Gemeinplätze fürs Volk: Was Roger Willemsen über Merkels „Wir schaffen das“ dachte (Friedhof der Wörter)
Wir schaffen das!
dürfte der meist wiederholte Satz der vergangenen Wochen sein: Drei kurze Wörter, vier Silben. So sind die großen Sätze der Weltgeschichte gebaut, ob man sie mag oder verabscheut.
Yes we can!
lauteten die drei Wörter, die Barack Obama ins Weiße Haus beförderten. Man könnte Obamas Wahlslogan als Vorbild von Merkels „Wir schaffen das“ betrachten. Aber noch einer nutzte den Slogan – vor Obama, vor Merkel.
Am 1. Juli 1990 gab’s die D-Mark für alle, trat die deutsch-deutsche Währungsunion in Kraft – und Helmut Kohl sprach im Fernsehen:
Wir werden es schaffen.
Das „werden“ macht den Satz allerdings kraftloser: Ein Wort zu viel – und schon merken sich die Leute stattdessen „die blühenden Landschaften“, die zudem die Phantasie fliegen lassen.
Obama und Merkel – oder wohl ihre Redenschreiber – machten es besser. Merkel hatte bei der ersten großen Krise, der Finanz- und Griechenland-Krise, schon einmal geübt: „Gemeinsam können wir es schaffen“, sagte Merkel in ihrer Neujahrs-Ansprache; mit der Analyse dieser Rede eröffnet Roger Willemsen, der am Sonntag verstorbene Schriftsteller, sein Buch „Hohes Haus“. Ein Jahr lang saß Willemsen im Bundestag, hörte zu und schrieb auf, was er sah und dachte.
Willemsen geht den Wörtern auf den Grund:
Was ist dieses »es«? Wo ist der Schauplatz für dieses »gemeinsam«? Und wie belastbar ist diese Rhetorik?
Die Wörter sind leer: Was bedeutet „es“? Was bedeutet „das“ in „Wir schaffen das“? Doch die Leere ist gewollt: Unter „es“ und „das“ kann sich jeder seine eigenen Gedanken machen und glaubt, es seien die Gedanken der Kanzlerin. Das ging in der Finanzkrise gut, in der aktuellen Flüchtlings-Krise geht es nicht mehr gut: Das Volk macht sich seine eigenen Gedanken über das „das“.
„Wer an der Macht nicht auffällt und sich mit dem Volk auf Gemeinplätzen verabredet, kann immer weiter herrschen“, schrieb Roger Willemsen – und ein paar Zeilen weiter: „Sie weiß, was wir hören wollen.“ Eben kurze Sätze, drei Wörter, vier Silben.
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Roger Willemsen starb, 60 Jahre alt, am Sonntag, 7. Februar 2016
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 15. Februar 2016
Unspruch des Jahres: „Ich bin kein Rassist, aber…“ plus Macho-Spruch des Jahres (Friedhof der Wörter)
Wir haben das Wort des Jahres, das Unwort des Jahres und das Jugendwort des Jahres. Die Österreicher haben noch den Spruch des Jahres:
Frankreich wir kommen!
Den werden die meisten Deutschen nicht verstehen: „Frankreich wir kommen“ war das Motto der österreichischen Fußballer, die sich nach über einem halben Jahrhundert wieder sportlich für die Europameisterschaft qualifizieren konnten. Der Spruch macht deutlich: Die Österreicher waren weise, als sie sich von den deutschen Wörtern, Unwörtern und Jugendwörtern lösten – auch wenn sie die gleiche deutsche Sprache sprechen.
Sprache ist an einen Ort gebunden: Manches, was in Deutschland gesagt wird, interessiert in Österreich kaum jemanden – und umgedreht auch. Weise waren die Österreicher auch, als sie nicht nur vom deutschen Wort des Jahres verabschiedeten, sondern auch den Spruch des Jahres von den Bürgern wählen ließen.
In Deutschland wählt den Spruch des Jahres eine „Deutsche Akademie für Fussballkultur“ – ja wirklich: „Fußballkultur“, wobei wohl nicht nur an den Kulturbeutel beim Duschen gedacht ist.
Sind drei Sätze mit 18 Wörtern noch ein Spruch? In der Fußballkultur offenbar:
München ist wie ein Zahnarztbesuch. Muss jeder mal hin. Kann ziemlich weh tun. Kann aber auch glimpflich ausgehen,
sprach Sebastian Prödl , ein Österreicher, vor dem Spiel bei den Bayern.
Zur Wahl stand auch ein 18-Wörter-Spruch von Bruno Labbadia, als er Trainer in Hamburg werden sollte:
„Ich habe meine Frau vor die Wahl gestellt: Mallorca oder HSV? Aber ich habe sie nicht ausreden lassen.“
Der Spruch könnte der Macho-Spruch des Jahres sein.
Den Unspruch des Jahres wählen die Österreicher auch – und die fünf Wörter haben es in sich: „Ich bin kein Rassist, aber …“ In der Regel folgt ein rassistischer Spruch, tausendfach in den unsozialen Netzwerken zu lesen.
