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Nun erwischt es auch eine Journalismus-Zeitschrift: Message wird nicht mehr gedruckt

Geschrieben am 21. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Bisher hat Message die Schwierigkeiten und vor allem Defizite von Zeitungen und Zeitschriften analysiert – und des Journalismus überhaupt. Nun muss Message selber aufgeben und verkauft das Ende als „Schritt in die Zukunft“. Im kommenden Jahr erscheint Message nur noch im Netz, als App oder E-Paper.

Die Abos gehen, wie bei den Zeitungen, zurück. Noch in diesem Jahr sollte der Relaunch den Niedergang stoppen – vergebens. Auch hat die Zeitschrift den Abgang von Gründer Michael Haller vor zwei Jahren nicht verkraftet. Das Projekt der „Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus“ hat wohl selber keine ausreichende Qualität liefern können.

Zum 15-Jährigen in diesem Jahr hatte Michael Haller noch einmal die Feder gespitzt – und manchem Medien-Wissenschaftler in seiner gewohnt diplomatischen Art bescheinigt, dass sie nicht in der Lage sind, „ihre Befunde allgemeinverständlich rüberzubringen“:

Unvergessen blieb mir ein über Wochen laufender Mailverkehr mit einem Professorenkollegen, dessen Text im Wissenschaftsjargon abgefasst (aufgeblasen) war und im Zuge unserer Bearbeitung seine gedankliche Trivialität offenbarte. Am Ende zog der Kollege den Text zurück: Wir hätten seinen Gedankengang zerstört.

Auch die Macher, die Chefredakteure, geißelte Haller, der selber kaum am Minderwertigkeits-Syndrom leidet:

Warum wird man Ressortchef, dann Chefredakteur? Auf welche Qualifikationen kommt es an, um den Medienwandel zu verstehen und den heute sogenannten Changeprozess crossmedial zu steuern? Wir haben dieses Thema später dann nur noch mit spitzen Fingern angefasst, weil wir merkten, dass doch viele Redaktionschefs in Deutschland auf Manöverkritik eher beleidigt reagieren, offenbar, weil ihnen, spitz gesagt, die eigene Eitelkeit im Wege steht.

Wenn ich meinen Aktenordner mit Korrespondenzen der vergangenen 15 Jahre durchblättere, begegnen sie mir wieder, die pseudo-coolen, doch im arroganten Ton abgefassten Beschwerdebriefe deutscher Chefredakteure. Es war nicht nur Mangel an Selbstreflexion, der irritierend wirkte, sondern auch deren Weigerung, sich mit dem Wandel der Medienfunktionen praktisch zu beschäftigen und Konsequenzen zu ziehen.

Trotz anhaltendem Reichweitenschwund hielten viele Blattmacher an der Überzeugung fest, ihr persönliches Bauchgefühl sei Garant für erfolgreichen Journalismus.

Diese Arroganz wird uns, zumindest in gedruckter Form, fehlen. Der Abschied vom Druck wird wohl der Abschied von Message überhaupt sein.

PS. Der Autor dieses Blogs hat nie einen Brief an Message geschickt, noch war er Autor der Zeitschrift.

Die Zeitung der Zukunft, die Zukunft des Journalismus und der Wert des Lokalen – Ein Interview

Geschrieben am 2. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?, fragte mich Monika Lungmus vor dem Verbandstag des DJV in Weimar. Auf der Online-DJV-Seite ist die redigierte Fassung des Interviews zu lesen; hier die erweiterte Fassung.

Wie sehen Sie die Zukunft des Journalismus? Hat der Journalismus überhaupt noch eine Zukunft?

Paul-Josef Raue: Der Journalismus muss eine Zukunft haben. Denn eine Demokratie ohne gut recherchierenden, tiefgehenden Journalismus hat keine Chance. Wir reden hier nicht nur darüber, ob es weiterhin gedruckte Zeitungen geben wird.

Für eine Demokratie ist ein starker Journalismus unerlässlich. Das ist also auch eine Forderung an die Politiker. Sie müssen die Bedingungen erhalten, dass es einen Journalismus gibt, der die Mächtigen kontrollieren kann.

In der Branche wird ja bereits über Alternativen zur marktwirtschaftlichen Finanzierung des Journalismus diskutiert. Was halten Sie von der Diskussion?

Ich finde die Diskussion richtig, auch wenn ich glaube, dass die marktwirtschaftliche Konstruktion der Presse noch relativ lange, also in den nächsten zehn, zwanzig Jahren, Bestand haben wird. Ich sehe allerdings an den Rändern durchaus Probleme: Wir haben heute schon Landkreise, in denen sich eine Zeitung nicht mehr finanzieren kann. Hier funktioniert also die Kontrolle der Politiker nicht mehr ausreichend, obwohl gerade im Lokalen ein starker Journalismus notwendig ist.

Welche Förderung könnten Sie sich hier vorstellen?

Ich könnte mir auch private Initiativen vorstellen, sei es in Form von Stiftungen, von Vereinen oder mit Recherche-Stipendien von großen Organisationen; ich denke auch an vorbildliche Projekte wie „Zeitungszeit“ in Nordrhein-Westfalen, wo Land und Verlage gemeinsam Schüler an die Zeitung heranführen. Man müsste auch schauen, was andere europäische Staaten an Presseförderung betreiben.

Ich bin aber überzeugt, dass private Initiativen allein nicht reichen. Auch die Verlage haben die Möglichkeiten, die alte wie neue Medien bieten, noch lange nicht ausgereizt. Verleger, Manager und wir Redakteure müssen Konzepte entwickeln, wie wir den Inhalt – gerade im Lokalen und Regionalen – am besten an die Bürger und auch an verschiedene Zielgruppen bringen.

Mit dem lokalen und regionalen Inhalt haben wir einen kostbaren Schatz, den selbst Google und andere Mega-Digitalen nicht besitzen. Wir müssen viel intensiver über die Bedürfnisse der Menschen forschen: Was wollt ihr lesen – wann und in welcher Form?

Wir machen uns in Leitartikeln lustig etwa über die Bahn, wenn sie ihre Kunden nicht zufrieden stellt. Kennen Sie Verlage, die regelmäßig die Zufriedenheit der Leser ermittelt? Das ist auch ein Appell an Manager, denen mehr einfallen will als Sparen, aber auch an uns Journalisten: Wie sehen wir denn die Zukunft? Zudem ist es endgültig Zeit, die Mauer zwischen Verlag und Redaktionen einzureißen.

Wenn Sie mal aufs Handwerk schauen: Wie können und müssen sich Journalisten heute für die Zukunft aufstellen? Was erwarten Sie von künftigen Journalisten?

Das Bewusstsein für Qualität ist bei den Lesern enorm gestiegen. Der normale Leser ist nicht mehr abzuspeisen mit einer 0815-Berichterstattung.

