Nach dem Mauerfall verschwanden die DDR-Schulbücher und das Tuwort (Friedhof der Wörter)
Nicht über Anglizismen klagen wir in dieser Kolumne, sondern über Latinismen, also lateinische Wörter. „Alles war anders nach der Revolution! Auch in den Schulbüchern“, erinnert sich eine Lehrerin, „die Schulbücher kamen aus dem Westen, weil wir unsere alten DDR-Bücher nicht mehr benutzen durften. Da standen plötzlich andere Wörter: Unser Tu-Wort mutierte zum Verb, das Hauptwort zum Substantiv.“
Verwirrt waren offenbar einige Lehrer und klagen in Internet-Foren – wie einer, der sagt, er habe einen „Knacks wegbekommen, als das Namenswort zum Nomen wurde“; andere schütteln den Kopf, weil sie auch – wie im Westen – mit Verben und dem Genitiv gearbeitet hatten.
Waren DDR-Schulbücher besser? Der Bücherversand „DDRBuch.de“ jedenfalls bietet noch viele Schulbücher aus den vorrevolutionären Zeiten an und preist: „DDR-Schulbücher waren didaktisch besser aufgebaut als heutige Schulbücher.“ Deshalb würden heute noch DDR-Schulbücher nachgefragt für die eigenen Kinder oder Enkelkinder – und zum Nachhilfe-Unterricht. In dem Versand kann beispielsweise „Aus vergangener Zeit – Geschichte Klasse 5 Lehrbuch DDR“ für 19.99 Euro bestellt werden.
Also beerdigen wir die lateinischen und griechischen Wörter? Es wird uns nicht gelingen, sie prägen unsere Sprache viel stärker als englische; zwei moderne Beispiele:
> „Digital“ stammt vom lateinischen „Digitus“ und bedeutet: Finger oder Zahl. Die Zahl leiteten die Sprachschöpfer von den Fingern ab, die noch heute Grundschüler zum Zählen nutzen.
> „Television“ und somit unser „Fernsehen“ gründet im lateinischen „Visio“, das bedeutet: „Sehen“, und im griechischen „Tele“ für „weit weg“.
Als unsere deutsche Sprache wuchs und wuchs, bediente sie sich der lateinischen; als sie jung und verliebt war, galt als modern, wer viele französische Wörter kannte. Der Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz, der in Jena studiert hatte, beschwerte sich über „ungereimtes Mischmasch und Undeutlichkeit“, als immer mehr französische Wörter in „die uralte deutsche Hauptsprache“ eindrang, eine Sprache mit „anständigen Reinigkeit“.
So ähnlich klingt es heute, wenn wir den Mischmasch der Anglizismen beklagen – und am Ende der DDR der Latinismen.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“ 10.11.2014
Quellen:
> Uwe Pörksen auf „goethe.de„: http://www.goethe.de/ges/phi/prj/ffs/the/spr/de4980180.htm
> Tore Janson: Latein: Die Erfolgsgeschichte einer Sprache (2006), Seite 151f
Der Mauerfall und die DDR-Journalisten: Aus kollektiven Agitatoren und Propagandisten werden 1989 Redakteure
„In der DDR gab es keinen echten Journalismus“, schreibt Hanno Müller, der 1989 Redakteur von Das Volk war, der SED-Bezirkszeitung in Erfurt, und der heute Reporter ist der Thüringer Allgemeine. Er blickte in der TA zurück: Was geschah in den Redaktionen in der Revolutions-Zeit und in den Jahrzehnten danach:
Spätestens ab dem Sommer des Jahres 1989 ist die DDR in Aufruhr. Die Welle der Republik-Flüchtlinge nimmt dramatische Ausmaße an. Ungarn öffnet seine Grenzen. Die westlichen Botschaften des Ostblocks füllen sich mit Ausreisewilligen. Viele kommen mit Kind und Kegel.
Die Parteizeitungen aber machen weiter wie bisher. Kaum eine Ausgabe ohne den Abdruck langer Reden über die unverbrüchliche Freundschaft zur Sowjetunion oder über die DDR als Garant des Weltfriedens. Nach dem Republikgeburtstag brüstet sich der Partei- und Staatschef über zwei Seiten mit den Vorzügen des Sozialismus.
Anfangs verschweigen die DDR-Medien die Fluchtwelle komplett. Dafür hat das Thema in den West-Medien Konjunktur. Als es gar nicht mehr anders geht, wird der Massenexodus gegeißelt als „stabsmäßig organisierte Provokation“ der BRD, die sich eine völkerrechtswidrige Obhutspflicht anmaße.
Überschriften noch im September 1989 lauten „Eiskaltes Geschäft mit DDR-Bürgern“ oder „Der große Coup der BRD“. Die Flüchtlinge werden verunglimpft. Zur Ausreise der Prager Botschaftsflüchtlinge Ende September heißt es, die Menschen hätten sich aus der Gesellschaft ausgegrenzt, man sollte ihnen keine Träne nachweinen.
Die Propaganda-Texte werden in der Berliner ADN-Zentrale – dem Allgemeinen Deutschen Nachrichtendienst – oder in den Propaganda-Abteilungen des Politbüros formuliert. Verweigern können die Redakteure vor Ort den Abdruck nicht.
Journalisten sind Teil des Systems
Allerdings muss im Sommer 1989 in den Redaktionen noch niemand gezwungen werden, die Verlautbarungen aus Berlin zu verbreiten. In der DDR gibt es 1989 zwei Fernsehprogramme, fünf Radiostationen und die zentral gelenkte Nachrichtenagentur ADN. Dazu eine überregionale und 15 regionale SED-Zeitungen sowie 18 Zeitungen der sogenannten Blockparteien.
Unabhängige Medien – Fehlanzeige. Journalisten sind Teil des Systems. Entweder sind die Zeitungen „Organ“ einer Partei oder sie gehören parteinahen Massenorganisationen wie dem Kulturbund oder dem FDGB. Kontrolle und zentrale Steuerung werden hingenommen.
Wie die Hierarchien der SED sind auch deren Tageszeitungen regional durchgegliedert. Jeder Bezirk hat sein Partei-Organ. In Erfurt ist es „Das Volk“ mit 15 Kreisredaktionen. Das Politbüro sitzt quasi mit am Schreibtisch. Der jeweilige Kreisredakteur erhält Richtlinien aus der Kreisleitung, üblicherweise ist er dort auch selbst Mitglied. Für den Chefredakteur ist die Bezirksleitung zuständig.