Und welcher Spruch wäre der bundesdeutsche des Jahres? Drei Wörter, die man nicht gut finden muss, die aber jeder kennt, jeder zuordnen kann: „Wir schaffen das“.
Die drei Wörter sprach die Kanzlerin in einem größeren Zusammenhang auf einer Pressekonferenz Ende August in Berlin, aber nur drei Wörter blieben haften:
„Deutschland ist ein starkes Land. Wir haben so vieles geschafft, wir schaffen das. Wir schaffen das, und wo uns etwas im Wege steht, muss es überwunden werden.“
Nico Fried tritt zurück: Der letzte „Spreebogen“ mit viel Geschwurbel
Als Kurt Kister seine Samstags-Kolumne in der SZ aufgab, um sich als Chefredakteur in vielen Konferenzen zu langweilen, da war ich sicher: Das ist der Tod der besten Politik-Kolumne unserer Republik. Wer konnte es wagen, sich mit Kisters feiner Ironie und seinem Wissen des Politik-Betriebs zu messen, mit Kisters eigenem Erzähl-Ton und einer Melancholie, die überdeckt, wie einer an dieser Demokratie und ihren Akteuren leidet.
Nico Fried wagte es, ein Kister-Schüler, der in die meisten seiner „Spreebogen“-Kolumnen einen Satz einschob als Running-Gag: „Wenn man einen Chefredakteur hat, der früher mal mein Büroleiter war…“ Nico Fried, seit acht Jahren SZ-Chef in Berlin, hat nicht versucht, Kister zu kopieren; er hat seinen eigenen Ton gefunden, ein wenig milder, ein wenig liebevoller. Er selbst sah sich so in einem „Spreebogen“, als sein Kollege Hulverscheidt nach Amerika ging:
Gelegentlich haben Claus Hulverscheidt und ich auch gemeinsam Artikel geschrieben, besonders gerne über Wolfgang Schäuble. Hulverscheidt war für die Fakten zuständig, ich fürs Geschwurbel. Einmal kamen wir mit so einem Text unter die letzten ichweißnichtwievielten beim Henri-Nannen-Preis, einer renommierten Auszeichnung für Journalisten. Weil die Geschichte keine Reportage war, nahm uns die Jury in die Kategorie Essay. Das war ungefähr so, als würde man bei einem Kochwettbewerb einen Toast Hawaii mit Knäckebrot zulassen. Wir haben den Preis am Ende nicht gewonnen, uns aber gegenseitig fortan voller Ehrfurcht als Essayisten angesprochen.
Eines hat Fried mit Kister doch gemeinsam: Die Liebe zu unserem Land, zur Freiheit und zur Demokratie. Beide würden abstreiten, dass es Liebe ist, Kister noch mehr als Fried. Liebe wäre zu viel Gefühl, meinten sie, wahrscheinlich.
Nun hört auch Fried auf: Welch ein Verlust! Der Samstag hatte immer ein großes Versprechen parat: Den „Spreebogen“. Wer klug war unter den Lesern, überblätterte fünfzig Seiten und schaute zuerst auf den linken Rand im Gesellschaftsteil. In seinem letzten „Spreebogen“ spricht Fried über – Rücktritte; er erzählt von den Politikern, mit denen er über ihren Rücktritt gesprochen hat: Müntfering, Merkel, Seehofer. Und dann verkündet ein großer Kolumnist seinen Rücktritt, seinen eigenen:
Ich habe neulich ein ernstes Gespräch mit mir geführt. Ich habe nicht gesagt: Tritt zurück. Ich wollte nicht blöd dastehen, wenn ich geantwortet hätte: Nö. Stattdessen habe ich mich dazu gebracht, von selbst draufzukommen. Deshalb ist dieser Spreebogen der letzte. Sonst schreibt noch einer, es sei auch höchste Zeit gewesen.
Ich schreibe es nicht, ich weiß, mir wird etwas fehlen am Samstagmorgen.
Alternativlose Bullenscheiße: Der „Friedhof der Wörter“ über den Bullshit
Das Wort sollten Sie sich merken, auch wenn es ein englisches ist: Bullshit. Das Wort zählt nicht zur Hochsprache und bedeutet wörtlich: Bullenscheiße. Weil Bullenscheiße einfach zu vulgär ist, bleiben wir beim Bullshit.
Die meisten Kandidaten für unseren „Friedhof der Wörter“ sind Bullshit:
- Wenn die Kanzlerin „alternativlos“ sagt: Bullshit!
- Wenn ein Verkäufer den Geländewagen als „umweltfreundlich“ anpreist: Bullshit!
- Wenn „natürliches Aroma“ aus Kräuter, Blüten und Dill erzeugt wird: Bullshit!
- Wenn ein Biomarkt „anthroposophisches Gemüse, geerntet bei Vollmond“ verkauft: Bullshit!
Es gibt sogar einen Bullshit-Philosophen: Der Amerikaner Harry Frankfurt. Er warnt: Bullshit richtet mehr Schaden an als Lügen. Er schaut sich vor allem bei Politikern und Werbetextern um, in Behörden, bei Esoterikern – und bei Journalisten.
Schon Rudolf Augstein, der Gründer des Magazins „Spiegel“, war sicher: Mindestens ein Artikel jeder Ausgabe ist unverständlich. Ob unsere Zeitung eine Ausnahme macht?