Ganz vorne muss stehen, dass Journalisten wieder öfter zur Recherche kommen. Das ist nicht nur Sache des Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung. Weit ins Lokale hinein müssen wir wieder tiefer und besser recherchieren und dafür auch die neuen Möglichkeiten des Datenjournalismus nutzen.

Was wäre für Sie noch wichtig?

Als ich Journalismus gelernt habe, mussten wir uns keine Gedanken machen, wie sich der Journalismus finanziert. Das ist heute anders. Die neue Journalisten-Generation, aber auch die der Älteren, muss über Geschäfts-Modelle nachdenken. Wir nutzen noch lange nicht unsere Möglichkeiten, wenn ich zum Beispiel an regionale Magazine denke, an Bücher, an Zielgruppen-Newsletter und vieles mehr.

Wir müssen die Strukturen aufbrechen: Muss die Zeitung immer und überall jeden Tag erscheinen? Oder zusätzlich am Sonntag? Wie können wir gezielt ganz bestimmte Zielgruppen erreichen? Das heißt: Wir müssen unser Spektrum an Möglichkeiten, wie wir unseren Inhalt ans Publikum bringen, deutlich erweitern.

Kommen wir zur Funke-Gruppe, zu der Ihre Zeitung gehört. Hier wird derzeit darüber diskutiert, ob alle zur Gruppe gehörigen Titel ihren Mantel künftig aus Essen erhalten sollen. Was halten sie von der Idee?

Wir führen unter den Chefredakteuren derzeit die Debatte, was wir zentralisieren können – um sowohl den Lesern mehr Qualität bieten als auch Redakteure wie Geld effektiv einsetzen zu können (zum Beispiel in die digitale Zukunft, die viel Geld fordert aber noch wenig einbringt). Die Konzern-Führung hat diese Aufgabe in die Redaktionen gegeben: Das ist der richtige Weg. Verlage, die es von oben verordnet haben, sind gescheitert, zu Recht.

Für unsere drei Zeitungen in Thüringen ist ein zentraler Mantel beispielsweise kein Thema. Wir haben gar keinen Mantel mehr im alten Sinne. Wir schreiben in unserer Thüringer Allgemeine von der ersten bis zur letzten Seite weitgehend aus der Perspektive der Leser. Wir haben nicht mehr den typischen Politikteil, den typischen Wirtschaftsteil – das ist bei uns alles sehr stark auf Thüringen bezogen, eben auf den Alltag und das Leben unserer Leser

Wir können in Erfurt, Weimar und Gera, wir können im Osten keinen Mantel aus Essen anbieten. Wir haben auch gar keinen Platz für einen fremden Mantel. Wir bieten unseren Lesern – und in erster Linie nicht aus Spargründen – eine relativ schmale Zeitung an, meist 24 oder 28 Seiten. Wir haben von unseren Lesern gelernt: Sie wollen eine Zeitung, die übersichtlich ist und ihnen das Wesentliche in hoher Qualität bietet, das sie in ihrer knappen Zeit bewältigen können. Sie wollen nicht suchen und blättern, sie wollen lesen.

Wir haben alles rausgeworfen, was aus Sicht der Leser nicht zur Kernkompetenz gehört. Wir verzichten etwa auf eine endlose Tagesschau-Wiederholung und komprimieren sie auf eine Seite.

Das Herz der Regionalzeitung ist das Lokale. Und dennoch wird hier vielfach gespart. Sie kennen dies selbst. Ihre Redaktion arbeitet ja im Lokalen – zum Beispiel in Weimar – mit der Thüringischen Landeszeitung zusammen. Wie passt das zusammen?

Zunächst: Unsere Lokalredaktionen sind nicht kleiner geworden. Wir haben im Lokalen denselben Personalstamm wie vor fünf Jahren, als ich in Erfurt angefangen habe.

Kleiner geworden ist die Zentralredaktion, so dass wir den Personalstamm in den Lokalredaktionen zusammen mit dem Thüringen-Desk halten konnten. Gleichwohl machen die Reporter in der Zentrale einen großartigen Job, holten vier Jahre hintereinander einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise, darunter einmal den ersten für die exzellent recherchierte Treuhand-Serie; eine Reihe anderer renommierter Preise kam hinzu, auch für unsere Lokalredaktionen. Ich übertreibe also nicht, wenn ich die TA-Redaktion zu einer der besten in Deutschland zähle.

Zur Thüringischen Landeszeitung (TLZ), unserer Konkurrenz: Sie erscheint sowohl im Verbreitungsgebiet der Thüringer Allgemeinen(TA) als auch in dem der Ostthüringer Zeitung (OTZ). Die TLZ, eine frühere Zeitung der LDPD, ist eine relativ kleine Zeitung, aber sie hat eine große Bedeutung. Denn sie versammelt alle Leser, die kein früheres SED-Organ lesen möchten. Die Unterscheidung zur TA und OTZ spielt sich heute hauptsächlich in der Kommentierung von Thüringer und überregionalen Themen ab. Hier hat die TLZ eine klare eigene Positionierung.

Im Lokalen, das haben wir von den Lesern erfahren, können wir gut zusammenarbeiten. Die Redaktionen sprechen sich bei normalen Terminen wie Pressekonferenzen ab, wer was macht. Das betrifft zum Beispiel nicht unbedingt die Stadtratssitzungen, da behält jeder Titel sein eigenes Profil. Die Kooperation soll also dazu dienen, die Qualität im Lokalen zu erhalten.

Anfang der 90er Jahre erschienen in Thüringen noch 24 Tageszeitungen bei 2,5 Millionen Einwohnern, heute gibt es nur noch sechs Titel: Drei gehören zur Funke-Mediengruppe, drei zur Südwestdeutschen Medienholding. Was bedeutet diese eingebüßte Pressevielfalt für den Journalismus in Thüringen?

Das war in den Revolutions-Wirren eine besondere historische Situation. Ich habe ja selbst seinerzeit eine Zeitung gegründet: die Eisenacher Presse. Das war in jeder Hinsicht Wahnsinn – und in dieser Zeit richtig und wichtig.

Aber es war auch klar, dass das so nicht auf die Dauer funktionieren würde. Das bekommt man gar nicht finanziert: 24 Zeitungen,davon allein 7 in Eisenach, einer Stadt mit 50.000 Einwohnern! Ich halte heute sechs Zeitungen in einem Bundesland mit 2,2 Millionen Einwohnern für viel.

Die drei Titel unserer Funke-Gruppe arbeiten eigenständig. Jeder von uns freut sich, wenn er einen eigenen Coup gelandet hat. Natürlich kämpfen wir nicht so sehr gegeneinander. Wir kämpfen aber um das Interesse und die Zeit der Leser. Das ist das Entscheidende.

