: „Die 25 härtesten Scheidungstricks“.

Die Bundestags-Wochenzeitung „Das Parlament“ wurde vom Rücktritt offenbar kurz vor Redaktionsschluss überrascht. Sie brachte zwei Titelseiten: Die eigentliche zum Rücktritt „Bellevue sucht Nachmietert“; die dritte Seite zeigte die ursprünglich produzierte Titelseite zur EU: „Schluss mit den Zweifeln!“

 

 

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