Wer in der DDR Journalist wird, weiß, was ihn erwartet – die Parteimitgliedschaft eingeschlossen. Bei SED-Zeitungen gibt es für Journalisten keine Freiräume, allenfalls Spielräume. Trotzdem ist der Beruf begehrt. Hunderte bewerben sich jährlich für den Studiengang in Leipzig. Etwa 100 werden nach einem strengen Auswahlverfahren genommen. Die Motivationen sind unterschiedlich – als künftige Parteisoldaten sehen sich die wenigsten.
Sowieso rekrutiert sich der Berufsstand aus dem Teil der Bevölkerung, der das System DDR letztlich nicht infrage stellt. Wer den Sozialismus grundsätzlich ablehnt, bewirbt sich nicht in einer Redaktion – und würde auch kaum genommen.
Es ist die Mischung aus Überzeugung und Anpassung, die das Leben in der DDR möglich und durchaus erträglich macht. Man darf meckern – wenn man weiß, wann man den Mund halten muss. Journalisten verstehen sich besonders gut darauf, die eigene Meinung und das, was sie aufs Papier bringen, voneinander zu trennen. Man kann über alles reden, diskutieren, streiten, selbst in der Redaktion. Lästerhafte, zynische Reden sind Teil des kritischen Selbstverständnisses – nur schreiben darf und wird man es nicht. Gewöhnlich müssen DDR-Journalisten dazu nicht ermahnt werden – sie zensieren sich freiwillig.
Ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam
Dabei ist gerade in den Redaktionen die Verachtung für die dummen und dogmatischen Bonzen da oben groß. Man kennt sie, hört sie bei Veranstaltungen Parteichinesisch reden, weiß um ihre Doppelmoral, ihre Saufgelage oder ihr Luxusgehabe – mit ihnen anlegen wird man sich dennoch besser nicht.Oft beruhen die Antipathien auf Gegenseitigkeit. Weil die Funktionäre ihrerseits den „Sesselfurzern an den Schreibmaschinen“, wie sie sie in ihrem rotzigen Funktionärsjargon auch gern mal öffentlich nennen, nicht trauen, pflegen Redaktionen und Parteiführungen ein zynisches Verhältnis aus Abhängigkeit, Indoktrination und vorauseilendem Gehorsam.
Auf die Frage, warum kluge Köpfe einen derart schizophrenen Zustand hinnehmen und aushalten, antworten viele Journalisten, trotz realer Unzulänglichkeiten glaube man an die Idee von der besseren Gesellschaft. Mit dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit, den Absurditäten und Albernheiten im Alltag geht jeder in der DDR auf individuelle Weise um.
Gleichaltrigen Freunden ist vor 1989 oft schwer zu erklären, warum man macht, was man macht und schreibt, was man schreibt. Zeitungen in der DDR sind nicht besonders sexy, gelten als langweilig und bieder. Oft sind sie auch denen peinlich, die sie machen. Wer sich anfangs noch dagegen auflehnt, resigniert schnell.
Der Beruf hat eben auch schöne Seiten. Man kommt raus, lernt Leute kennen, kann sich als Teil des gesellschaftlichen Prozesses fühlen – und schreiben. Dass bei den meisten Themen die rosarote Brille nicht fehlen darf – das kennt man so auch in anderen Bereichen der DDR.
Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen
Auch draußen in den Betrieben und auf den Feldern weiß man, was man von den Zeitungsleuten erwarten kann. Man redet offen – und mahnt zugleich: „Aber das schreibst du nicht!“. Meist bedarf es dieses Hinweises nicht. Vielfach sind die Gesprächspartner von den Parteileitungen ausgesucht. Das garantiert ein unausgesprochenes Einverständnis. Man weiß doch, wie die Dinge im Land laufen.
In wissenschaftlichen Arbeiten über den DDR-Journalismus ist später zu lesen, Leser und Zeitungsmacher befänden sich in einer Art „opportunistischen Tateinheit“: Alle machen mit, weil sie es nicht anders kennen.
Dabei gehörten Journalisten in der DDR zu denen, die mit am besten über den Zustand der Gesellschaft und die Machtverhältnisse im Bilde sein sollten. Sie sind täglich vor Ort, kennen interne Parteiberichte, wissen, wo der Schuh drückt. In den Zeitungen bzw. Rundfunk- oder Fernsehbeiträgen aber überwiegt die heile Welt – es sei denn, die Partei selbst meint, man könne doch mal mit dosierter Selbstkritik den Siegeszug des Sozialismus voranbringen.
Die vornehmste Aufgabe der Parteischreiber ist die Überzeugung – bei den Empfängern verfängt sie kaum. Der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz spricht nach der Wende vom Zusammenhang zwischen verordneter Fehlinformation und individuellen Abwehrmechanismen. Trotzdem ist es zu DDR-Zeiten schwer – auch wegen des Papiermangels -, ein Zeitungsabonnement zu bekommen.
Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit
Als die SED-Führung Mitte der 80er die Gorbatschow-Worte Glasnost und Perestroika einschließlich ihrer deutschen Übersetzung auf den Index setzt, wird zwar zähneknirschend debattiert – trotzdem halten sich die Redaktionen an das Verbot.Die Zensur des Sputnik 1988 oder die Verfügung, das üblicherweise groß gefeierte Festival des sowjetischen Filmes diesmal kleinzuhalten – die DDR-Zeitungen stehen bei Fuß.
Als die Weisung ausgegeben wird, dass Ausreiseantragsteller nicht auf den Zeitungsseiten vorkommen dürfen, gleichen die Redaktionen Namen ihrer Gesprächspartner mit den Dienststellen ab. Und sie vermeiden es, anonyme Menschenansammlungen von vorn zu fotografieren oder abzubilden.
Es gibt Kultur-, Wirtschafts- und Außenpolitik-Redakteure. Eine Abteilung widmet sich dem Parteileben. Journalisten sind keine homogene Masse. Jüngere denken anders als Kollegen der ersten Stunde. Unter den Redakteuren sind Feingeister, aber auch viele Betonköpfe. Manche schreiben mit dem ideologischen Holzhammer, andere mit feinerer Feder.