In Konferenzen versuchen Redakteure, die Augstein-Regel zu durchbrechen. Aber es ist ein schier aussichtsloser Kampf: In jeder Konferenz gibt es einen, der Unsinn geschrieben hat, aber all seine Intelligenz einsetzt, ihn zu rechtfertigen. Ich bin sicher, dass dies in Unternehms-, Gewerkschafts- und Schulkonferenzen ähnlich ist, in Kabinetts-Sitzungen erst recht.
„Wir können wirklich nicht ohne Wahrheit leben“, schreibt der Bullshit-Philosoph Frankfurt. Aber ohne Bullshit werden wir nicht auskommen, meinen Tobias Hürter und Max Rauner, die Journalisten, die ein schönes Buch geschrieben haben: „Schluss mit dem Bullshit. Auf der Suche nach dem verlorenen Verstand“.
Sie raten: Lacht über den Bullshit! Stellt die Bullshitter bloß! Nehmt sie nicht ernst! Aber auch die Gegner des Bullshits kommen nicht ohne ihn aus – etwa bei einem netten Gespräch, einem Smalltalk. Dafür gibt es übrigens schon Computer-Programme, die automatisch Bullshit erfinden und Tiefgang vortäuschen.
In einem eigenen Kapitel gehen Hürter und Rauner auch auf Medien und Bullshit ein: Da gibt es den Boulevard, ohne den viele Menschen nicht auskommen – auch wenn sie das, was dort geschrieben steht, nicht glauben, erst recht ihm nicht vertrauen. Im Gegensatz zu bunten Blättern halten Hürter und Rauner die Bildzeitung für gefährlich:
Im Kern ist zumeist was Wahres dran, aber es ist bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Bild-Macher haben die Kunst perfektioniert, haarscharf an der Grenze vom Bullshit zur Lüge zu bleiben.
Selbst seriöse Medien geraten schnell in ein bullshitträchtiges Milieu, weil sie Nachrichten immer weiterdrehen müssen, „notfalls mit Gewalt“, weil nichts Neues zu berichten ist. Sie bedienen Sterotypen, bieten Schnipsel an statt der „ganzen Wahrheit“, befriedigen ein „tiefes menschliches Bedürfnis“: „Die Neugier. Nach der Lektüre hat man das beruhigende Gefühl, Bescheid zu wissen.“
Sie heben Rolf Dobelli hervor, den Schweizer-Bestseller-Autor, der keine Zeitungen mehr liest, diese „billigen Zuckerbonbons für den Geist“, sondern nur noch Bücher.
Man kann die Medien durchaus als Bullshit-Fabriken bezeichnen, schließen die Journalisten – und drehen sich noch einmal um die eigene Achse und zitieren den Philosophen Alain de Botton, der Bullshit preist, weil er Geschichten erzählt, „die uns mitfühlen lassen“, eben die berühmten Geschichten, die man sich seit altersher am Lagerfeuer erzählt.“Glamour ist nicht bloß lustig und albern,er ist eine wichtige Kraft des gesellschaftlichen Wandels“, sagt de Botton.
Wem dieser Medien-Bullshit zu dünn erscheint, wandere aus auf eine intellektuelle Spielwiese, die Hürter und Rauner erwähnen: Die Philosophen Mail (Philosophers‘ Mail), ein Blog, in dem Philosophen ein Jahr lang Nachrichten philosophisch erzählten (auf englisch). Den Blog haben sie beendet und beginnen einen noch aufregenderen: Das Buch des Lebens (www.thebookoflife.org) mit den sechs Kapiteln Kapitalismus, Arbeit (darin zum Beispiel: Die Leiden der Führung), Beziehungen („How to start having sex again„), Ich, Kultur und Curriculum. Lesen!
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Das Bullshit-Buch erscheint im Piper-Verlag: 304 Seiten, 16.99 Euro
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 3. August 2015 (hier erweiterte Fassung)
Das „Blabla“ der Politiker: Von Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe (Friedhof der Wörter)
In guten Zeiten gehen die Menschen in den Supermarkt und bekommen alles, was sie brauchen. In schlechten Zeiten legen sich die Menschen einen Vorrat an: Das ist klug, sagen wir, und hören den Geschichten unserer Groß- und Urgroßeltern zu, wenn sie aus den Jahren nach dem Krieg erzählen.
Wenn Politiker von Vorrats-Daten sprechen, die sie speichern, meinen sie nichts Gutes: Sie greifen nach der Freiheit der Bürger und vermuten, dass alle irgendwann etwas Böses tun. Würden sie das Gesetz aber ein Anti-Freiheitsgesetz nennen, spürten die Bürger genau das Ungemach.
„Infrastrukturabgabe“ ist auch ein Nebelwort. Politiker nennen so die Maut, also eine Steuer, die wir – früher oder später – für die Benutzung der Straßen zahlen müssen, die schon mit unserem Geld gebaut worden sind.
Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe sind zwei Beispiele für die Flucht in politische Sprachspiele. Von dieser Flucht sprach schon Helmut Kohl, als er vor dreißig Jahren die Frankfurter Buchmesse eröffnete: „Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert.“ Diese Einsicht hinderte weder ihn noch seine Nachfolger, diese Spiele zu spielen.