Und wenn jemand mit meiner Zeitung unzufrieden ist, dann geht er zur TLZ – oder umgekehrt. Er geht aber nicht in die Nicht-Leserschaft. Das ist der Vorteil unserer Konstruktion.

Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?

Ich würde mir eine Redaktion zusammenstellen, in der Recherche an erster Stelle steht. Ich würde mir junge Leute holen, die diesen „embedded journalism“, also die Nähe zu den Honoratioren, überhaupt nicht kennen.

Dann würde ich Mitarbeiter engagieren, die mit Daten umgehen können, die sich bestens mit der Technik auskennen.

Als Drittes wäre mir Verständlichkeit wichtig; die Leser müssen unsere Texte verstehen. Das Handwerk des verständlichen Stils müssen Redakteure perfekt beherrschen, sonst nutzt all der Recherche-Aufwand nichts. Und sie schreiben auch schön in dem Sinne, dass die Leser Lust aufs Lesen bekommen.

Viertens: Die Mitarbeiter meiner Traumredaktion gehen auf die Menschen zu, reden mit ihnen, nehmen wahr, wo deren Bedürfnisse liegen. Sie respektieren, ja sie mögen ihre Leser und lassen sie das spüren.

fünftens: Es müssten Leute sein, die ein Bauchgefühl für Überraschungen haben, die also Neues wagen, auch wenn Leserforschung und Leserbriefe anderes angeben.

Und der sechste Punkt hieße: Die Traumredaktion hat genügend Personal…

Auf jeden Fall. Wir sind derzeit an einem Scheidepunkt, wo Quantität und Qualität oft nicht mehr zusammenpassen. Aber generell glaube ich, dass Quantität nicht zwangsläufig Qualität bedeutet. Journalismus ist ein Beruf, für den man brennen muss. Jeder Beamte in einer Redaktion ist mir ein Graus.

Volontariat der Zukunft (2): Welchen Schwerpunkt setzen?

Geschrieben am 29. September 2014 von Paul-Josef Raue.

Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab.

Das ist der zentrale Satz im schriftlichen Interview mit der Drehscheibe, die in einer ihrer nächsten Ausgaben über Volontärsprojekte berichten will. Dies ist das Interview über das Volontariat bei der Thüringer Allgemeine:

Worauf legt der Verlag Wert  bei der Ausbildung?

Die Volontäre sollen die Fähigkeit lernen oder kräftigen, den Veränderungen von Gesellschaft und Medien mit Engagement und Können zu folgen:

> Sie lernen zwar den Ablauf in Redaktionen kennen, aber schauen kritisch auf Routinen und Fallstricke;

> sie entwerfen Konzepte für einen noch besseren Journalismus, vor allem im Lokalen;

> sie konzipieren effektive Organisationen, vor allem im Zusammenspiel mit den Online-Medien;

> sie probieren Modelle für Beteiligungen von Lesern aus, die von Konsumenten zu Mitdenkern und Mitmachern werden;

> sie entwickeln neue Ideen und Produkte – sowohl Online wie in den traditionellen Medien -, um auch in Zukunft guten Journalismus finanzieren zu können.

So lernen sie Methoden und Umsetzung von Leserforschung kennen, Möglichkeiten und Grenzen des Marketings, optimale Strukturen sowie Selbstorganisation. Sie überschreiten die Grenzen des Zeitungs-Journalismus, arbeiten bei Zeitschriften und Nachrichtenagenturen und eigenständig in Projekten.

Auf der einen Seite lernen die Volontäre das Spektrum des Journalismus kennen wie in einem „Praktikum Universale“, auf der anderen Seite sollen die besonderen Begabungen und Fähigkeiten erkannt und gefördert werden. So können wir Nachwuchs für Führungs-Positionen entdecken oder Talente für Organisations-Aufgaben oder für tiefe Recherchen oder Online-Spezialisten oder Verliebte in Kultur, Wirtschaft oder die lokale Welt usw.

Nach dem Volontariat treffen sich die Redakteure zu Tages-Seminaren, um ihren Fortschritt zu kontrollieren, neue Ideen zu diskutieren und Schwierigkeiten anzusprechen und zu bewältigen.

Welche Schwerpunkte werden in der Ausbildung gesetzt?

Es gibt einen Schwerpunkt: Hochwertigen Journalismus sichern, der den Menschen in einer Demokratie gefällt, dient und nutzt. Daraus leitet sich der Inhalt der Ausbildung ab:
> Als Grundlage zuerst das Handwerk, das jeder beherrschen muss: Recherche, informierende und unterhaltende Information, Meinung.

> Dem Handwerk folgt die Haltung: Die Ethik des Journalismus, der Dienst am Leser und die Leidenschaft für den schönsten Beruf in einer offenen Gesellschaft.

> Auf Handwerk und Haltung folgt die Lehre der Verständlichkeit, also der Wille so zu schreiben, dass die Menschen mit Lust und Gewinn lesen.

Die gesamte Ausbildung ist multimedial. Die neuen Möglichkeiten des Journalismus – etwa Daten-Journalismus, soziale Netzwerke, Timeline – sollen erlernt und ausprobiert werden. So endete die Ausbildung mit einer Recherche-Woche, in der die Volontäre eine Multi-Media-Reportage produzierten mit Notizblock, Kamera, Video und Diktiergerät – fürs Internet und eine Sonderausgabe der Wochenend-Beilage.

Die ideale Organisation einer Regionalzeitung! Eine Provokation zu einer notwendigen Debatte

Geschrieben am 24. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Lasst die Provinz hochleben! Schafft den Zentralismus ab! Habt Mut, Euch Eures eigenen Verstandes zu bedienen – statt das Massenprodukt aus Zentralredaktionen den Lesern überzustülpen!

Jahrzehntelang hatten wir eine Organisation in der Redaktionen, die auf die Ewigkeit ausgerichtet war: Ressorts im heiligen Mantel, die in Tarifverträgen festgeschrieben waren (und noch sind, aber immer seltener beachtet werden, weil im Norden kaum mehr Verlage noch im Tarif sind); daneben gab es noch die meist belächelten Lokalredaktionen, in denen fast alle vom sozialen Redaktions-Aufstieg träumten, und das war ein Platz in den Konferenzen des Mantels.

Seit Jahren ist nichts mehr von Ewigkeit. Da keiner so recht weiß, wie die Zeitung der Gegenwart, erst recht die der Zukunft aussehen muss, bastelt man an den Organisationen. Kein Verleger kann noch auf den Desk verzichten, und so stellen ihre Chefredakteure einen großen teuren Tisch in die Redaktion. Oft bleibt es beim Holzstück.