Beim Nachweis der eingeforderten „Parteilichkeit“ gibt es je nach Art des Mediums und des Themas durchaus Abstufungen. Sportseite, Lokales oder die Kultur bieten noch am ehesten Realitätsnähe. Auch in der Wochenendbeilage sind Begegnungen mit Funktionären selten. Wirklich abtauchen kann keiner.
Am Ende ist auch der Kommentar über die Lage in Ecuador oder der Beitrag über den Frühjahrsputz Teil der Propaganda. Die Diskrepanz zwischen Berichterstattung und Lebenswirklichkeit ist nicht zu übersehen.
Es gibt keinen echten Journalismus in der Vorwende-DDR. Die sich dort Journalisten nennen, sind Parteiarbeiter und „Weiterleiter“ – „kollektive Propagandisten, Agitatoren und Organisatoren“, wie es bei Lenin heißt. Die in den Redaktionen dabeibleiben, wissen und erdulden es. Nach der Wende schämen sich nicht wenige dafür. „Aufs Ganze gesehen, war der DDR-Journalismus ein von Opportunismus, Frustration und Dummheit heimgesuchtes Geschäft“, schreibt der Spiegel 1995. Auch wenn es weh tut – man muss es wohl so sehen.
Redakteure entdecken im Wendeherbst die Wahrheit
Es sind eben diese DDR-Journalisten, die in den Wirren des Umbruchs zu echten Lebenshelfern und Begleitern des Systemwandels werden. Oftmals die gleichen Redakteure, die noch gestern Beiträge über die Feinde des DDR-Sozialismus redigieren, schreiben nun über Missstände, Amtsmissbrauch oder langjährige Tabus.
Man kann DDR-Journalisten als Wendehälse bezeichnen, muss aber auch einräumen, dass sie schnell wissen – und wohl immer wussten, wie es richtig geht. Der nahtlose Übergang funktioniert auch, weil die Menschen in den Redaktionen selbst Beteiligte am Veränderungsprozess sind. Wie die Bürger bei Foren und Demonstrationen ihren Mut entdecken und ihre Meinung offen sagen, begeistern sich nun auch Journalisten an der unzensierten Wahrheit.
Zugute kommt den Redaktionen dabei, dass sie – im Gegensatz zu anderen Gliedern des alten Herrschafts- und Propaganda-Apparates – noch gebraucht werden. Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen werden zu Multiplikatoren der neuen Sprachmächtigkeit. Sie verbreiten die Ergebnisse der Diskussionsrunden und Runden Tische. Sie veröffentlichen Programme und Forderungskataloge der neuen Parteien und Gruppierungen und liefern immer neue Details aus den einstigen Hinterzimmern der Macht.
Der Zorn der Leser auf die Redakteure hält sich in Grenzen. Bei den Erfurter Donnerstagsdemonstrationen skandieren Demonstranten vor dem Volk-Hochhaus „Schreibt die Wahrheit“. In die Redaktionsstuben kommen nur wenige – sie bleiben friedlich und freundlich.
Die Medien werden zur Plattform für das neue Mitteilungsbedürfnis. Leserbriefe, bis dahin streng auf Systemkonformität geprüft oder gleich ganz in den Redaktionen verfasst, füllen nun ganze Seiten. Die Nähe zu ihren Lesern sowie zu den Themen und Gerüchten, die diese schon zu Zeiten vor der Wende bewegten, die Kenntnis der Situation in den Betrieben und Gemeinden, all das verschafft den Ostredakteuren auch einen Vorteil gegenüber neuen Westblättern, die sich zu etablieren versuchen.
Viele DDR-Journalisten tun sich schwer mit ihrer Vergangenheit
Vieles dreht sich um die Aufarbeitung bisheriger Tabus – um sowjetische Internierungslager, Grenztote und Zwangsausgesiedelte, um verborgene Waffenlager oder die Jagdgelüste der gestürzten Bonzen. Befreit zu recherchieren, macht Spaß. Die Wertschätzung der Leser auch.
Zudem entdecken die Ostzeitungen ihre neue Service- und Ratgeberfunktion. In der Noch-SED-Zeitung Das Volk erscheint das Fernsehprogramm von ARD und ZDF. Nach der Maueröffnung erfährt man aus der Zeitung, wie man in den Westen kommt, wo es Westgeld gibt und welche Grenzübergänge wann neu geöffnet werden.
Ende ’89 müssen viele Neuerungen noch gegen die Parteileitungen und teils gegen die eigenen Chefredaktionen ertrotzt werden. Noch hängen die Blätter am Tropf der Berliner Zentrale, von der Geld und Papier kommen. In den sogenannten „Herbstmonaten der Anarchie“ aber scheint inzwischen nichts mehr unmöglich zu sein. Anfang Dezember tilgt die Volkskammer die führende Rolle der SED aus der Verfassung. Damit sind auch die Tage der Gängelung der Redaktionen gezählt.
Nach der Wende tun sich viele DDR-Journalisten schwer mit ihrer Vergangenheit. „Ja, aber“ ist oft zu hören. Ja, man war systemnah, aber man habe doch auch unter der Zensur gelitten und vieles „zwischen den Zeilen“ transportiert. Auch auf die Parteischule hat es manchen nur verschlagen, weil es nicht anders ging.
Wo die Selbsterkenntnis doch stattfindet, ist sie schmerzlich. So wie bei Alexander Osang, der nach der Wende schreibt: „Die Frage, was aus mir geworden wäre, wenn sich die Ereignisse nicht überschlagen hätten, macht mich ganz krank.“
Thüringer Allgemeine, 3. November 2014
Hanno Müller ist Reporter der Thüringer Allgemeine: Er war – zusammen mit Dietmar Grosser – federführend bei der großen Serie „Treuhand in Thüringen – Wie Thüringen nach der Wende ausverkauft wurde“, die mit dem Deutschen Lokaljournalistenpreis 2013 ausgezeichnet wurde. Die Serie ist auch als Buch in der Thüringen Bibliothek des Essener Klartext-Verlags erschienen (Band 9, 13.95 Euro)
Schäuble, der Shitstorm und die Demokratie (Zitat der Woche)
Ich glaube nicht, dass der Shitstorm die Weiterentwicklung der Demokratie ist.