Heiner Geißler, kein Freund Kohls, sondern nur ein Parteifreund, sprach vom „Blabla“ mancher Politiker – und schloss uns Journalisten gleich mit ein; er forderte: „Die Wahrheit muss deutlich gesagt werden.“
Nun ist das Gegenteil der politischen Wahrheit nicht die Lüge, sie ist selten. Wer lügt, den erwischen die Kollegen, richten einen Untersuchungsausschuss ein oder verlangen den Rücktritt. Das Gegenteil der politischen Wahrheit ist der Nebel, der uns an der freien Sicht auf die Wirklichkeit hindert.
Fordern wir also: Politiker, sprecht die Wahrheit! Ja, hören wir das Echo. Aber wenn es darauf ankommt, also bei Wahlen, Parteitagen und ähnlichen Wahrheits-Kongressen, gewinnt meist der, der im Nebel die beste Sicht hat – und Helmut Kohl folgt: „Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf.“
Im vergangenen Bundes-Wahlkampf war es Peer Steinbrück, der den Nebel mied, klare Positionen bezog – aber sprach, als fühle er sich im Kühlschrank wohl. Der Dresdner Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth hat während des vergangenen Bundes-Wahlkampfs in einer detaillierten Analyse die Reden Merkels und Steinbrücks verglichen: Steinbrück verzichtete auf den Nebel, aber auch auf Emotionen; Merkel nutzte die Emotionen und den Nebel.
Wir schimpfen also auf den Nebel und lassen uns doch gern von ihm einlullen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Juni 2015; erweiterte Fassung
Der längste Buchtitel des Jahres? Aller Zeiten? oder: „Jetzt sprechen die Opfer“ (Friedhof der Wörter)
Bei der Leipziger Buchmesse zeichnete das Magazin „Was liest Du“ am Wochenende den „ungewöhnlichsten Titel“ aus, der das Zeug hat, mit 18 Wörtern auch der längste Titel 2014 zu werden:
Wir sind glücklich, unsere Mundwinkel zeigen in die Sternennacht, wie bei Angela Merkel, wenn sie einen Handstand macht
Autor ist der Regensburger Thomas Spitzer, der sich einen „Slammer“ nennt. Das amerikanische Wort ist abgeleitet von dem Verb „to slam“, das der nutzt, der eine Tür zuknallt oder jemanden runtermacht.
Slammer treffen sich zum „Poetry Slam“, einem Dichter-Wettstreit, bei dem jeder in kurzer Zeit einen neuen Text meist frei vorträgt und das Publikum am Ende den Sieger kürt. Im vergangenen Jahr siegte in Leipzig auch ein Slammer, dessen Buchtitel drei Wörter weniger hatte: „Das Mädchen mit dem Rohr im Ohr und der Junge mit dem Löffel im Hals“.
Während die großen Dichter früher kurze Titel schätzten wie „Lotte in Weimar“ oder „Ulysses“, begann der Schwede Jonas Jonasson 2009 mit einem neun Wörter langen Titel die Bestseller-Liste zu erobern: „Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“. Im schwedischen Original war der Titel allerdings ein Wort kürzer: „Hundraåringen som klev ut genom fönstret och försvann“.
Acht Wörter lang war auch der Buchtitel, den die Frankfurter Buchmesse einst als kuriosesten Buchtitel auszeichnete: „Begegnungen mit dem Serienmörder. Jetzt sprechen die Opfer“. Diese Ehrung gibt es nicht mehr. Leider.
Andrea Nahles auf Rekordjagd: Das längste deutsche Wort 2015 (Friedhof der Wörter)
Politiker sind eitel wie alle Menschen, die sich in der Öffentlichkeit präsentieren müssen, Journalisten inklusive. Herr Gauck will der beliebteste sein, Frau Merkel die erfolgreichste, Herr Steinmeier der bekannteste.
Frau Nahles, die Arbeitsministerin, möchte in den Umfragen auch nach oben steigen, will die bekannteste Politikerin werden, zumindest vor den Damen von der Leyen und Schwesig. Wie es ihr gelingen wird?
Mit Worten, genauer: mit dem längsten deutschen Wort 2015, das nicht einmal in eine Druckzeile passt: „Mindestlohndokumentationspflichteneinschränkungsverordnung“. Mit 58 Buchstaben übertrifft das Wort den 36-Buchstaben-Rekordhalter im Duden um Längen: Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung.
Selbst der legendäre „Donau-Dampfschifffahrtsgesellschafts-Kapitän“ umfasst gerade mal 42 Buchstaben, wird als Wortungetüm diffamiert und Schülern zur Abschreckung vorgeführt.
„Wer nie Deutsch gelernt hat, macht sich keinen Begriff, wie verwirrend diese Sprache ist“, notierte Mark Twain, der amerikanische Dichter des Tom Sawyer, als er vor gut hundert Jahren durch Europa reiste. Er versammelte die „Schrecken der deutschen Sprache“, die er konzentriert im längsten ihm bekannten Wort fand: „Gegenseitigengeldbeitragendenverhältnismäßigkeiten“.