Die ersten entsorgen schon das gute Stück, meist mit der Begründung: Der Desk hat keine Kosten gespart! Als ob der Desk zum Sparen gedacht war und ist! Nein, er sollte die Redaktion besser organisieren, die Kräfte bündeln, die Qualität heben und so den Leser erfreuen und halten.

Wer Kosten sparen will oder muss, der braucht keinen Desk. Er kehrt die Ecken aus, in die seit Ewigkeiten keiner mehr geschaut hat; es soll noch Redaktionen geben, die eine Texterfassung haben oder Sekretärinnen, die Mails ausdrucken. Oder er sagt einfach: Zwanzig Prozent auf alles, koste es, was es wolle – dafür braucht man keinen Desk, sondern den Rasenmäher im Kopf.

Die Verachtung des Desks hat einen zweiten Grund: Er wird zu einer grobschlächtigen Zentralisierung missbraucht. Vorzugsweise in Berlin produziert ein Zentraldesk sogenannte überregionale Seiten und beglückt damit Redaktionen in Nord und Süd, sogar in Ost.

Dieser Desk    redigiert dpa und andere Agenturen, gießt einen Zuckerguss aus hübschen Reportagen darüber und kredenzt als Sahnehäubchen einmal im Jahr ein Exklusiv-Interview mit der Kanzlerin, das in Kurzform dann wieder von dpa zitiert wird – ohne dass sich eine Zeitung damit schmücken kann („Wie die Redaktionsgemeinschaft Müller-Meier-Schulze in einem Interview mit der Kanzlerin…“)

Diese Desks sind nicht besser, meist deutlich schwächer als dpa. Alles, was diese Tische produzieren, probiert dpa schon lange aus, ist dabei immer besser geworden und arbeitet an  immer neuen Formaten, auch in der Desk-Organisation. Dpa reicht für alle Regionalzeitungen locker aus, wird sowieso von allen Redaktionen bezahlt und  hat mit „dpa-News“ eine vorbildliche Plattform geschaffen: Exzellenter und schneller Überblick, Kommentar- und Frage-Funktion (auf die in spätestens 15 Minuten eine Antwort kommt) – Redakteursherz in der Provinz, was brauchst du mehr aus der  großen weiten Welt?

Der größte Nachteil der zentralen Desks: Er verhindert, dass sich die angeschlossenen Redaktionen noch mit der Welt beschäftigen! Regionalzeitung bedeutet ja nicht: ich berichte nur noch aus meinem Beritt. Regionalzeitung bedeutet: ich schaue auf die Welt aus der Perspektive meiner Leser.  Des Lesers Perspektive ist die einzig gültige.
Wenn ein Politiker fordert, wir müssen eine halbe Million Flüchtlinge aus dem Irak aufnehmen, dann fragt die Regionalzeitung Wie viele haben wir schon? Wie viele können wir unterbringen? Wie bereit sind die Bürger?  Das ist nicht neu: Runterbrechen auf meinen Leser; aber eine Zeitung muss es auch tun, bei allen Themen, so aktuell wie möglich.

Ein Vorschlag zur Debatte: So könnte die ideale Organisation einer Regionalzeitung aussehen:

> In den Lokalredaktionen arbeiten die Redakteure als Reporter und nur als Reporter – abgesehen vom Lokalchef, der auch Reporter ist, aber zudem  die Themen gewichtet und verteilt und bestimmt, wie seine Seiten aufgemacht werden.   

Im Lokalen und nur im Lokalen werden die Nachrichten und die Geschichten recherchiert und geschrieben, die unsere Leser wollen, die sie brauchen und die sie als unverzichtbar erkennen; nur hier wird kommentiert, was die Meinungsbildung der Leser wirklich beeinflusst; nur hier beginnen die großen Debatten, die die Menschen bewegen; nur hier starten die Initiativen, die Ehrenämter, die Gründer. Der Lokalteil ist das bedeutendste soziale Netzwerk, wenn wir es nur wollen, wenn wir es können, wenn wir es richtig organisieren.

> In der Zentrale werden an einem Desk – oder an regionalen Standorten, an denen mehrere Lokalteile zusammenfließen – die Seiten gestaltet, die Meldungen sortiert und geschrieben (auch schon für den Online-Auftritt), die Texte der Reporter redigiert. Der Blattmacher ist vor allem Textchef, er ist der Qualitäts-Manager und ein bisschen Gestalter, wobei das Layout und all die Relaunches weit überschätzt werden: Es kommt auf den Inhalt an; stimmt der nicht, ist alles andere Schnickschnack.

Im Regionalen ist Zentralisierung zweckmäßig. Die Nachbarschaft unserer Leser deckt sich selten mit dem Zuschnitt unserer Lokalredaktionen; zu schnell haben wir den Unsinn von Politikern übernommen, die Kreise ohne Sinn und Verstand am Bürokraten-Tisch entwarfen.

Der Zentral-Desk kann ohne lange Konferenzen wieder zusammenbringen, was zusammengehört; er kennt die Historie einer Region, weiß um Pendler- und Einkaufs- und Schul- und Freizeit-Ströme,  er kennt Zuneigung und Animosität von Nachbarn. Was Facebook kann, kann ein Desk schon lange (zumindest kann er es lernen). So überwinden wir auch den Nachteil von Lokalredaktionen, die sich gerne wie in einer Burg fühlen und die Zugbrücke hochziehen.

> Am Desk schaut der Chef alles an, nimmt die besten Geschichten und Nachrichten aus dem Lokalen und sortiert sie – für die Titelseite, für Wirtschaft und Kultur, für den Regionalteil usw.  Er regt an und manchmal  auch auf; er ist Drehscheibe, der gute Themen einer Redaktion den anderen ans Herz legt; er hilft weiter mit Hintergrund-Stücken zu lokalen Geschichten  (auch zusammen mit dpa), Info-Kästen, Grafiken u.ä.; er schaut in die Agenturen und das Netz, um aktuelle Themen zu entdecken, die schnell runterzubrechen sind.

Er verfügt über einige Reporter, die Themen recherchieren, die als Aufmacher der Titelseite taugen (so sie nicht schon lokal sind), sei es aus der Landespolitik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, der Gesundheit usw. Im Idealfall hat er einen Korrespondenten in Berlin  – am besten auch in Brüssel -, der ihm Nachrichten und Geschichten für seine Region, für seine Lokalteile bringt und nicht einen Zweitaufguss von Artikeln. wie sie auch dpa schreibt und die Tagesschau sendet.

> Am Desk werden schnell und unaufwändig  auch die Seiten, meist aus dpa-Material, produziert, die unsere Leser wünschen, die aber nicht der Grund sind, warum sie unsere Zeitung abonnieren oder kaufen: Themen des Tages, Vermischtes usw. Was auf diese Seiten passt, ist aber auch von Region zu Region verschieden. 