Finanzminister Wolfgang Schäuble, CDU, bei einem Empfang zum 20.Geburtstag von Spiegel Online am 3. November 2014. Er warnte laut dpa vor der ständigen Beschleunigung des Netzjournalismus und einem „Zustand permanenter Aufgeregtheit“.
Quelle: dpa, Tagesspiegel
Die Zeitung der Zukunft, die Zukunft des Journalismus und der Wert des Lokalen – Ein Interview
Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?, fragte mich Monika Lungmus vor dem Verbandstag des DJV in Weimar. Auf der Online-DJV-Seite ist die redigierte Fassung des Interviews zu lesen; hier die erweiterte Fassung.
Wie sehen Sie die Zukunft des Journalismus? Hat der Journalismus überhaupt noch eine Zukunft?
Paul-Josef Raue: Der Journalismus muss eine Zukunft haben. Denn eine Demokratie ohne gut recherchierenden, tiefgehenden Journalismus hat keine Chance. Wir reden hier nicht nur darüber, ob es weiterhin gedruckte Zeitungen geben wird.
Für eine Demokratie ist ein starker Journalismus unerlässlich. Das ist also auch eine Forderung an die Politiker. Sie müssen die Bedingungen erhalten, dass es einen Journalismus gibt, der die Mächtigen kontrollieren kann.
In der Branche wird ja bereits über Alternativen zur marktwirtschaftlichen Finanzierung des Journalismus diskutiert. Was halten Sie von der Diskussion?
Ich finde die Diskussion richtig, auch wenn ich glaube, dass die marktwirtschaftliche Konstruktion der Presse noch relativ lange, also in den nächsten zehn, zwanzig Jahren, Bestand haben wird. Ich sehe allerdings an den Rändern durchaus Probleme: Wir haben heute schon Landkreise, in denen sich eine Zeitung nicht mehr finanzieren kann. Hier funktioniert also die Kontrolle der Politiker nicht mehr ausreichend, obwohl gerade im Lokalen ein starker Journalismus notwendig ist.
Welche Förderung könnten Sie sich hier vorstellen?
Ich könnte mir auch private Initiativen vorstellen, sei es in Form von Stiftungen, von Vereinen oder mit Recherche-Stipendien von großen Organisationen; ich denke auch an vorbildliche Projekte wie „Zeitungszeit“ in Nordrhein-Westfalen, wo Land und Verlage gemeinsam Schüler an die Zeitung heranführen. Man müsste auch schauen, was andere europäische Staaten an Presseförderung betreiben.
Ich bin aber überzeugt, dass private Initiativen allein nicht reichen. Auch die Verlage haben die Möglichkeiten, die alte wie neue Medien bieten, noch lange nicht ausgereizt. Verleger, Manager und wir Redakteure müssen Konzepte entwickeln, wie wir den Inhalt – gerade im Lokalen und Regionalen – am besten an die Bürger und auch an verschiedene Zielgruppen bringen.
Mit dem lokalen und regionalen Inhalt haben wir einen kostbaren Schatz, den selbst Google und andere Mega-Digitalen nicht besitzen. Wir müssen viel intensiver über die Bedürfnisse der Menschen forschen: Was wollt ihr lesen – wann und in welcher Form?
Wir machen uns in Leitartikeln lustig etwa über die Bahn, wenn sie ihre Kunden nicht zufrieden stellt. Kennen Sie Verlage, die regelmäßig die Zufriedenheit der Leser ermittelt? Das ist auch ein Appell an Manager, denen mehr einfallen will als Sparen, aber auch an uns Journalisten: Wie sehen wir denn die Zukunft? Zudem ist es endgültig Zeit, die Mauer zwischen Verlag und Redaktionen einzureißen.
Wenn Sie mal aufs Handwerk schauen: Wie können und müssen sich Journalisten heute für die Zukunft aufstellen? Was erwarten Sie von künftigen Journalisten?
Das Bewusstsein für Qualität ist bei den Lesern enorm gestiegen. Der normale Leser ist nicht mehr abzuspeisen mit einer 0815-Berichterstattung.
Ganz vorne muss stehen, dass Journalisten wieder öfter zur Recherche kommen. Das ist nicht nur Sache des Spiegel oder der Süddeutschen Zeitung. Weit ins Lokale hinein müssen wir wieder tiefer und besser recherchieren und dafür auch die neuen Möglichkeiten des Datenjournalismus nutzen.
Was wäre für Sie noch wichtig?
Als ich Journalismus gelernt habe, mussten wir uns keine Gedanken machen, wie sich der Journalismus finanziert. Das ist heute anders. Die neue Journalisten-Generation, aber auch die der Älteren, muss über Geschäfts-Modelle nachdenken. Wir nutzen noch lange nicht unsere Möglichkeiten, wenn ich zum Beispiel an regionale Magazine denke, an Bücher, an Zielgruppen-Newsletter und vieles mehr.
Wir müssen die Strukturen aufbrechen: Muss die Zeitung immer und überall jeden Tag erscheinen? Oder zusätzlich am Sonntag? Wie können wir gezielt ganz bestimmte Zielgruppen erreichen? Das heißt: Wir müssen unser Spektrum an Möglichkeiten, wie wir unseren Inhalt ans Publikum bringen, deutlich erweitern.
Kommen wir zur Funke-Gruppe, zu der Ihre Zeitung gehört. Hier wird derzeit darüber diskutiert, ob alle zur Gruppe gehörigen Titel ihren Mantel künftig aus Essen erhalten sollen. Was halten sie von der Idee?
Wir führen unter den Chefredakteuren derzeit die Debatte, was wir zentralisieren können – um sowohl den Lesern mehr Qualität bieten als auch Redakteure wie Geld effektiv einsetzen zu können (zum Beispiel in die digitale Zukunft, die viel Geld fordert aber noch wenig einbringt). Die Konzern-Führung hat diese Aufgabe in die Redaktionen gegeben: Das ist der richtige Weg. Verlage, die es von oben verordnet haben, sind gescheitert, zu Recht.