Er kannte Andrea Nahles und ihre Wortgewalt noch nicht.
PS. Es geht noch länger: 85 Buchstaben sind in diesem Blog als der Allzeit-Rekord notiert.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 26. Januar 2015
Eine Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten: Warum wir stolz sein können
Können Sie eine Liebeserklärung an den Osten schreiben?, fragte mich der Südkurier-Chefredakteur Stefan Lutz aus Konstanz am Bodensee. Ja, das ist die Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten Deutschlands:
Die Mauerspechte perforieren die Mauer, die Wessis klopfen auf Trabbis als Willkommens-Gruß, und Helmut Kohl und Lothar de Maiziere verhandeln über die Einheit – vor knapp 25 Jahren.
Der eine, Kanzler seit acht Jahren, ist groß und kräftig; der andere, erst seit einigen Wochen DDR-Ministerpräsident, klein und schmächtig. Der Kanzler wähnt sich als Sieger der Einheit; der DDR-Präsident weiß, sein Staat ist pleite und sein Volk will die Einheit, egal wie.
Nach einem der zähen Gespräche bewegt der DDR-Regierungssprecher den sichtbar mürrischen Kanzler dazu, die Journalisten nicht länger warten zu lassen. Er bittet Kohl vor dem Gästehaus nicht auf der obersten Stufe stehen zu bleiben – aus Rücksicht auf den DDR-Präsidenten, der einen Kopf kleiner ist.
Kohl bleibt oben stehen, sieht die Fotografen, zögert und steigt unwillig eine Stufe hinab. Nun sind sie auf Kopfhöhe, die beiden deutschen Regierungschefs: Ein symbolisches Bild in jeder Hinsicht.
Der Starke und der Schmächtige – in diesem Bild fanden sich die Ostdeutschen wieder, als das Trabbiklopfen leise wurde und zwei von drei Ostdeutschen keine Arbeit mehr hatten. Im Südwesten, eine Tagesreise von Schwedt oder Cottbus entfernt, verschwand schnell das Interesse an dem, was man die „neuen Bundesländer“ nennt – ein typisch westdeutscher Begriff, der suggeriert, man habe ein Land erobert.
Dabei haben die Ostdeutschen unmerklich die Achse des neuen Deutschlands (eigentlich das alte, das verfassungsgemäße) nach Osten verschoben: Berlin, die neue Hauptstadt, liegt näher an Warschau als an Paris; die Kanzlerin kommt aus Vorpommern, der Bundespräsident aus einem schmalen Streifen an der Ostsee, den man Fischland nennt.
Man muss die Ostdeutschen nicht lieben, aber man sollte es zumindest versuchen. Denn – was ist das nur für ein stolzes Volk, das hinter dem Todesstreifen die Sehnsucht auf eine Revolution wach hielt – trotz Indoktrination und Angst vor einer Bande unfähiger und die Menschen verachtenden Politiker? Was ist das für ein Volk, das eine Gesellschafts-Ordnung beerdigte, die ihnen ein gutes Leben und frei Rede verwehrte? Was ist das für ein Volk, dem die einzige Revolution in Deutschland gelang, und die auch noch friedlich?
Sie machen einen das Lieben auch nicht leicht, gelten als mürrisch – und undankbar. Undankbar? Wofür sollten die Ostdeutschen danken?
Sicher ist eine Billion oder noch mehr in die Unternehmen, Städte, Straßen und Landschaften gesteckt worden, damit sie blühen. Aber es war eine Laune der Geschichte, dass die Menschen in Erfurt, Rostock und Dresden unter die Knute der Sowjets kamen und ein sozialistisches Experiment auszuprobieren hatten, während die Brüder und Schwestern in Hamburg, Essen und Konstanz an ihrem Wohlstand arbeiten und am Feiertag, dem 17. Juni, in die Biergärten gehen durften. Nach ihrer Revolution bekamen die Ostdeutschen zurück, was ihnen vorenthalten war und ihnen zustand.
Es ist schon ein westdeutscher Hochmut, dafür Dankbarkeit zu erwarten. Und dieser Hochmut geht den Ostdeutschen gegen den Strich. Was haben sie nicht alles ertragen müssen, als dem Rausch der Revolution der Kater folgte?
Wer eine totale, wirklich totale Veränderung seines Lebens und seines Alltags noch nicht erlebt hat, der gebe sich einmal fünf Minuten und denke nach: Gelänge es mir
> mit dem Verlust meines Arbeitsplatzes fertig zu werden – nach einem Arbeitsleben, in dem Arbeitslosigkeit so gut wie nicht vorkam?
> erstmals einen Versicherungs- und Mietvertrag verstehen, eine Steuererklärung abgeben und einen Kreditantrag ausfüllen zu müssen?
> mit einem ebenfalls deutsch sprechenden Menschen einen Kaufvertrag abzuschließen über einen sechs Jahre alten Golf, der fast so viel kosten soll wie ein neuer?
> einen Menschen zu respektieren, der Beamter ist, eine Buschprämie zu seinem hohen Gehalt bekommt und mit mir so unverständlich, aber kompromisslos redet, als habe er einen Unzivilisierten aus dem Busch vor sich?