In Erfurt kommt auch ein Ex-DDR-Star aufs Vermischte, den in Düsseldorf keiner kennt; in Bremerhaven steht das Werften-Problem auf der Themen-Seite, wenn es in Berlin diskutiert wird, aber im Allgäu interessiert es keinen. Und auf der Ratgeber-Seite ist der Tipp des heimischen Chefarztes wichtiger als der einer Koryphäe, der ein paar hundert Kilometer entfernt operiert.

> Der Desk ist auch vorbereitet auf die Zeit, wenn wir die Zeitung im Internet verkaufen. Wenn „Online to Print“ kommt, geht es nur mit einem Tisch – erst recht lokal.

Es gibt einige gute Vorbilder. In Neubrandenburg trennte man sich von einem fremden Desk, weil er vielleicht Kosten sparte, aber Leser kostete. In den USA kaufte der Milliardär Warren Buffett für 350 Millionen Dollar Regional- und Lokalblätter, die sich der Gemeinschaft verpflichtet fühlen, eine richtige gute Provinzzeitung machen und nicht missionarischen    Ideen selbsternannter Qualitäts-Journalisten folgen.  „In Städten und Orten mit einem starken Gemeinschaftsgefühl gibt es keine wichtigere Einrichtung als die Lokalzeitung“, sagt Buffett. „Zeitungen haben eine gute Zukunft, wenn sie weiter Informationen liefern, die man nirgends sonst findet.“

Hören wir also auf den Milliardär! Hören wir auf, in Festreden die hohe Bedeutung des Lokalen zu loben! Organisieren wir es einfach, mit Herz und Verstand!

„Regionalzeitungen müssen die Hoheit über das Stadtwissen zurückbekommen“ (Zitat der Woche)

Geschrieben am 6. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Redaktionen müssen wieder zum Kompetenzzentrum werden – Regionalzeitungen die Hoheit über das Stadtwissen zurückbekommen.

Professor Andreas Vogel in einem taz-Interview mit Anne Fromm. Vogel ist Leiter des Instituts für Presseforschung in Köln.

Vogel führt in dem Interview den Abo-Rückgang bei den Zeitungen nicht aufs Internet zurück, sondern auf die Qualität des Inhalts: „Befragt man die Zeitungsabbesteller, warum sie kündigen, nennt kaum jemand das Internet. Die meisten sagen, sie läsen keine Zeitung mehr, weil viele Inhalte sie nicht betreffen oder sie sei zu teuer geworden.“

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Facebook-Kommentare
Michael Geffken:

„Da diese Erkenntnis ja nicht so ganz neu ist, muss man doch fragen, warum so viele Zeitungen keine entsprechenden Reaktionen zeigen – sprich: immer schlechter werden.“

„… der Frust des enttäuschten Zeitungsliebhabers führt zu Übertreibungen. Ich korrigiere mich: Nur wenige Zeitungen sind in den vergangenen Jahren wirklich besser geworden, viele stagnieren und stecken den Kopf in den Sand, immer mehr werden kaputt gespart.“

Wolfgang Kretschmer

„Empfehle den Beitrag von Michael Haller „Chance auf Comeback“ in „Message“ 3/14. – Unterzeile: „Es gibt gute Gründe, an eine Rennaissance der Tageszeitung zu glauben…“ Haller schreibt teils polemisch gallig, teils um Fundierung seiner Sicht der deprimierenden Lage bemüht. Seine Vorschläge, jugendlichen Lesernachwuchs zu gewinnen, sind so neu nicht. Es sind in Hallers Ideen/-Umfragewelt aber m.E. ein paar gute Gedanken enthalten. Leider schließt sich der Kreis zum Beitrag von Michael Geffken. Redaktionen werden kaputtgespart. Andererseits sind aus Hallers Perspektive bei einigen Zeitungen der MGO zB bei der Saale-Zeitung Bad Kissingen gute Ansätze zu erkennen, jugendliche Leser ob per Print/online zu gewinnen.“

Ein Kuss, ein Gebet – Die letzten Stunden der Opfer von MH 17: Ein Glanzstück der Nachrichtenagentur AP

Geschrieben am 5. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Das sind die Geschichten, die Leser lieben: Wie verbrachten die Passagiere des Flugs MH 17, den Terroristen abgeschossen haben, ihre letzten Stunden? Mit wem sprachen sie zuletzt? Wie lautete ihre letzte Mail? Welchen Menschen sahen sie als letzten, bevor sie zum Flugsteig gingen? Wen küssten sie? Wen umarmten sie?

Es ist schon ungewöhnlich, dass eine große Nachrichtenagentur wie AP solch ein großes Erzähl-Stück recherchiert und veröffentlicht. Normalerweise bringt sie die aktuelle Meldung, vielleicht noch die Namensliste der Opfer, ihre Nationalitäten. Kristen Gelineau, AP-Chefin in Australien, wollte hinter die Nachrichten schauen, die Kleinigkeiten entdecken, die das Leben ausmachen, sie suchte den Zeitstempel des letzten Gesprächs der Opfer, sie wollte „Qualität statt Quantität“ – und bat um Recherche-Hilfe bei Reportern in Neuseeland und auf den Philippinen, in Indonesien, Holland und Malaysia.

Erin Madigan White erklärte die Reportage „A kiss, a prayer: The last hours of MH 17’s victims“ im AP-Blog zum „Beat of the week“, der mit 500 Dollar honoriert wird. Kristen Gelineaus Geschichte beginnt so (frei übersetzt):

Im Schlafzimmer eines Hauses nahe Amsterdam fragt Miguel seine Mutter: „Mama, darf ich Dich umarmen?“ Samira, seine Mutter, legt ihre Arme um ihren elfjährigen Sohn, der sie seit Tagen nervt mit Fragen nach dem Tod, nach Gott und seiner Seele.

Am nächsten Morgen brachte sie ihn und seinen großen Bruder Shaka zum Flughafen, wo sie den Flug Malaysia Airline 17 nehmen wollten, um ihre Großmutter in Bali zu besuchen mit der Aussicht auf Wasser-Ski und Surfen im Paradies.

Irgendetwas war anders. Am Tag vor dem Flug brach es aus Miguel heraus beim Fußballspiel: „Wie willst du sterben? Was wird aus meinem Körper, wenn ich beerdigt bin? Fühle ich nichts, weil unsere Seele zu Gott zurückkehrt?“ Er beginnt mich zu vermissen, sagte sich seine Mutter. Sie hielt ihn die ganze Nacht fest in den Armen.

Das war um 23 Uhr am 16. Juli. Shaka und 296 andere Passagiere auf Flug 17 hatten noch ungefähr 15 Stunden zu leben.

Die Geschichte liest sich wie die Skizze für einen großen Roman. Zur Nachahmung empfohlen – für Nachrichtenagenturen und jeden, der Qualität mag und seine Leser liebt.