Für unsere drei Zeitungen in Thüringen ist ein zentraler Mantel beispielsweise kein Thema. Wir haben gar keinen Mantel mehr im alten Sinne. Wir schreiben in unserer Thüringer Allgemeine von der ersten bis zur letzten Seite weitgehend aus der Perspektive der Leser. Wir haben nicht mehr den typischen Politikteil, den typischen Wirtschaftsteil – das ist bei uns alles sehr stark auf Thüringen bezogen, eben auf den Alltag und das Leben unserer Leser
Wir können in Erfurt, Weimar und Gera, wir können im Osten keinen Mantel aus Essen anbieten. Wir haben auch gar keinen Platz für einen fremden Mantel. Wir bieten unseren Lesern – und in erster Linie nicht aus Spargründen – eine relativ schmale Zeitung an, meist 24 oder 28 Seiten. Wir haben von unseren Lesern gelernt: Sie wollen eine Zeitung, die übersichtlich ist und ihnen das Wesentliche in hoher Qualität bietet, das sie in ihrer knappen Zeit bewältigen können. Sie wollen nicht suchen und blättern, sie wollen lesen.
Wir haben alles rausgeworfen, was aus Sicht der Leser nicht zur Kernkompetenz gehört. Wir verzichten etwa auf eine endlose Tagesschau-Wiederholung und komprimieren sie auf eine Seite.
Das Herz der Regionalzeitung ist das Lokale. Und dennoch wird hier vielfach gespart. Sie kennen dies selbst. Ihre Redaktion arbeitet ja im Lokalen – zum Beispiel in Weimar – mit der Thüringischen Landeszeitung zusammen. Wie passt das zusammen?
Zunächst: Unsere Lokalredaktionen sind nicht kleiner geworden. Wir haben im Lokalen denselben Personalstamm wie vor fünf Jahren, als ich in Erfurt angefangen habe.
Kleiner geworden ist die Zentralredaktion, so dass wir den Personalstamm in den Lokalredaktionen zusammen mit dem Thüringen-Desk halten konnten. Gleichwohl machen die Reporter in der Zentrale einen großartigen Job, holten vier Jahre hintereinander einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise, darunter einmal den ersten für die exzellent recherchierte Treuhand-Serie; eine Reihe anderer renommierter Preise kam hinzu, auch für unsere Lokalredaktionen. Ich übertreibe also nicht, wenn ich die TA-Redaktion zu einer der besten in Deutschland zähle.
Zur Thüringischen Landeszeitung (TLZ), unserer Konkurrenz: Sie erscheint sowohl im Verbreitungsgebiet der Thüringer Allgemeinen(TA) als auch in dem der Ostthüringer Zeitung (OTZ). Die TLZ, eine frühere Zeitung der LDPD, ist eine relativ kleine Zeitung, aber sie hat eine große Bedeutung. Denn sie versammelt alle Leser, die kein früheres SED-Organ lesen möchten. Die Unterscheidung zur TA und OTZ spielt sich heute hauptsächlich in der Kommentierung von Thüringer und überregionalen Themen ab. Hier hat die TLZ eine klare eigene Positionierung.
Im Lokalen, das haben wir von den Lesern erfahren, können wir gut zusammenarbeiten. Die Redaktionen sprechen sich bei normalen Terminen wie Pressekonferenzen ab, wer was macht. Das betrifft zum Beispiel nicht unbedingt die Stadtratssitzungen, da behält jeder Titel sein eigenes Profil. Die Kooperation soll also dazu dienen, die Qualität im Lokalen zu erhalten.
Anfang der 90er Jahre erschienen in Thüringen noch 24 Tageszeitungen bei 2,5 Millionen Einwohnern, heute gibt es nur noch sechs Titel: Drei gehören zur Funke-Mediengruppe, drei zur Südwestdeutschen Medienholding. Was bedeutet diese eingebüßte Pressevielfalt für den Journalismus in Thüringen?
Das war in den Revolutions-Wirren eine besondere historische Situation. Ich habe ja selbst seinerzeit eine Zeitung gegründet: die Eisenacher Presse. Das war in jeder Hinsicht Wahnsinn – und in dieser Zeit richtig und wichtig.
Aber es war auch klar, dass das so nicht auf die Dauer funktionieren würde. Das bekommt man gar nicht finanziert: 24 Zeitungen,davon allein 7 in Eisenach, einer Stadt mit 50.000 Einwohnern! Ich halte heute sechs Zeitungen in einem Bundesland mit 2,2 Millionen Einwohnern für viel.
Die drei Titel unserer Funke-Gruppe arbeiten eigenständig. Jeder von uns freut sich, wenn er einen eigenen Coup gelandet hat. Natürlich kämpfen wir nicht so sehr gegeneinander. Wir kämpfen aber um das Interesse und die Zeit der Leser. Das ist das Entscheidende.
Und wenn jemand mit meiner Zeitung unzufrieden ist, dann geht er zur TLZ – oder umgekehrt. Er geht aber nicht in die Nicht-Leserschaft. Das ist der Vorteil unserer Konstruktion.
Wie würde Ihre Traumredaktion aussehen?
Ich würde mir eine Redaktion zusammenstellen, in der Recherche an erster Stelle steht. Ich würde mir junge Leute holen, die diesen „embedded journalism“, also die Nähe zu den Honoratioren, überhaupt nicht kennen.
Dann würde ich Mitarbeiter engagieren, die mit Daten umgehen können, die sich bestens mit der Technik auskennen.
Als Drittes wäre mir Verständlichkeit wichtig; die Leser müssen unsere Texte verstehen. Das Handwerk des verständlichen Stils müssen Redakteure perfekt beherrschen, sonst nutzt all der Recherche-Aufwand nichts. Und sie schreiben auch schön in dem Sinne, dass die Leser Lust aufs Lesen bekommen.
Viertens: Die Mitarbeiter meiner Traumredaktion gehen auf die Menschen zu, reden mit ihnen, nehmen wahr, wo deren Bedürfnisse liegen. Sie respektieren, ja sie mögen ihre Leser und lassen sie das spüren.
fünftens: Es müssten Leute sein, die ein Bauchgefühl für Überraschungen haben, die also Neues wagen, auch wenn Leserforschung und Leserbriefe anderes angeben.
Und der sechste Punkt hieße: Die Traumredaktion hat genügend Personal…
Auf jeden Fall. Wir sind derzeit an einem Scheidepunkt, wo Quantität und Qualität oft nicht mehr zusammenpassen. Aber generell glaube ich, dass Quantität nicht zwangsläufig Qualität bedeutet. Journalismus ist ein Beruf, für den man brennen muss. Jeder Beamte in einer Redaktion ist mir ein Graus.