Viele, zu viele kamen aus dem Westen, um Karrieren zu machen, die sie wegen mangelnder Eignung in ihrer Heimat nie hätten machen können. Trotz dieser Mitläufer und Günstlinge der Revolution, aber auch dank manch wirklicher Helfer gelang den Ostdeutschen ein zweites Wirtschaftswunder, zumindest im Süden des Ostens, in Sachsen und Thüringen.
Wer weiß schon in Konstanz, dass die Arbeitslosigkeit in Thüringen geringer ist als in Nordrhein-Westfalen und die Zahl der Industrie-Arbeitsplätze, in Relation zu den Einwohnern, die zweithöchste in Deutschland? Manches erinnert an den Aufschwung in Westdeutschland nach Verabschiedung des Grundgesetzes: Ein fleißiges und genügsames, bisweilen auch seltsames Volk schafft sich seinen Wohlstand – und denkt nicht über die Vergangenheit nach.
Man sollte sie einfach lieben, aber jeden Fall zu ihnen reisen. Der Osten ist der schönste Teil Deutschlands: Ein Drittel unseres Welterbes ist im Osten zu besichtigen. Wer beispielsweise nach einer langweiligen Fahrt durch die hessische Kulturwüste über die alte Grenze fährt, den grüßt gleich die Ruine der Brandenburg, die Unkundige schon für die Wartburg halten. Es ist eine Perlenkette entlang der Autobahn:
Die Wartburg, auf der Luther die Bibel übersetzte, grüßt oberhalb von Eisenach, wo Johann Sebastian Bach geboren wurde.
Nicht einmal eine halbe Autostunde entfernt lockt die Residenzstadt Gotha mit dem ältesten englischen Landschafts-Park auf dem Kontinent.
Noch einmal eine halbe Autostunde weiter liegt mit Erfurt eine der schönsten und fast vollständig erhaltenen Altstädte Deutschlands mit dem beeindruckenden Dom.
Nebenan liegt Arnstadt mit der Kirche, an der Bach seine erste Anstellung als Organist bekam.
Ja, und dann kommt Weimar, die deutsche Kulturstadt schlechthin, in der Goethe lebte, liebte und schrieb, und Schiller und Herder und viele andere – und in der Nietzsche starb.
Übrigens: Sie sind wirklich anders, die Revolutionäre und ihre Nachfahren im Osten. Wer ungeduldig fragt: „Ist das denn möglich – 25 Jahre nach der Wende?“, der hat Revolutionen nicht verstanden und kennt nicht mehr die Spätfolgen von Diktaturen, der spürt nicht die Narben in den Seelen der Menschen, die immer noch schmerzen, der ahnt nur, wie schwer es ist, ein Paradies und das Glück der Freiheit zu erwarten und eine Demokratie zu bekommen, die einem keiner so recht erklärt.
So müde auch die Älteren geworden sind, überdrüssig der Veränderungen und der Debatten über Stasi, Mitläufer und Unterdrückung, so neugierig sind die Jungen, so vital und tatendurstig und so unbekümmert. Die Dritte Generation Ost ist das Potential für die Zukunft Deutschlands.
Wir befinden uns in der historischen Zeit „25 Jahre danach“, also im Achtundsechzig des Ostens: Die Jungen halten das Schweigen der Eltern kaum aus; sie wollen wissen, was sie getan und wie sie gelebt haben in der Diktatur. Was ist das für eine Generation, die Dritte? „Eine Generation, die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, weil sie in der Gegenwart wenig darüber erfährt“, so beschreibt sie es in einem Buch, das einfach „Dritte Generation Ost“ heißt.
In manchem ähnelt der Aufschrei der jungen Leute aus dem Osten dem Aufschrei der jungen Achtundsechziger einst im Westen:
Während die Älteren, die Väter- und Großväter-Generation, Ruhe haben will, während sie behaupten, die Jungen wollen die alten Geschichten nicht hören, widersprechen die Jungen laut: „Wer sagt, dass die Vergangenheit für die Jungen keine Rolle mehr spielt, der irrt… Wir wollen nicht mehr ausweichen und um alles lavieren, was mit Ostdeutschland zusammenhängt.“
Die Jungen wollen wissen, warum sie autoritär (aber auch liebevoll) erzogen worden sind – eben so, wie es in der DDR üblich war. Sie wollen wissen, ob eine andere Erziehung besser gewesen wäre und in Zukunft auch wäre – vor allem mit Blick auf ihre Kinder. Sie wissen, dass mit einer Revolution nicht alles untergeht, was die Menschen geprägt hat.
Sie ringen um Antworten, was sie aus dem untergegangenen Land mitnehmen können in das neue Land – und sie wünschen,
dass ihre Eltern dabei helfen. Sie ringen um die Werte und fragen: Welche Werte sind so wertvoll, dass sie nicht über Bord geworfen werden dürfen?