Erdbeeren! Diffamierung! Rufmord! Was ist eine gute Recherche?

Geschrieben am 5. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Was ist das für eine Zeitung? Was ist die Autorin für eine Journalistin, dass sie nicht mitbekommt, dass sich die Zeitung auf das Niveau einer offensichtlichen Fehde herablässt. Hier soll gezielt durch eine Person und aus privaten Gründen ein Betrieb diskreditiert und Rufmord über die Medien versendet werden… Wir machen schnell erst einmal eine Diffamierung – das kommt beim Leser gut an – um dann zu schreiben: Das war aber eine Luftnummer!

So empört sich eine Leserin der Thüringer Allgemeine über eine Berichterstattung über einen Erdbeerhof: „Abgekippte Erdbeeren und eine Anzeige gegen Unbekannt“. Weiter schreibt die Leserin:

Wenn Ihre redaktionelle Mitarbeiterin einen guten und damit auch wertneutralen Journalismus betreiben würde, hätte sie längst mitbekommen, dass sie zum Spielball einer Person instrumentalisiert wurde… Zur Auflagensteigerung rate ich Ihnen zu 2 x wöchentlich barbusigen Damen auf der vorletzten Seite, das macht die ,große Schwester‘ auch.

Der Chefredakteur antwortet der Leserin in seiner Samstag-Kolumne auf der Leser-Seite:

Es gibt Regeln für einen guten Journalismus oder, um in Ihren Worten zu bleiben, für eine wertneutrale Recherche:

1. Frage alle, die zum Thema etwas Wesentliches zu sagen haben!
Unsere Redakteurin fragte:
> Einen zweiten Ostbau-Betrieb: Wie gehen Sie mit Früchten um, die Sie nicht verkaufen können?
> Das Landratsamt, bei dem die Anzeige eingegangen ist.
> Den Landesverband Gartenbau.

2. Frage vor allem den, der angegriffen wird!
Schon in der Unterzeile der Überschrift steht: „Geschäftsführung vermutet Kampagne gegen das Familienunternehmen.“ Gleich in den ersten Absätzen kommt der Geschäftsführer ausführlich zu Wort.

3. Bleibe sachlich, vermische nicht Nachricht und Kommentar!
Im gesamten, etwa 120 Zeilen langen Artikel finden Sie nicht eine kommentierende Zeile, keine wertenden Adjektive. Die Redakteurin überlässt dem Leser das Urteil.

4. Mach Dir selber ein Bild!
Unsere Redakteurin reagierte auf den Vorwurf eines Lesers, die Arbeiter verrichteten ihre Notdurft im Freien: Sie sah zwei Toilettenhäuschen direkt und in ausreichender Entfernung zum Feld.

Die Recherche hält sich also vorbildlich an die Regeln: Es kommt jeder zu Wort!

Eine andere Frage ist: War die Kompostierung der Erdbeeren überhaupt ein Thema für die Zeitung? Darüber lässt sich stets streiten. Doch wenn mehr als ein Dutzend Anrufe und Mails zu einem Thema in der Redaktion eingeht, dürfen wir von einem allgemeinen Interesse ausgehen.

Ein Artikel ist dann auch im Interesse des Geschäftsführers, über dessen Arbeit Gerüchte wabern: Er kann für Klarstellung sorgen!

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Thüringer Allgemeine 5. Juli 2014

Herbert Kolbe ist tot: Der Pionier der lokalen Welt-Zeitung – aus Emden

Geschrieben am 12. April 2014 von Paul-Josef Raue.

Jede deutsche Zeitung vor dreißig Jahren war ein „Generalanzeiger“: Große Politik, große Wirtschaft, große Kultur und am Rande ein bisschen Lokales. Wer nicht mitleidig belächelt werden, wer etwas werden wollte, der sah zu, dass er so schnell wie möglich aus der Lokalredaktion in den „Mantel“ kam.

Die Revolution kam aus dem Norden, von einer kleinen Zeitung an der holländischen Grenze mit gerade mal neuntausend Abonnenten. Der Revolutionär hieß Herbert Kolbe, die Zeitung war die Emder Zeitung.

Herbert Kolbe wurde in Emden 1981 Chefredakteur: Er hatte  eine Mission:

Durchdringung der ,großen‘ Nachrichten mit dem Lokalen, wobei ich es lieber umgekehrt formuliere: Durchdringung des Lokalen mit den ,großen‘ Nachrichten.“

Er hatte eine Mission, die er konsequent verwirklichte, aber er war kein Missionar. Er war Realist, der sich die Frage stellte: Ist die Zeitung im Stile eines Generalanzeigers noch zeitgemäß? Hat sie eine Zukunft?

Kolbe begann die Leser-Forschung bei seinem Verleger Edzard Gerhard, der Anfang der achtziger Jahre den Verlag von seinem Vater übernommen hatte: „Ich mochte die eigene Zeitung nicht mehr lesen“, bekannte der Verleger. So viel Ernüchterung war selten, wenn nicht einmalig vor 35 Jahren. Auch der neue Chefredakteur mochte seine Zeitung nicht – und war erstaunt, dass es seinen Lesern ähnlich ging.

Sie langweilten sich bei Meldungen wie „Außenminister Genscher wird morgen mit seinem Amtskollegen NN zusammentreffen und voraussichtlich die bilteralen Beziehungen erörtern…“ Kolbe beschloss das Ende der Langeweile, wollte nicht mehr die kostbare Zeit seiner Leser vergeuden – und verbannte „die zahllosen Handschüttel- und Bundestags-Stehpult-Bilder gnadenlos aus der Zeitung“. Er riß die Ressortgrenzen nieder, schuf eine vertikale Struktur in der Redaktion – also: Lokales und Welt auf Augenhöhe. „Rathaus und Bundeshaus in einem Team“, so arbeitete Kolbe in seiner Redaktion.

Kolbe war ein harter Chefredakteur, dem seine Leser wichtiger waren als seine Redakteure – die sich heftige Kritik gefallen lassen mussten:
> Mittelmäßiger bis schlechter Sprachstil,
> weitgehend ohne Kenntnis der journalistischen Stilmittel,
> dürftige optische Darbietung,
> ungeordnet und meist schlecht ausgebildet.

Diese Kritik übte er nicht nur an seiner Redaktion: „Das ist der Standard vergleichbarer Tageszeitungen (was ja nichts mit Auflagenhöhen zu tun hat)“.

Kolbe trennte sich vom Mantel aus Osnabrück und schuf eine Zeitung aus einem Guß. Auf der Titelseite standen gleichrangig Nachrichten aus Emden und der Welt – eben die wichtigsten des Tages aus der Perspektive der Leser. Nicht selten, wenn die Welt ruhte, standen allein Berichte und Fotos aus Emden auf der Titelseite.

