Personenvereinzelungsanlage: Der Einzelne ist ein außer der Welt hockendes Wesen (Friedhof der Wörter)
Philosophen plagen sich seit Jahrtausenden mit der Frage: Was ist der Mensch? Das Individuum? Der Einzelne?
„Gibt es etwas Größeres als der einzelne Mann?“, fragte Sokrates, der bekanntlich unentwegt kommunizierte. Adeimantos antwortete: „Ja, der Staat!“
Schauen wir gnädig über die Gleichsetzung von Mann und Mensch hinweg: Die Emanzipation der Frau hatte noch keinen Platz in der philosophischen Männergesellschaft der Griechen.
Was uns interessieren sollte, ist das Verhältnis vom Menschen, wenn er einzeln ist, und dem Staat. Was für Sokrates noch eine philosophische Frage war, ist für den demokratischen Staat eine technische Herausforderung.
Er hat die „Personenvereinzelungsanlage“ geschaffen, die nicht nur ein Wort-Monstrum ist mit 27 Buchstaben, sondern eine perfekte Erfindung, um einen Menschen – gleich ob Frau oder Mann – zu dem zu machen, was er wirklich ist: einzeln.
Wer unser schönes Deutschland nach einem Türkei-Urlaub wieder betritt, muss auf dem Flughafen durch eine Tür treten, die sich gleich hinter ihm schließt: In den schmalen Raum passt immer nur ein Mensch – einzeln.
Den Raum verlassen kann man nur – einzeln. Eine ähnliche Personenvereinzelungsanlage gibt es beim Betreten eines Gefängnisses, wie sie eifrige Zuschauer des sonntäglichen „Tatort“ bestens kennen.
Wir warten nur noch auf Philosophen, die unsere moderne Gesellschaft erklären zu einer gigantischen, vom Staat geförderten Personenvereinzelungsanlage. Auf dem besten Weg dazu sind wir, auch ohne Staat, dank Handy und Smartphone, Facebook und Google. Wir sind sozial – und einzeln, wie ein außer der Welt hockendes Wesen.
*
Thüringer Allgemeine, 12. Mai 2014, Friedhof der Wörter
Schafft im Internet viele lokale Systeme! Und der Bürger wird sich freuen
Sollen wir zufrieden sein, dass wir theoretisch Kontakt zu jeder Person in Uganda aufnehmen können – eine Möglichkeit, welche die meisten von uns nicht nützen -, auch wenn wir dafür jegliche Kontrolle über die staatliche Technologiepolitik aufgeben?
So fragt der Harvard-Wissenschaftler Evgeny Morozov und plädiert gegen Facebook und Google für die Schaffung vieler lokaler Systeme, „die entkoppelt wären von den Geschäftsinteressen der großen Technologie-Unternehmen“. Es werde Zeit, aus dem geistigen Winterschlaf aufzuwachen!
Der Blick auf Standardisierung und Vereinheitlichung, die durchaus vorteilhaft sind, hat uns laut Evgeny Morozov davon abgehalten, mit lokaler Kommunikation im Netz zu experimentieren. „Wir sind angetreten, ein globales Dorf zu bauen – doch gelandet sind wir in einem globalen Panoptikum.“
Quelle: SZ, 20. Januar 2014
Wenn Möchtegern-Journalisten das Ende des Journalismus beschwören
Jahrelang ließen sich Redakteure auf die virtuelle Schlachtbank führen: Ihr seid ein Auslaufmodell! Euer Ende naht!
Wie die Zeugen Jehovas, die den Weltuntergang prophezeien (1914, 1925, 1975 oder irgendwann), kündigen die modernen Verächter die papierne Endzeit an: Das Harmagedon der Zeitungen. Aber es gibt auch ein paar Mutige, die sich den Propheten des Untergangs entgegenstellen. Sie seien in diesem Blog genannt, geehrt und zitiert – wie Michael Hanfeld in der FAZ (7. August 2013):
Im Internet beschwören Möchtegern-Journalisten unablässig das Ende der Zeitung und des Journalismus – und haben selbst kein Geschäftsmodell, was sie Verlegern stets vorhalten. An der Bedeutung des Journalismus, wie er von Zeitungen und Zeitschriften geprägt wird, hat sich nichts geändert.