Anders als die Achtundsechziger im Westen begehren sie nicht auf und gehen nicht auf die Straße. Sie haben andere
Möglichkeiten: Sie verlassen einfach ihr Elternhaus, lassen die Alten schweigend zurück und gehen zu Studium oder Lehre in den Westen oder fliegen gleich nach England oder Australien. Sie sehen die Trauer in den Augen der Mütter und verstehen sie nicht; diese Trauer belastet sie sogar, weil sie wissen: Es war schwer in der Diktatur, seinen Kindern trotzdem den aufrechten Gang zu lehren. Aber sie Jungen schütteln die Last der Vergangenheit ab, weil es um ihr Leben geht.
Wir sprechen von weit mehr als zwei Millionen junger Menschen, die in den beiden letzten Jahrzehnten der DDR herangewachsen sind. Sie haben heute einen unschätzbaren Vorteil gegenüber ihren Altersgenossen im Westen: Sie kennen zwei Wirtschafts- und Gesellschafts-Systeme, sie waren – im besten Alter – auf sich selbst geworfen, konnten selbstbewusst in eine neue, eine freie Gesellschaft wechseln, ohne hohe Eintrittsgebühren zahlen zu müssen. Sie kennen etwas, was im Wohlstand und Freiheit aufgewachsene Generationen nicht erfahren: Im besten Alter die Richtung ändern, neu anfangen, die Welt neu denken – ja, die Welt verändern und mit der eigenen anfangen.
Die Erste deutsche Generation entstand aus der Dritten Generation Ost und wurde in der Revolution elternlos in dem Sinne: Sie brauchten ihre Eltern nicht mehr. Am liebsten hätten die Eltern ihre Kinder nach der Zukunft gefragt, hätten Rat gesucht, wie es weitergeht. Aber wer in einem streng hierarchischen System von Oben und Unten gelebt hatte, will sich vor seinen Kindern keine Blöße geben – und schweigt, erst recht wenn er sich nicht sicher ist, ob er das richtige Leben gelebt hat in dem falschen der Diktatur.
Kurz angemerkt sei, um nicht fahrlässig euphorisch zu werden: Es gibt auch Kinder der Revolution, die in den falschen Weg abgebogen sind, die ohne Hilfe hilflos wurden und ihre Energie fatal einsetzen – wie die jungen Terroristen der NSU, die mit ihrer Intelligenz ein Jahrzehnt lang mordeten und die Polizei unseres Landes an der Nase herumführten. Auch das ist eine Parallele zu den 68ern des Westens, von denen einige in den Terror gingen und mordeten und die Gesellschaft ihrer Eltern herausforderten.
Die meisten der Jungen, der Dritten Generation Ost, haben ihren Weg gefunden ohne große Hilfe, denn auch ihre Lehrer waren ratlos und die Ratgeber aus dem Westen selten die besten. Für die Jungen ist Deutschland nicht mehr geteilt, auf jeden Fall nicht in Ost und West, sondern eher in Nord und Süd, in Gestern und Morgen.
So wie die Achtundsechziger den Westen verändert haben, vielleicht sogar radikaler als viele denken, so werden die Achtundsechziger des Ostens die gesamte Republik verändern, langsamer zwar und leiser, aber tiefgreifend. Es ist so: Die Revolution hat Deutschland, auch und gerade den Westen, verändert. Um es neudeutsch zu beschreiben: Nachhaltig verändert.
Unser Land ist ein anderes geworden. Man mag es in der äußersten, der südwestlichen Ecke der Republik kaum merken.
Wer es wenigstens mal ahnen will, reise in den Osten – und nicht nur nach Berlin, unserer Hauptstadt, die zu unserer ersten Metropole geworden ist.
Kommt er nach Thüringen oder Mecklenburg zu Besuch, wird er sich wohlfühlen, erst recht in den Touristen-Hochburgen. Bleibt er länger, bekommt er eine nachrevolutionäre Antipathie zu spüren, die ihn verwirrt oder gar verletzt: Viele in der Eltern- und Rentner-Generation mögen den Fremden nicht, erst recht nicht den Fremden aus dem eigenen Land, der sich über das lädierte Selbstbewusstsein wundert, an die Lebens-Geschichte rührt, darüber sprechen oder gar urteilen will. Da geht es dem Fremden nicht besser als den Kindern der Revolution.
Trotzdem: Wir können die Revolutionäre nur lieben, zumindest aber sollten wir sie und ihr Leben respektieren.
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Im Südkurier erschien die Liebeserklärung am 30. Oktober auf den Seiten 2-3. Online hat ihn die Redaktion in die Exklusiv-Abteilung gestellt:
29.10.2014 | THEMEN DES TAGES | Exklusiv
25 Jahre Mauerfall: Warum wir stolz sein können. Eine Liebeserklärung an Ostdeutschland
25 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen – aber noch heute fremdeln die Deutschen miteinander. Paul-Josef Raue, einer der angesehensten Journalisten Deutschlands, erklärt exklusiv für den SÜDKURIER, warum die Deutschen stolz auf ihren Osten sein können.
Kulturbanausen beim Krisenfrühstück (Friedhof der Wörter)
Was ist ein Krisenfrühstück? Wenn das Ei am Sonnabend statt der gewünschten drei Minuten steinhart gekocht ist; wenn der Prosecco am Sonntagmorgen aus der Dose eingeschenkt wird statt aus der Flasche-.