Aber nicht „Local first“ wurde zum Prinzip, sondern stets: „Einordnung des lokales Sachverhalts in das Gesamtgeschehen des Tages“ – mit der Folge, die heute Online-Redakteure als von ihnen entdeckten Fortschritt preisen:

Erst in der Mischung aller bedeutenden Ereignisse eines Tages erhält das Lokale den richtigen Platz und angemessenen Stellenwert. Auch das könnte man wieder umgekehrt ausdrücken.

Das erste Buch wurde zum lokalen Buch, Politik und Meinung wanderten ins zweite Buch. Die Hausfarbe der Zeitung wechselte vom Blau zu Orange, der Blocksatz wurde vom Flattersatz abgelöst – ein bisschen und mehr sah dieEmder Zeitung aus wie USA Today. Die Auflage stieg, in manchem Jahr über vier Prozent.

Kolbe nannte seine Revolution selber den „Urschrei“ und machte sich ein wenig lustig über andere, also die meisten Zeitungen, die Alarmzeichen nicht sehen wollten. Der Rest der Chefredakteure machte sich allerdings lustig über den Provinzler von der Küste. Wer das Lokale so hoch schätzte wie Kolbe musste sich Urteile wie „Das Ende des Qualitätsjournalismus“ gefallen lassen.

Nur wenige sahen die Zeichen: Der Wiener Publizistik-Professor Wolfgang Langenbucher geißelte die Mißachtung des Lesers und die Hofberichterstattung in den meisten Zeitungen. Schon in den achtziger Jahren hielt er die wachsenden Reichweiten-Verluste bei den jungen Leuten für eine Gefahr – für die Zeitung wie für Gesellschaft und Demokratie. Die Frage, ob die Zeitung ein Integrationsmedium bleiben kann, hielt Langenbucher für eine „Schicksalsfrage der Gesellschaft“.

Ebenfalls in der achtziger Jahren schuf Dieter Golombek das „Lokaljournalistenprogramm“ – in einer Behörde, der Bundeszentrale für politische Bildung. Kaum ein Programm hat den Journalismus in Deutschland stärker verändert. 1980 vergab  Golombek erstmals den „Deutschen Lokaljournalistenpreis“, der zum bedeutendsten Zeitungs-Preis in Deutschland wurde, der Trends erkannte und setzte. 1980 – das war auch das Jahr, in dem Emden aufbrach in die neue Zeitungszeit.

Die Emder Zeitung hat, wenn ich es recht überblicke, nie den Lokaljournalisten-Preis gewonnen. Das ist einer der wenigen Irrtümer der Jury. Kolbe hätte für seine Pioniertat und sein  Lebenswerk den Preis verdient gehabt – ebenso wie den Theodor-Wolff-Preis, den aber bis heute vor allen Leitartikler und Helden des Generalanzeigers für ihr Lebenswerk bekommen.

Kolbes Konzept ist seltsam modern: Die meisten Debatten um die Zukunft der Zeitung und die Gegenwart des Digitalen kreisen um Themen und Ideen, die er schon früh erkannt und formuliert hatte. Am 6. April 2014 ist Herbert Kolbe gestorben, 72 Jahre alt.

Ich habe viel von ihm gelernt. Parallel zur Emder Zeitung entwickelte ich mit meiner Redaktion in der Oberhessischen Presse eine moderne Lokalzeitung im Marburg der achtziger Jahre, belächelt von den meisten in der Zunft, aber geachtet von den Lesern in der Universitätsstadt; auch in Marburg stieg die Auflage kontinuierlich, als das Lokale auf die Titelseite und  ins erste Buch kam.

Der Chefredakteur der Oberhessischen Presse berief sich übrigens auf ein noch älteres Konzept, das der US-Presse-Offizier Shepard Stone 1945 bei der Lizenzvergabe so formuliert hatte:

Die Zeitung muss sich durch die Art ihrer Berichterstattung das Vertrauen der Leser erwerben: Der Lokalberichterstattung muss die stärkste Beachtung geschenkt werden und damit den vordringlichsten Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volks.

*

Quelle für Kolbe- und Langenbucher-Zitate:
> Bernd-Jürgen Martini „Journalisten-Jahrbuch 1989“, darin:
> Herbert Kolbe „Das Beispiel Emden: Wie man Erfolg hat“
> Wolfgang Langenbucher „Noch immer wird der Leser mißachtet!“

Qualitätsjournalismus und das liebe Geld

Geschrieben am 21. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Allein mit Qualitätsjournalismus kann heute niemand mehr überleben.

Hubert Burda sprach so bei einer Digitalkonferenz in München, offenbar als Zwischenruf – und gegen Jakob Augstein, der stolz ist, sein Geld mit dem Verkauf einer Zeitung zu verdienen.

Quelle: SZ und Horizont.net vom 20./21. Januar 2014

KOMMENTARE (Facebook) am 21. Januar 2014:

Anton Sahlender:
Kann meinen Widerspruch nicht beweisen, mag aber diesen Beitrag nicht teilen …

Paul-Josef Raue:
Selbstverständlich können wir mit Qualitätsjournalismus überleben, ja eine Demokratie wird auf Gedeih und Verderb darauf angewiesen sein. Wir müssen nur – auch in den Redaktionen – die Bedürfnisse unserer Leser genau erkennen, wir müssen ihnen das bieten, was sie wirklich brauchen und wofür sie Geld bezahlen, und wir müssen sie mit Qualität überraschen.

Bis heute haben wir nicht selten über Qualität nachgedacht, weil die Leser uns nur zu einem Teil bezahlt haben; das meiste Geld kam von der Reklame . Lange stimmte der Satz, der noch in den ersten Auflagen des „Handbuch des Journalismus“ stand (das war kurz vor der Jahrhundertwende):

„Die dritte Spielart des bedenklichen Journalismus: der verknöcherte Journalismus. Seine Kalk-Ablagerungen finden sich in jeden saturierten Abonnementszeitungen, die mit journalistischen Mitteln gar nicht ruiniert werden können…“
vor einigen Sekunden · Gefällt mir

„Das eitle Geschwätz eines Kollegen“ – Akkreditierungs-Streit vor dem NSU-Prozess war meistgelesener Blog 2013

Geschrieben am 7. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Der FAZ-Redakteur Albert Schäffer kommentierte in der Sonntagszeitung: Nur überregionale Zeitungen können den Lesern ein vielfältiges Bild beim NSU-Prozess bieten. Meine Replik war 2013 der meistgelesene Beitrag in diesem Blog: „Bei allem Respekt vor Ihrer Überheblichkeit: Das können wir in der Provinz auch, und wahrscheinlich in diesem Prozess besser als Sie.“

 

„Was ist von Raues Kritik zu halten?“, fragte die Drehscheibe einige Chefredakteure im Mai und erhielt diese Antworten:

Horst Seidenfaden, Chefredakteur Hessische/ Niedersächsische Allgemeine:
Medienwelt nicht begriffen

Paul-Josef Raue hat uneingeschränkt Recht. Wenn die politische Meinungsbildung über Zeitungsinformation nun gerade in Ostdeutschland nur über überregionale Blätter funktioniere würde, dann würde dies zur politischen Verdummung auf breitester Basis führen. Herr Schäffers Ansicht ist das eitle Geschwätz eines Kollegen, der die Medienwelt von heute nicht begriffen hat.