Noch immer orientieren sich die Debatten in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft an dem, was Redaktionen zutage fördern. Journalisten sind als Stichwortgeber längst nicht mehr allein, aber im Gegensatz zu Online-Konzernen wie Google, die ihr Eigeninteresse als Allgemeinwohl ausgeben, viel ehrlichere Makler auf dem Markt der Meinungen.
Es folgt ein Satz, der den Verächtern täglich vorzulesen ist:
Es ist ein Irrsinn, dass Journalisten sich an der Verächtlichmachung ihrer Profession und ihrer gesellschaftlichen Aufgabe auch noch munter beteiligen.
Michael Hanfeld fügt an: Dabei geht es in der Krise nicht um journalistische, sondern um ökonomische Fragen.
Caveman, Shitstorm und die „Stille Post“: Wenn Journalisten voneinander abschreiben
Wir sind auf eine fiktive Shitstorm-Agentur hereingefallen, wir entschuldigen uns – so die SZ in ihrem Feuilleton vom 6. April über ein Interview, das sie am 5. April veröffentlicht hatte und auch Grundlage meines Blog-Eintrags war.
In dem Interview behauptete ein offenbar tatsächlich existierender Oliver Bienkowsky, er würde gegen Geld Shitstorms organisieren; dabei würden ihm Obdachlose helfen, die falsche Profile in sozialen Netzwerken anlegten. Das sei eine Medienmanipulation.
Auf seiner Webseite schreibt „Cavemann“:
Im Gegensatz zu Unternehmen haben Gruppen am Rande der Gesellschaft keine große Lobby, die es ihnen ermöglicht, mit viel Investment große Reichweite und Aufmerksamkeit für ihre lebensbedrohlichen Anliegen zu finanzieren.
Jetzt nutzen wir unsere erprobten Mechanismen und Hebel der Medienmanipulation, um ein Thema aufzuzeigen und wieder zur Diskussion zu bringen, welches uns besonders am Herzen liegt:
Obdachlose Menschen und das grassierende Wohnungsproblem in deutschen Städten sollten noch mehr ins Tageslicht und so auf die Titelseiten gerückt werden.
Dieses Vorhaben ist uns geglückt mit einer geschickt platzierten Story, die das eigentliche Thema in satirischer Art und Weise aufgreift.
Wir gaben bekannt, dass wir fortan Obdachlosen einen Tagesaufenthalt bieten. Bei medizinischer Pflege, frischem Obst und Essen, wird die Zeit genutzt, um an Computern an der Erstellung von Facebook- und Twitter-Kommentaren zu arbeiten. Die Aussage krönten wir noch mit der Erwirtschaftung von Gold in Onlinegames wie World of Warcraft und der Betreuung von Shit- und Candystorms im Internet.
Wir bedanken uns bei allen Medienverlagen und Onlineredaktionen, das Sie dem Thema Obdachlosigkeit für kurze Zeit einen Platz in der Berichterstattung eingeräumt haben.
„Caveman“ beschreibt detailliert das Drehbuch der „Medienmanipulation“:
1. Am 07.11.2012 stellten wir auf www.caveman-werbeagentur.de/shitstormagentur die bekannte „Shitstormagentur“ Seite ins Netz. Zusätzlich reservierten wir die Domain www.shitstormagentur.de
Wir indexierten diese bei Google und waren kurze Zeit später im Google Index unter dem Begriff „Shitstormagentur“ auf Seite 1.
Parallel schalteten wir auch zu dem Suchbegriff „Shitstormagentur“ Google Adwords Anzeigen.