Zwangsheirat gab es auch in Deutschland vor 200 Jahren (Friedhof der Wörter)
Boko Harem, die islamistische Terror-Armee, hat 200 nigerianische Mädchen entführt und zwangsverheiratet – so eine Meldung vom Wochenende. Wir lesen mit Abscheu neue Wörter wie „zwangsverheiraten“ und würden sie am liebsten gleich auf dem Friedhof der Wörter beerdigen.
Doch so neu ist das Wort nicht, es taucht schon in alten Wörterbüchern auf wie dem der Brüder Grimm. Sie erwähnen den deutschen Dichter Jean Paul, der im Weimar der Goethe-Zeit als Frauenheld mehr von sich reden machte als durch seine Werke.
Als er endlich heiratete und Weimar gen Berlin verließ, entstand der 900-Seiten-Wälzer „Titan“, in dem er vehement gegen die Männer-Ansicht polemisierte: Neigungsehen fallen oft schlecht und Zwangsehen oft gut aus.
Wer so denke, schreibt der Dichter, handle wie alle barbarischen Völker, die nur an das Glück des Mannes denken und nicht die „weiblichen Seufzer hören und zählen“:
Wie niedrig ist ein Mann, der verlassen vom eigenen Wert, eine Frau in ein langes kaltes Leben wegschleppt und sie in seine Arme wie in frostige Schwerter drückt. Diese Seeleneinkäufer erpressen vom bezwungenen Wesen noch zuletzt das Zeugnis der Freiwilligkeit.
Es ist also gerade mal zweihundert Jahre her, dass „zwangsverheiraten“ in Thüringen zum Wortschatz zählte und die Zwangsheirat, nicht selten mit Gottes Segen, keine Erzählung war aus Tausendundeiner Nacht.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 3. November 2014
Juden, Muslime und Christen segnen gemeinsam das neue Haus der „Braunschweiger Zeitung“
Das hat es wohl noch nie gegeben: Die vier großen Religionen schicken ihre Vertreter auf die Bühne des Versammlung-Saals der Braunschweiger Zeitung, die gestern vom Rand der Stadt ins Zentrum gezogen ist. Erst sprachen Geschäftsführer Wahls, dann Niedersachsens Ministerpräsident und Braunschweigs Oberbürgermeister – dann trat vor den vierhundert Gästen der ehemalige Domprediger Hempel ans Mikrofon und kündigte vier Segenssprüche an.
> Die Leiterin der Jüdischen Gemeinde begann mit einem Psalm-Wort: „Wenn der Ewige nicht das Haus baut, mühen sich die vergeblich, die daran bauen.“
> Der katholische Priester hofft auf ein „Haus des respektvollen Umgangs“.
> Der Leiter der muslimischen Gemeinden segnet mit dem barmherzigen Allah.
> Und die lutherische Dompredigerin zitiert den Propheten Jeremia: „Suchet der Stadt Bestes und sprecht Gedanken des Friedens und nicht des Leides.“
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Detailreicher der Liveticker der Braunschweiger Zeitung:
+++14:08+++ Den Reden im Kongresscenter folgen vier interreligiöse Segenswünsche, eingeleitet vom ehemaligen Braunschweiger Domprediger Joachim Hempel: „Das waren noch Zeiten, als Sprücheklopfer auch an der Langen Straße zwischen Andreas, Petri und der Franziskaner-Klosterkirche gut zu tun hatten: Kein Fachwerkhaus ohne Sinnspruch und Segenswort über Tür und Tor: ehrbares Handwerk!“, sagte er.
„Diese Form der Sprücheklopfer ist ausgestorben. Aber wer zurückkehrt von der Peripherie in die Mitte der alten Stadt – der hat Anspruch auf einen Glück- und Segenswunsch fürs Haus und für alle, die hier ein- und ausgehen. Und dieser Segenswunsch kommt von Juden, Christen und Muslimen gemeinsam, je in eigener Art, aber doch wohl erstmalig für ein Presse- und Medienzentrum in Deutschland eben gemeinsam: Segenssprücheklopfer des 21. Jahrhunderts mitten in unserer geliebten Stadt!“
+++14:10+++ Renate Wagner-Redding, die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Braunschweig, sprach in Vertretung für Landesrabbiner Jonah Sievers: „Herr der Welt: Gib, dass alle die hier arbeiten, dies zusammen in Harmonie und zum Wohle unserer Stadt tun. Er möge allen Mitarbeitern bei ihrer schwierigen Suche nach der Wahrheit beistehen, auf dass sie niemals das Gebot „Du sollst nicht als Verleumder in deinem Volke umhergehen“ (Lev 19,16) überschreiten und die Macht ihrer Worte immer weise abwägen: „Durch Weisheit wird ein Haus gebaut, durch Verstand wird es erhalten. Durch Klugheit werden die Kammern gefüllt mit allerlei wertvollen, köstlichen Gütern“ (Spr. 24,3-4).“
+++14:11+++ Hayri Aydin, der Vorsitzende des Rats der Muslime in Braunschweig, sagt:
„Ich wünsche Ihnen, dass Sie auch zukünftig immer zuerst fragen: Wer will was wissen?, und immer den Menschen im Blick haben. Keinen Tag soll es geben, an dem Sie sagen müssen: Niemand ist da, der uns hört. Keinen Tag soll es geben, an dem Sie sagen müssen: Niemand ist da, der uns liest. Keinen Tag soll es geben, an dem Sie sagen müssen, niemand ist da, der uns hilft.“
+++14:13+++ Die Braunschweiger Dompredigerin Cornelia Götz sagt, ein Haus zu segnen sei zwar nicht protestantisch – aber den Menschen, die in diesem Haus ein- und ausgehen, arbeiten, denken, Meinungen bilden und Urteilsfindung begleiten, Gottes Segen für ihr Tun und Lassen zu wünschen, sehr wohl. „So möge, was hier geschieht und von hier ausgeht der Stadt Braunschweig Bestes suchen, dem Frieden dienen und für die Zukunft förderlich sein“, sagt sie. „Möge es gelingen, bei der Wahrheit zu bleiben und unserem Nächsten zu dienen, wer immer es ist. Und möge in allen Herausforderungen und Schwierigkeiten nicht vergessen werden, dass Gott uns nicht einen Geist der Verzagtheit gegeben hat, sondern einen Geist der Kraft, der Liebe und der Besonnenheit.“
++ Für die Katholiken spricht Propst Reinhard Heine: „Segne dieses Haus. Erfülle die Menschen, die in ihm ein und ausgehen, mit dem Geist der Wahrheit und der Liebe. Lass dieses Haus ein Ort eines respektvollen und wertschätzenden Umgangs miteinander sein.“
Pressefreiheit in Deutschland: Feuilletonisten und Sportler klagen
Chefredakteure und Ressortleiter sind sich einig: Die Pressefreiheit in Deutschland ist gut oder sogar sehr gut verwirklicht, aber knapp die Hälfte beklagt, dass Behinderungen in den letzten Jahren zugenommen haben.