 

Michael Husarek, stellvertretender Chefredakteur Nürnberger Nachrichten
Nicht zur Auseinandersetzung geeignet

Der NSU-Prozess ist ein Verfahren, das – sowohl unter Berücksichtigung der politischen Bedeutung der rechtsterroristischen Anschlagsserie und ihrer zunächst gänzlich unzureichenden Aufarbeitung seitens der Ermittlungsbehörden als auch mit Blick auf die Angehörigen der Opfer – sich gewiss nicht für eine Auseinandersetzung unter Tageszeitungs-Kollegen eignet. Weder ist hier überregionale Arroganz angebracht, noch handelt es sich bei der Thematik um eine rein ostdeutsche Angelegenheit. Auch wir als Nürnberger Nachrichten könnten viele Gründe ins Feld führen, warum gerade unsere Zeitung als auflagenstärkstes Blatt in Nordbayern einen Platz bekommen hätte müssen (Nürnberg ist die Stadt mit den meisten Todesopfern (3), in Nürnberg nahmen die Ermittlungen ihren Anfang (Soko Bosporus) und bei den Nürnberger Nachrichten wurde ein Bekenner-DVD abgegeben). Wichtig ist aus meiner Sicht vielmehr, dass jedes Medium auf die jeweilige Leserschaft zugeschnitten zielgenau und -gerecht berichtet. Dies ist die FAZ, für die Thüringer Allgemeine und für die Nürnberger Nachrichten sowie für alle andere (Print-)Titel eine große Herausforderung, der es gerecht zu werden gilt. Ein Platz im Gerichtssaal würde diese Aufgabe natürlich erleichtern.

 

Georg Anastasiadis, stellvertretender Chefredakteur Münchner Merkur:
Zu vehement

Die Kritik des Kollegen aus Thüringen ist mir etwas zu vehement ausgefallen. Richtig ist allerdings, dass nicht jede Formulierung im Schäffer-Artikel glücklich war, insbesondere nicht der Hinweis auf die „erfahrenen Berichterstatter“. Abgesehen davon halte ich es für eine Selbstverständlichkeit, dass ein international beachtetes Leitmedium wie die FAZ bei diesem Prozess vertreten sein muss. Ich finde es bedauerlich, dass die Ungeschicklichkeit des Münchner Oberlandesgerichts bei der Zulassung der Prozessbeobachter erst eine Situation des Gegeneinanders von überregionalen Titeln und den auflagenstarken Regionalzeitungen geschaffen hat.

 

Armin Maus, Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung:
Qualität ist kein Reservat

Paul-Josef Raue sagt es völlig richtig – die Qualität der Berichterstattung ist kein Reservat der FAZ. Unsere Thüringer Kollegen beweisen mit ihrer Arbeit rund um den NSU-Prozess, dass sie deutlich mehr Kenntnis des Umfeldes und des Hintergrunds mitbringen. Handwerklich sind sie mit der FAZ auf Augenhöhe. Die Vorstellung, eine Handvoll überregionaler Zeitungen würden über die nationale und internationale Spiegelung dieses Prozesses entscheiden, hat meines Erachtens mit Selbstüberschätzung zu tun.

 

Joachim Braun, Chefredakteur Nordbayerischer Kurier:
Kritik trifft den Kern

Paul-Josef Raue hat mit seiner Kritik den Kern getroffen: die Überzeugung der überregionalen Zeitungen, sie und nur sie würden die öffentliche Meinung machen. Tatsächlich ist die Verbreitung der Regionalzeitungen zwar fragmentiert, aber viel größer. Und nur wir können Befindlichkeiten der Menschen richtig abschätzen, wie es Kollege Raue ja auch in seinem Blogbeitrag mit Hinweis auf die spezifisch ostdeutsche Sichtweise sagt. Zugegeben, ich finde die Ungeschicklichkeit des Münchner Gerichts ziemlich daneben und habe mich auch geärgert, dass unsere Zeitung den Platz, den wir nach der ersten Ausschreibung noch hatten, dann bei der Lotterie verlor. Aber das wurde ja bei der FAZ auch noch geheilt – durch die Großzügigkeit der Regionalkollegen aus Marburg.“


Stefan Kläsener, Chefredakteur Westfalenpost:
Keine Rechercheleistung

„Kollege“ Schäffer hat, um es auf den Punkt zu bringen, es einen Revisionsgrund genannt, dass die Öffentlichkeit nicht hergestellt sei, wenn nicht die einzig kompetenten Berichterstatter der überregionalen Tageszeitungen anwesend seien. Er hat das in das Stilmittel der Paralipse gekleidet, was es nicht besser macht, sondern den Arroganzgrad noch einmal erhöht. Damit nicht der Eindruck einer beleidigten Leberwurst entsteht: Wann hat der Kollege das letzte Mal die Brigitte gelesen? Kennt er deren preisgekrönte Reportagen? Es ist traurig bestellt um die deutschen „Qualitätsmedien“, wenn sie das Weihrauchfass nur noch gegen sich selbst schwenken, und dazu noch ohne sichtbare Rechercheleistung in Sachen NSU.


Falk Zimmermann, stellvertretender Chefredakteur Fränkischer Tag:
Keine Deutungshoheit

Ich teile den Unmut von Herrn Raue, denn über die „Grundfesten unseres Gemeinwesens“ besitzen die überregionalen Medien keine (alleinige) Deutungshoheit. Gerade die lokale und regionale Presse hat eine wichtige Aufgabe – sie ist in der Fläche präsent, sie hat die Kompetenz vor Ort und kann die Metaebene in die Lebenswirklichkeit ihrer Leser herunterbrechen. Das gilt für den NSU-Prozess im besonderen, denn die Täter haben nicht irgendwo agiert, sondern an ganz konkreten Orten. Ihre Hintermänner stammen zu einem Gutteil „aus der Provinz“ – diese „Provinz“ kennen wir als lokale Medien aus dem tagtäglichen Erleben – und nicht nur aus dem Blickwinkel einer Recherchereise.

 

Drehscheibe, 13.Mai 2013

Seiten:«1234»

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