So lagen wir perfekt in der Google Suche, um vom einem Redakteur entdeckt zu werden. Nun legten wir uns auf die Lauer.
2. Schon im Dezember, nachdem wir diese Aktion auf unserer Facebook Fanseite promotet hatten und die Google Adwords-Anzeigen wirkten, sprangen 10-20 Personen bei Twitter und Facebook an – und berichteten über unsere Aktion.
Doch das Interesse war gering, keine Zeitung oder Onlinedienst sprang auf die Tweets und Facebook Berichte an, OBWOHL bei Twitter Tweets wie „Aktiver Image-Abbau durch die eigene Klientel: was sagen @bvdw und @wuv zum Thema: Shitstorm kaufen?! http://www.caveman-werbeagentur.de/shitstormagentur …“
herumgeisterten.
W&V hatte also schon am 21. Dezember 2012 die Möglichkeit zu berichten. Doch dieser Sturm verebbte schnell wieder. Nun mussten wir noch ein wenig länger warten.3. Als dann am 31.03.2013, ohne dass wir es vorher wussten, die ZEIT auf der ersten Seite im Feuilleton den Bericht „Nehmt es als Erfrischung“ veröffentlichte und unsere Dienstleistung nannte, startete unser Raketentriebwerk die nächste Stufe.
Dazu mussten wir nichts machen. Zuerst kontaktierte uns Telepolis / Heise Online – hier versuchten wir die IT-Security Vergangenheit und Zeitungsartikel über WLAN Sicherheit dazu zu nutzen, eine glaubhafte Story zu präsentieren. Das klappte dann auch soweit. Der Redakteur rief bei uns am 02.04.2013 an. Der Artikel erschien am 03.04.2013.
4. Jetzt ging die Sache richtig los. Am 03.04.2013 19 Uhr kopierte Focus Online die Meldung um 19 Uhr von Heise. Nach einem Telefonat mit Meedia.de folgte auch dort ein Artikel. Die in der Schweiz ansässige Werbewoche übernahm am 03.04.2013 den Bericht direkt von Meedia.de. Die Stille Post ging also immer weiter.
Am Abend des 03.04.2013 wechselten wir die Profilbilder von Oliver Bienkowski auf unserer Agenturseite, bei Twitter, Xing und Facebook gegen ein gemeinsames Satire- Foto von Martin Sonneborn (Titanic) und Oliver Bienkowski aus. Martin Sonneborn hat mit der Aktion nichts zu tun, es ist nur ein Foto das beim Besuch seiner Show Satire & Krawall in Düsseldorf entstanden ist.
5. Nun schalteten wir die nächste Raketenstufe. Unsere Behauptung am 04.04.2013:
Wir beschäftigen Obdachlose, die den ganzen Tag World of Warcraft Gold farmen, auf Facebook Profile klicken und bei Twitter Nachrichten schreiben, Shitstorms organisieren und gewitzte Kommentare hinterlassen.
Am 04.04.2013 fiel Horizont.net auf, dass erst einmal ein wenig Satire durchklingt und es ein Foto von Martin Sonneborn und Oliver Bienkowski auf der Homepage gibt.
6. An diesem Tag gaben wir auch der Süddeutschen Zeitung ein Interview, das am 05.04.2013 auf Seite 1 im Feuilleton erscheint. Gute Sache, 68.000 Euro Image und Markenwerbung gespart – so viel kostet eine Seite Werbung in der Süddeutschen Zeitung.
7. Am Abend des 04.04.2013 fuhren wir mit Gebäck und einem Schild mit der Aufschrift „580.000 Obdachlose sind eindeutig zu viel!“ zur uns bekannten Düsseldorfer Bahnhofsmission. Hier verteilten wir schon im Dezember 2012 selbst gebackene Kekse. Wir schossen das Foto vor der Bahnhofsmission.