Die Allensbacher Demoskopen fragten im Frühjahr 2014 über vierhundert Chefs in 230 Zeitungen. Knapp zwei Drittel haben auch schon Behinderungen von Recherchen erlebt. Politikern, Unternehmer und PR-Managern drohen, Anzeigen zu entziehen, oder umarmen die Redakteure, um eine wohlwollende Berichte zu bekommen.
Überraschend ist, auf welche Ressorts am meisten Druck ausgeübt wird: Kultur und Sport. Fotografen müssen mit großen Einschränkungen fertig werden und die Reporter mit massiven Veränderungen bei der Autorisierung von Interviews.
Zwei Drittel der Lokalredakteure klagen über Politiker, die häufig Einfluss nehmen wollen, oder über Kaufleute und Unternehmer, die Berichte steuern wollen.
Warum zeigen wir nicht die grauenhaften Fotos der IS-Folterungen? Ein Tabubruch, ja. Aber – auch ein Weckruf?
Der Mörder setzt das Messer an die Kehle, das Gesicht ist mit Blut überströmt, ein Gesicht von Angst zerrissen – der Fotograf wie der Mörder delektieren sich daran, einen Mensch sterben zu sehen, als wäre er ein Tier. Ich kann mir das Bild nur kurz ansehen, es ist Ekel, purer Ekel, dem man sich nicht ergeben kann. Mehr Bilder will ich nicht sehen.
Es sind Bilder, die Terroristen des IS, des „Islamischen Staat“, ins Netz gestellt haben, wo sie relativ leicht zu finden sind. Keine deutsche Zeitung, kein deutsches Magazin, keine wichtige deutsche Online-Nachrichtenseite zeigen die Bilder. Ein Freund, der in der politischen Bildung arbeitet, schickt mir eine Zeitung, die das Bild online zeigt, und fragt mich:
Warum zeigen Medien in Deutschland nicht diese grausame Realität eines aus den Fugen geratenen Islam(extremismus)? Das Bild – aufgenommen vor wenigen Tagen – zeigt das tägliche Grauen, das sich derzeit vor der Haustür Europas abspielt. Es wurde der polnischen Seite Polska24 entnommen, auf der einige (grauenvolle) Bilder des aktuell vor sich gehenden Genozids an irakischen Christen durch sunnitische ISIS-Gotteskrieger zu sehen sind. Unsere Medien veröffentlichen solche Bilder nicht. Warum nicht? Wir wurden doch früher auch nicht von grauenhaften Fotos, z. B. aus dem Vietnamkrieg, verschont…
In unserem Mailwechsel sagt er schließlich, nachdem er für die Veröffentlichung der Bilder plädiert hatte:
Die Wirkung von solchen Bildern verändert uns…
Von Dir lernte ich, des Journalisten Pflicht sei es, in Wort, Bild und Schrift zu berichten, was ist, streng getrennt vom Kommentar. Das habe ich mir zu eigen gemacht.
Meine schlichte Frage lautet:
Warum wird das, was ist, also die Wirklichkeit, wie diese entsetzlich grausamen Fotos sie beschreiben, bei uns nicht veröffentlicht? Was erzählen uns diese Bilder? Die Leichenberge aus deutschen KZ gingen doch auch um in Deutschland, haben viele wach gerüttelt, die es nicht wahr haben wollten – und das war auch gut so.Eine farbige Doppelseite wäre mal ein Tabubruch im Sinne eines Weckrufes, finde ich. Der Blätterwald würde rauschen. Wegsehen hat doch noch nie ein Problem gelöst.
Stattdessen fragt man bei uns: Darf man solche Bilder veröffentlichen? Und so kommt man zu dem in allen Medien einheitlichen Ergebnis: Zeigen wir nicht. Cui bono?
Das verstehe ich nicht.
Was sagt unsere Ethik, der Pressekodex?
1. „Die Achtung vor der Wahrheit, die Wahrung der Menschenwürde und die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ – Also: Verletzten wir nicht die Würde des Opfers, wenn wir ein Terror-Mordopfer öffentlich machen?
2. „Die Presse achtet das Privatleben des Menschen und seine informationelle Selbstbestimmung. Ist aber sein Verhalten von öffentlichem Interesse, so kann es in der Presse erörtert werden. Bei einer identifizierenden Berichterstattung muss das Informationsinteresse der Öffentlichkeit die schutzwürdigen Interessen von Betroffenen überwiegen; bloße Sensationsinteressen rechtfertigen keine identifizierende Berichterstattung. Soweit eine Anonymisierung geboten ist, muss sie wirksam sein.“ – Da ist die Hintertür: Das Informationsinteresse der Öffentlichkeit, der Weckruf. Aber reicht dies Interesse, Menschen zu erniedrigen, Opfer sterbend zu zeigen?
3. „Die Presse verzichtet auf eine unangemessen sensationelle Darstellung von Gewalt, Brutalität und Leid.“
Ich füge an:
4. Journalisten dürfen sich nicht vor den Propaganda-Karren spannen lassen, erst recht nicht von Terroristen.
Fassen wir noch einmal die Fragen des Freundes zusammen, die mit dem Pressekodex nicht abschließend beantwortet sind:
> Wäre die Veröffentlichung der Fotos des Grauens, also der bestialischen Ermordung von Menschen, nicht ein Weckruf, eine Mobilisierung des öffentlichen Gewissens?