Und was ist ein Krisenfrühstück, wenn sich Putin und Merkel treffen? Ist dann der Espresso zu kalt? Oder sind die Brötchen zu labbrig? Nein, dann ist nicht das Frühstück die Krise, sondern die Krise das Thema beim Frühstück.
Zusammengesetzte Hauptwörter sind eine Spezialität der deutschen Sprache: Wir können nach Herzenslust neue Wörter bilden – und tun es unentwegt. Doch Regeln unterliegt die Zusammensetzung nicht, wie gesagt: Sie geschieht nach Herzenslust.
Der Holunderbeersaft ist aus Holunderbeeren, aber der Hustensaft nicht aus Husten. Die Feuerwehr bekämpft das Feuer – und die Bundeswehr?
Ein Wortgeselle des Krisenfrühstücks ist das Arbeitsessen (drei zusammengesetzte Hauptwörter!): Ist das Essen die Arbeit? Oder arbeitet man beim Essen? Was wir auch immer darunter verstehen: Es ist ein Kulturbruch!
Jahrtausendelang hat der Mensch gegessen, um zu arbeiten. Als es ihm besser ging und er Kultur erschuf, hat er auch gegessen, um sich des Lebens zu erfreuen und mit netten Menschen zu plaudern. Platon sprach beim „Symposion“, dem Gastmahl, mit Freunden über die Götter und die Welt. Christus feierte seinen Abschied mit seinen Freunden beim Abendmahl.
Und wir Kulturbanausen erfinden das Krisenfrühstück und das steuerlich begünstigte Arbeitsessen.
Ice-Bucket-Challenge: Darf sich ein Redakteur von einem Politiker im Wahlkampf einladen lassen?
Wahlkampf in Thüringen. 16.000 Zuschauer im Erfurter Stadion warten auf den Anpfiff des Ost-Derbys gegen Dresden in der Dritten Liga. Am Rande des Rasens steht Bodo Ramelow, Spitzenkandidat der Linken, mit einem roten „Linken“-T-Shirt; rechts und links von ihm stehen auf zwei Hockern Rot-Weiß-Balljungen mit Eiskübel. Ein künftiger Ministerpräsident, möglicherweise, schüttet sich nicht selber Eiswasser über den Kopf.
Wir sind bei der Eiswasser-Wette, dem Ice Buckett Challenge, in den USA erfunden, um Geld für die kaum erforschte Nervenkrankheit ALS zu besorgen. Wer nicht Eiswasser über seinen Kopf kippt, zahlt hundert Dollar; Bill Gates hat sich beteiligt, Mark Zuckerberg und Bild-Chefredakteur Kai Diekmann (der einen „gewissen Christian Wulff“ und seine Frau nominiert haben soll). Nicht reagiert haben Joachim Löw, Angela Merkel und Wladimir Putin.
Auch das gehört eben zum Ritual der Wette: Bodo Ramelow nennt drei Menschen, die seinem Vorbild folgen sollen. Darunter ist sein „spezieller Freund“, der Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, gegen den er im Wahlkampf unzählige Tweets, Retweets, eine Unterlassungserklärung verfasst hat und reichlich Missfallens-Bekundungen erlassen.
Soll ein Chefredakteur (oder auch jeder andere Redakteur) über dies Stöckchen im Wahlkampf springen? Wird er dann nicht Teil des Wahlkampfs? Macht er sich nicht lächerlich vor seiner Leserschaft einer seriösen Zeitung? Oder ist er einfach ein Spielverderber? Einer, der alles zu ernst nimmt?
„Kann er nicht digital“, twittert einer, als meine Antwort nicht rechtzeitig kommt. Man muss, nach den Regeln, innerhalb von 24 Stunden eiskübeln. Meine Antwort an Ramelow:
Sie können mich nicht einladen: ich bin Journalist, kein Wahlkämpfer. Ich kämpfe weder für sie, noch für andere.
Ramelow ist indigniert und grummelt, ich hätte das Ganze nicht verstanden und sollte mal Wikipedia lesen. Meine Antwort:
Wiki lesen: „Ein Internet-Phänomen, von vielen ausgenutzt, sich selbst in Szene zu setzen.“
Übrigens: Die Tagesschau-Sprecherin Linda Zervakis lehnte auch ab: „Ich spende lieber still und leise.“
Hanns Joachim Friedrichs sprach den legendärer Satz, im Handbuch auf Seite 176 zu finden:
Einen guten Journalist erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten Sache.
Den beiden schließe ich mich an, ebenso:
Mittlerweile schwappt die Eiskübel-Welle weiter, ohne dass noch großartig auf diesen ernsten Hintergrund hingewiesen wird. Bei der aktuellen Flut an Eiswasser in sozialen Netzwerken bekommt man den Eindruck, es werde nur noch Wasser geschüttet, um sich ins Gespräch zu bringen. […] So wird aus einer Idee, die eine ernste Angelegenheit humorvoll verpackt, ein verwässertes Internet-Phänomen, das von vielen letzten Endes nur ausgenutzt wird, um sich selbst in Szene setzen.
Tanja Morschhäuser: Verwässertes Internet-Meme. Frankfurter Rundschau, abgerufen am 23. August 2014.
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