8. Nun veröffentlichen wir in der Nacht des 05.04.2013 vor der logistischen Auslieferung aller Zeitungen die Auflösung auf unserer Homepage. Allen interessierten Lesern der Zeitungsberichte wird beim Besuch unserer Webseiten die Auflösung präsentiert.
Diese Satire wirft nicht nur einen Blick auf das Leiden der Obdachlosen, sondern auch auf die Arbeitsweise von Journalisten (dieser Blog eingeschlossen): Was „Caveman“ stille Post nennt, ist das unendliche Abschreiben ohne eigene Recherche – das durch die Online-Hektik noch zugenommen hat und vor allem im Medienjournalismus bis zum Überdruss praktiziert wird.
Die Süddeutsche brachte ihren Reinfall nicht nur als kleine Korrekturmeldung, sondern als Dreispalter auf der ersten Feuilletonseite, so als hätte sie eine Gegendarstellung am Ort die Erstveröffentlichung bringen müssen. Kompliment! Andreas Kreye endet seinen Dreispalter:
Trifft es andere, berichten auch wir davon mit Vergnügen. Nun traf es uns.
Wie Leser mit Facebook & Co den Redakteuren helfen
Lars Wienand (38), Social-Media-Redakteur der Rhein-Zeitung, gibt in einem Interview mit „istlokal.de“ Beispiele, wie Leser den Redakteuren helfen können mit Themen-Anregungen, Nachrichten und Meinungen, Bildern und Videos:
1. Videos von einem eindrucksvollen Unwetter kamen von Lesern; ein Drittel der Videos hatte die Redaktion allerdings auch selber im Netz gefunden.
2. Fünf Minuten nach der Meldung „Tankstellen verlangen jetzt Geld für Luft in Reifen“ hatten Leser zwei Fälle von Tankstellen im Verbreitungsgebiet gemeldet. Wienand: „Die Suche wäre ohne diese Hilfe wohl sehr mühsam gewesen. Das zeigt, dass Social Media nicht nur Arbeit, sondern auch Arbeitserleichterung bedeuten kann.“
3. Ein Dutzend Leser meldeten sich, als die Koblenzer Lokalredaktion der Rhein-Zeitung per Tweet erfahren wollte, wie Amazon mit seinen Beschäftigen umgeht.Nach dem Artikel in derZeitung meldeten sich auch zufriedene Amazon-Mitarbeiter.
4. Auf den Tweet der Kollision eines Autos mit einem Traktor reagiert eine Leserin: Ist die mehrspurige Straße überhaupt für Traktoren zugelassen? Die Redaktion postet die Frage bei Facebook und fragt gleichzeitig bei der Polizei. Doch auf die Antwort der Polizei, der Traktor dürfe nicht fahren, reagiert ein Fahrlehrer: Die Polizei irrt. Die Redaktion ruft noch einmal bei der Polizei an, korrigiert den Text und macht den Ablauf transparent. Lars Wienand: „Der Zugriff auf das Informationsbedürfnis (Dürfen da Traktoren fahren?) und die Expertise (Auskunft der Polizei ist falsch!) vieler Quellen macht uns besser. Zur Ehrlichkeit gehört aber auch: Es nimmt auch die Zahl der Hinweise zu, die sich interessant anhören, sich aber bei Nachfragen in Luft auflösen.“
5. Auf „Google+“ können Leser Bilder posten, etwa bei einem Hochwasser, aber auch die schönsten „Sonnenuntergänge“.
Lars Wienand nennt als Regeln, wie genau man Leser-Reaktionen überprüfen muss, dieselben Regeln, die schon immer im Journalismus galten:
Wenn es ein leichtes Erdbeben gab, dann taugt auch die Dame, die sagt, dass ihr Hund eine halbe Stunde vorher bereits verrückt gespielt hat, für einen Satz – ohne weitere Überprüfung. Wenn aber eine Frau berichten will, dass ihr Nachbar ihr von unhaltbaren skandalösen Zuständen bei Amazon erzählt hat, dann bitten wir sie um Verständnis, dass wir das schon vom Nachbarn selbst hören möchten. Mit dem Gewicht einer Nachricht oder von Vorwürfen wachsen auch die Anforderungen an die Quelle und der Aufwand, die Glaubwürdigkeit zu checken.