> Warum zeigten wir Bilder von Opfern des Vietnams-Kriegs (etwa: Der Mann, der vom Polizeichef Saigons erschossen wurde; die nackte neunjährige Kim Phuc, die vor dem Napalm flieht), aber nicht die des IS-Terrors?
> Warum zeigen wir Holocaust-Opfer sogar öffentlich in Museen, etwa in Yad Vashem, Jerusalem?
Von welchem Journalismus träumen Sie? Wie sieht der Journalist der Zukunft aus? (Antworten zum DJV-Verbandstag)
Der Bundesverbandstag des Deutsche Journalisten-VerbandS (DJV) steigt mit etwa 350 Delegierten am 3. und 4. November 2014 in Weimar. In einem Magazin geben neben anderem die Thüringer Chefredakteure Antworten auf drei vorgegebene Fragen. Hier sind meine:
Von welcher Art Journalismus träumen Sie?
Ich muss nicht träumen, diesen Journalismus gibt es seit der Erfindung unabhängiger Zeitungen: Er kontrolliert die Mächtigen; er hilft den Bürgern durch verständliche und tiefgründige Artikel, die richtigen Entscheidungen in einer Demokratie zu treffen bei Wahlen, bei eigenem Engagement in Initiativen oder im Ehrenamt; er scheidet das Unwichtige vom Wichtigen. Und er erzählt, wann immer es möglich ist, von Menschen und ihren Plänen, Schicksalen und Hoffnungen, von ihrem Glück und ihrem Elend – damit Leser Lust aufs Lesen bekommen und Stoff für ihre Unterhaltungen, wo auch immer.
Welche Anforderungen stellen Sie an Journalistinnen/Journalisten?
Sie beherrschen ihr Handwerk, so wie es seit langem geachtet ist (siehe Antwort auf Frage 1), aber verbinden es souverän mit den neuen digitalen Möglichkeiten in Recherche und Darstellung. Vor allem haben sie hohen Respekt vor den Lesern, den älteren wie auch den jungen, deren Bedürfnisse sie erkennen und befriedigen müssen. Das ist nicht neu, war aber in den seligen Zeiten des Beamtenjournalismus belächelt: Sie kümmern sich um die Leserforschung, die ihnen auch unbekannte Wünsche der Leser verrät, und sie entwickeln Ideen, wie unabhängiger Journalismus auch in Zeiten schwindender Werbe-Umsätze zu finanzieren ist – und die Demokratie ihr stabiles Fundament behält. Dazu brauchen sie, wie seit altersher, Selbstvertrauen ohne Hochmut, Zivilcourage, Nervenkraft und die Fähigkeit der Unterscheidung.
Wie sieht die Thüringer Medienlandschaft in 10 Jahren aus?
Propheten haben im Journalismus nicht zu suchen, sie sollten in Beratungsfirmen gehen, die an dem Thema gut verdienen. Gehen wir von Sicherheiten aus: Die Bürger werden immer unabhängigen Journalismus brauchen und achten, Journalismus der sie respektiert, also verständlich und attraktiv ist, und der sie dort abholt, wo sie leben und träumen. Und da es immer noch Filme und Bücher gibt – weit über ihr prophezeites Todesdatum hinaus -, wird es auch immer gedruckte Zeitungen geben. Wahrscheinlich erleben wir eine Renaissance der Tageszeitung schneller, als wir denken. Aber bei allem Pessimismus, in dem sich Redakteure gerne suhlen: Es kommt allein auf guten Journalismus an, gleich wie er dargeboten wird.
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Antworten auf Fragen des DJV Thüringen, der zum Verbandstag in Weimar den Delegierten in einem Magazin Thüringen vorstellt.
In der Welt der neuen Wörter – Pinkifizierung: Es glitzert und stinkt (Friedhof der Wörter)
Die Welt ist nicht mehr rosarot, sie ist pink, zumindest die Glitzer-Welt der Mädchen: Die Schleife im Haar, die Barbie-Puppe und Prinzessin Lillifee, alle sind pink.
Das ist die Pinkifizierung! Ein neues Wort! Der aktuelle Duden hat fünftausend neue Wörter aufgenommen, vom Liebesschloss über die Energiewende bis zum Gentrifizieren. Im nächsten Duden wird die „Pinkifizierung“ stehen, irgendwo zwischen „pinkeln“ und „PIN-Kode“.
Doch an der Pinkifizierung scheiden sich die Geister:
- Die einen, die Pink-Verrückten und Pink-Verkäufer, möchten am liebsten die ganze Welt pink bemalen.
- Andere, die mit dem genauen Blick in die große Welt, weisen darauf hin: Viele Mädchen, vor allem in Asien, Afrika und Lateinameika, werden unterdrückt, versklavt, misshandelt. Das Kinderhilfswerk „Plan“ lässt am UN-Welt-Mädchentag im Oktober große Gebäude pink anstrahlen, wie in diesem Jahr den Funkturm in Berlin – „um ein Zeichen zu setzen und die Farbe Pink neu besetzen“.
- Wieder anderen ist auch dieser Protest suspekt, sie protestieren vehement gegen das pinkfarbene Frauenbild und fragen wie Carolin Wiedemann in der FAZ: „Wie sollen all die kleinen Mädchen, die ihre Zeit und ihr erstes Taschengeld in rosa Glitzer investieren oder unter Essstörungen leiden, je die Jobs in den Vorstandsetagen übernehmen, für die ihre Mütter gerade kämpfen?“
Stevie Schmiedel ist „Gender-Forscherin“ (auch ein Neuwort-Kandidat): Sie gründete „Pinkstink“, also: Pink stinkt. Das ist eine Kampagne gegen Rosa, um Mädchen in ihrer Rolle nicht auf niedlich und süss zu reduzieren – im Kontrast zu den aktiven Jungen.
In einem Interview mit dem Magazin „The European“ erinnert Stevie Schmiedel daran, dass Rosa gerne in Gefängnissen auf die Wände gemalt wird – um die Insassen zu beruhigen.
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Quellen:
FAZ 26.11.2012 (Wiedemann): Rosa Rollback / The European, Mai 2013 (Schmiedel): Hinter Barbie steckt ein unglaublicher Markt
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 13. Oktober 2014
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