Wenn Aachener Printen gedruckt werden
„Printen wir die Zeitung? Oder drucken wir noch?“ war ein „Friedhof der Wörter“ in diesem Blog überschrieben. Am Freitag suchte ein Leser bei Google „printen – aachen – pralinen“ und landete bei – „Printen wir die Zeitung“.
Wortschöpfer: Löffelfertig, ticktacken und mähmähen
Christian Lindner, Chefredakteur der Rhein-Zeitung, hörte ein neues Wort und twitterte:
Wie heißt das Pendant zu „Schlüsselfertig“ bei Hotel-Projekten? „Löffelfertig„. (In Gespräch mit Makler gelernt)
Das Wort hatte ich auch noch nicht gehört, scheint bei Hauskäufern- und verkäufern geläufig zu sein: 27.000 Einträge bei Google.
Dirk Koch hat in „Murt“, seinem fulminanten Erzähl-Buch aus Irland, lautmalend zwei Verben erfunden:
- „ticktacken“ hat gerade mal 1600 Fundstellen, kommt wohl im Plattdeutschen vor;
- „mähmähen“ hat gerade mal eine Handvoll Google-Einträge, die zu entlegenen Stellen führen.
Was interessierte die Deutschen 2012 mehr: Dirk Bach oder die Finanzkrise?
Was und wer interessierte die Deutschen am meisten? Genauer als jede teure Meinungsumfrage zeigt es der „Google-Zeitgeist“, die Rangliste der am meisten gesuchten Stichworte in diesem Jahr.
Diese Rangliste ist Grundlage für mein Editorial, geplant für die Silvesterausgabe der Thüringer Allgemeine:
Den Revolutionen geht die Freiheit aus
Die Welt in Unruhe – doch die Deutschen interessierten diese Themen 2012 am meisten: Fußball und Olympia, Bettina Wulff, ein Fallschirmsprung vom Rand der Welt und das neue I-Pad
Es geht uns gut in Deutschland, ja: Es geht uns gut. Sicher wird bei einigen Zeitgenossen die Zornes-Ader schwellen, wenn sie dies lesen. Sie werden zu Recht auf die Schwächen hinweisen, auf Skandalöses in einem wohlhabenden Land wie die Armut, die zu viele Kinder trifft, oder das Versagen der Geheimdienste, die rechte Terroristen jahrelang morden ließen.
Wie können wir messen, ob es einer Gesellschaft gut geht? Der beste Maßstab ist der Vergleich: In einer unruhigen Welt ist Deutschland ein Ruheraum.
Bei uns herrscht nicht einmal eine Wechselstimmung: Bei aller Unzufriedenheit mit Politikern und Parteien, trotz Präsidentenwechsel im Jahrestakt, Finanzkrise und Unmut über große Banken neigen die meisten Deutschen zum Gleichmut.
Während die einen seit Jahren großes Unheil vorhersagen, gar den Zusammenbruch in Europa menetekeln, bleibt die Mehrheit ruhig und widmet sich anderen Themen. Was interessierte die Deutschen in diesem Jahr?
Die Rangliste der Themen, die 2012 millionenfach im Internet gesucht wurden, darf als gigantische Meinungsumfrage gelten, als der Trend schlechthin. Auf den ersten vier Plätzen stehen:
• Zwei große Sportereignisse: voran die Fußball-Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, bei der die Deutschen wieder den Titel verpassten; auf dem dritten Rang die Olympischen Spiele in London, in der sonst kühle Engländer ein Sommermärchen inszenierten und Deutschland nicht nur 44 Medaillen holte, sondern eine Sportart feierte, die zuvor kaum jemand kannte: Beach-Volleyball, das überaus spannende Spiel im Sand.
• Dazwischen schiebt sich der Tod eines Komikers: Dirk Bach, gerade mal 51 Jahre alt, starb einsam in einem Berliner Hotel; das Herz, das plötzlich versagt hatte, bewegt die Menschen mehr als alle anderen nationalen Ereignisse.
• Ein nahezu unbekannter Österreicher und sein Sprung vom Rand der Welt nimmt den vierten Rang ein: Felix Baumgartner ließ sich 39.045 Meter hoch fliegen, wo es keine Luft mehr zum Atmen gibt, und sprang – buchstäblich atemberaubend – auf die Erde zurück.
Politik auf den ersten zehn Rängen? Nichts, einmal abgesehen von Bettina Wulff, bis zum Februar Deutschland Erste Dame, bei der die meisten Anfragen aber nicht ihrem Wirken galt, sondern einem Gerücht – das millionenfach online verbreitet wurde, sich dadurch wie eine Wahrheit las und das doppelte Gesicht der Internets offen legte.
Wirtschaft auf den ersten zehn Rängen? Keine Finanzkrise, kein Banken-Skandal, keine Ratingagentur – sondern zwei Produkte, das Samsung-Smartphone und das neue I-Pad von Apple.
Um uns herum die Welt ist meist unruhig. Einige Jahr lang feierten wir den Triumph von Freiheit und Demokratie und das Ende der Diktatoren. Wir gaben diesen Revolution einen schönen Namen: Der arabische Frühling – und wir dachten an eine Idylle, wie wir sie von unseren Reisen in die Sonne kennen.
Doch in der Welt ist kein Frühling ausgebrochen, sondern der Herbst der Revolutionen:
• In Syrien tobt der Bürgerkrieg, und so recht traut kaum jemand den Aufständischen zu, dass sie Freiheit und Gleichheit etablieren werden.
• Im Jemen gilt die Scharia, die Gesetze-Sammlung nach islamischem Recht wie etwa das Verschleierungs-Gebot für Frauen; in Ägypten soll sie etabliert werden.
• In Tunesien gilt offiziell nicht die Scharia, aber die herrschenden Islamisten dulden Verfolgung im Namen der Scharia.
• Palästina ist gespalten, wobei sich keines der befeindeten Lager als Vorhut der Freiheit versteht.
• Der Iran hatte den persischen Diktator verjagt, aber nach der islamischen Revolution einen neuen Unterdrückungs-Staat aufgebaut mit Geheimpolizei und Steinigungen; heute droht das Land mit Atombomben, die nicht nur Israel vernichten, sondern auch Ziele in Westeuropa treffen könnten.
• Der Irak ist nicht befreit, die Emirate wehren jede Revolution ebenso ab wie Saudi-Arabien.
In diesen und vielen anderen Ländern spielt die Religion eine große Rolle, auch bei Menschen, die gegen die Unterdrückung kämpfen. Wir können uns im aufgeklärten Deutschland, vor allem im weitgehend religionsfreien Osten, nicht mehr vorstellen, wie sich Gott und seine Vertreter auf Erden in die Ordnung der Gesellschaft einmischen – und dies von der Mehrheit der Menschen bejaht wird.
Wir verstehen diese Welt nicht mehr, obwohl wir Weltmeister im Verreisen sind – und die Welt versteht uns oft nicht mehr.
Dabei heißt „verstehen“ nicht: gut heißen oder gar akzeptieren. Aber wer nicht verstehen will, verliert zu schnell den Respekt vor dem anderen, dem Fremden.
Auch auf anderen Kontinenten herrscht mehr Unterdrückung als Freiheit, auch im wirtschaftlich aufstrebenden China, das jährlich Tausende von Aufständen unterdrückt.
Russland hat die Revolution von 1990 längst verraten: Das Land ist von einem Rechts- und Freiheitstaat so weit entfernt wie Pussy Riot von Putin. Undsoweiter
Selbst in Westeuropa, in einer der besten Demokratien der Welt, zerfleddern die ersten Freiheits-Fahnen der Revolution: Ungarn nähert sich ungeniert einer Ein-Parteien-Herrschaft, der Balkan kommt erst gar nicht zu Ruhe.
Und ist es ein Zufall, dass Spanien und Griechenland Europa ins Wanken bringen – zwei Länder, in denen die Menschen noch nach dem Zweiten Weltkrieg Diktatoren erleiden mussten?
Es scheint ein Gesetz der Geschichte zu sein, dass auf Revolutionen die Konterrevolutionen folgen. In der Tat ist es wohl leichter, die Freiheit zu zerstören, als sie mühsam aufzubauen. Die nachrevolutionären Wirren der Welt zeigen nicht mehr Bilder von Frauen, die unverschleiert Rosen in Gewehrläufe stecken, sondern zerfetzte Leiber von Kindern und Flüchtlingslager. Revolutionen sind keine Jahreszeiten: Es gibt keinen Frühling und keinen Winter, es gibt nur Freiheit, die Menschen erkämpfen – immer wieder.
Vielleicht lohnt ein Gedanke, ein dankbarer Gedanke, dass Deutschland seine friedliche Revolution nicht verraten hat – bei aller Ungleichheit, die noch herrscht, bei allen Missverständnissen und Vorurteilen, die östlich wie westlich wabern.
Deutschland ist ein friedliches Land, ein ruhiges Land, in dem der Tod eines Komikers mehr erregt als ein Bürgerkrieg, gerade mal vier Flugstunden von uns entfernt.
(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen + 5 Die Internet-Revolution)
Was dürfen Redakteure in den sozialen Netzen? 10 Regeln
Wie sieht es in Redaktionen aus, wenn sich Redakteure in sozialen Netzen bewegen? Gibt es Regeln? Herrscht völlige Freiheit? Animieren Chefredakteure ihre Redakteure, in die sozialen Netze zu gehen?
Die Organisation „Deutschland sicher im Netz“ (DsiN) hat zehn Regeln für Unternehmen herausgegeben. Sind diese Regeln auch auf Redaktionen anwendbar?
Zu DsiN gehören 18 Unternehmen von der Telekom über Google und Kinderhilfswerk bis SAP; kooperiert wird mit dem Innenministerium und Fraunhofer.
Hier die 10 Regeln für die sichere Nutzung von Social Media laut Pressemitteilung:
1. Eine Social Media Richtlinie ist heute idealerweise Bestandteil des Arbeitsvertrags. Wer mit weniger auskommen möchte, sollte seinen Mitarbeitern mit ein paar Regeln deutlich machen, was vom Arbeitgeber gewünscht ist und was nicht. Damit Geschäftsgeheimnisse nicht an die Öffentlichkeit gelangen, ist es z.B. sinnvoll, bestimmte Themen zu benennen, die entweder verstärkt oder keinesfalls in Social Media aufgegriffen werden sollen.
2. Vor der Erstellung eines Firmenauftritts in einem sozialen Netzwerk sollte in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen und Datenschutzbestimmungen sorgfältig nachgelesen werden, welche Rechte die Betreiber an eigenen Bildern, Texten und Informationen erhalten.
3. Mitarbeiter können über private und berufliche Accounts in Sozialen Netzwerken auftreten. Dadurch wird der Unterschied zwischen Privat- und Berufsleben klar gemacht. (Beispiel privat: Lieschen Müller; Beispiel Firmen-Account: Lieschen Müller, Firma XY).
4. Alle Zugänge sollten durch sichere Passwörter geschützt werden, die mindestens 8 Zeichen lang sind sowie Klein- und Großschreibung, Ziffern und Sonderzeichen beinhalten.
5. Vorsicht vor Schnüfflern: In den Einstellungen sollte festgelegt sein, dass fremde Personen nicht die Kontaktlisten (Kollegen, Geschäftspartner) einsehen können. Kontaktanfragen sollten vor der Bestätigung kritisch geprüft werden, denn Konkurrenten können soziale Netzwerke nutzen, um ihre Wettbewerber auszuspähen (Social Engineering).
6. Diskussionskultur: In manchen Foren oder Diskussionsgruppen tummeln sich notorische Nörgler. Beschimpfungen können Imageschäden verursachen, da sie meist nicht löschbar sind. Wenn Unternehmenseinträge in einem Netzwerk sehr negativ kommentiert werden, sollten die Mitarbeiter die Vorwürfe in Ruhe mit dem Chef bzw. Kollegen besprechen. Es empfiehlt sich, die Vorwürfe sachlich zu beantworten, die Diskussion dabei aber nicht endlos zu führen.
7. Bevor ein Mitarbeiter selbst als Autor aktiv wird, sollte er als „Follower“ bzw. Leser Erfahrungen sammeln. Berührungsängste können z.B. durch einen internen Workshop abgebaut werden, bei dem sich Mitarbeiter über ihre Erfahrungen austauschen.
8. Vor der Verwendung von Fotos sollte sichergestellt werden, dass die Bildrechte auch für Online-Medien erworben wurden. Auch ein Impressum ist bei allen Internetangeboten Pflicht.
9. Äußern sich Mitarbeiter in Sozialen Netzwerken in unerwünschter Form, so gilt die Reihenfolge Ermahnung, Abmahnung, Kündigung. Bei schwierigen Fällen in den Bereichen Personal, Recht und Business Development ist es ggf. sinnvoll, sich extern beraten zu lassen.
10. Kriminelle nutzen soziale Netzwerke für Phishing. Daher sollten Mitarbeiter nicht unvorsichtig auf jeden Link klicken und erst recht nicht auf dahinterliegenden, gefälschten Seiten Benutzernamen und Kennwort eingeben.
(zu: Handbuch-Kapitel 5ff. Der Online-Journalismus + 58 Die Ausbildung zum Redakteur)
Google löscht und löscht und löscht
Hunderttausende von Webseiten entfernt Google aus seiner Suchmaschine, weil Nutzer protestieren – wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte. Constanze Kurz berichtet am Freitag in der FAZ (17.8.2012): Jede Woche bekommt Google mehr als eine Viertelmillion Löschungsbegehren.
Rechtliche Grundlage für diese „DMCA-Takedowns“ ist ein amerikanisches Gesetz, wonach eine Behauptung ausreicht, damit ein Nutzer die Löschung einer Webseite erzwingen kann; der Inhaber der Seite muss klagen und den Beweis der Richtigkeit antreten, um die Seite wieder ins Netz stellen zu dürfen.
Die deutsche Gema hat sogar eine Schnittstelle bekommen, um Filme und Musik auf Youtube selber löschen zu können. Constanze Kurt meint:
Natürlich werden die Schnittstellen zur Sperrung auch missbraucht, um unter dem Vorwand einer Urheberrechtsverletzung missliebige Inhalte zu zensieren. Menschen sind bei der Abarbeitung solcher Begehren kaum mehr beteiligt; man benötigte auch eine halbe Armee, um die Unmengen zu bewältigen.
Wer eine Quälerei auf dem Schulhof als Video auf Facebook zeigt, wird nicht so schnell behelligt – es sei denn, er klagt nicht gegen eine Verletzung der Persönlichkeit, sondern des Urheberrechts.
Infos zu: GOOGLE
- durchsucht täglich 20 Milliarden Webseiten
- bekommt täglich 3 Milliarden Suchanfragen
- speichert 30 Billionen Links
(zu: Handbuch-Kapitel 5 Die Internet-Revolution + 17-18 Wie Journalisten recherchieren)
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