Alle Artikel der Rubrik "Aktuelles"

Was sind Leserbriefe wert ? Was verändern sie?

Geschrieben am 7. Dezember 2014 von Paul-Josef Raue.

Vor allem eifrige Leserbrief-Schreiber fragen immer wieder: „Was verändern unsere Leserbriefe? Werden Leserbriefe seitens der Redaktion ernst genommen?“ In der aufgewühlten Atmosphäre vor der Wahl Bodo Ramelows (Die Linke) zum Ministerpräsidenten Thüringens fragt zudem ein Leser der Thüringer Allgemeine nach der „Kultur der Kommunikation“, wenn er die Leserbriefe liest:

Ich kann mich des Eindrucks nicht verschließen, dass seit Wochen und Tagen – insbesondere was die Regierungsbildung in unserem Land betrifft – Hasstiraden zu lesen sind. Es ist aus meiner Sicht lediglich eigene Frustbewältigung in der Öffentlichkeit?! Die Wortwahl total daneben, die gute Schule der Manieren vergessend? In was für einer Gesellschaft leben wir?“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der TA-Chefredakteur:

Es gibt meines Wissens keine Zeitung in Deutschland, die jeden Tag ihren Lesern eine komplette Seite zur Verfügung stellt – als Seite für die Leser und von den Lesern. So wertvoll sind uns unsere Leser, so wertvoll sind unsere Leser und Bürger für die Gesellschaft – und so wertvoll sind die Bürger und ihre Gedanken für unsere Demokratie.

Was sie verändern? Wir sind uns sicher: Sie verändern viel in den Köpfen der Mächtigen, die schon lauschen, wie das Volk denkt – vor allem um ihre Macht zu sichern oder die Macht zu bekommen.

Veränderung hat immer etwas mit der großen Zahl zu tun: Den größten Einfluss nimmt der Bürger, der sich direkt in der Politik engagiert – ob in seinem Ortsteil oder im Kreis, im Landtag oder im Bundestag. Wer abstimmen kann, der regiert mit und hat die Macht. Die Chance mitzuregieren hat jeder.

Wer nicht regieren will, der kann seine Stimme erheben – aber er hat nur die Macht der Argumente auf seiner Seite und die Macht der Überzeugung, so andere sich überzeugen lassen. Die Macht des freien Wortes ist in einer Demokratie so wichtig wie die Kontrolle der Macht. Deswegen ist sie so wertvoll in der Zeitung der Bürger.

Und die Kultur der Kommunikation? So ist es eben: In dieser Gesellschaft mit ihren vielen Stimmen leben wir. Und wir verändern sie nicht, wenn wir die Frustbewältiger nicht zur Kenntnis nehmen. Im Übrigen ist auch die Sprech-Kultur der Volksvertreter nicht immer vorbildlich.

„Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!“, pöbelte sagte Joschka Fischer im Bundestag. Also halten wir es mit Martin Luther und schauen dem Volk, dem „Pöbel“, aufs Maul.

Und – in einer Demokratie hat eben jeder eine Stimme – nicht nur bei der Wahl.

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Thüringer Allgemeine 6. Dezember 2014

Zentralisierung von Redaktionen oder: Wie ein Rennwagen zum Trabbi wird (Zitat der Woche)

Geschrieben am 6. Dezember 2014 von Paul-Josef Raue.

All Business is local, habe ich nicht nur gelernt, sondern auch verinnerlicht. Bei Zentralisierungsprozessen kann deshalb u. a. die kreative Vielfalt vor Ort auf der Strecke bleiben und statt eines Rennwagens könnte am Ende ein Trabbi dabei rauskommen, wenn nicht mit Umsicht agiert wird. Eigentümer und Mitarbeiter sind in diesem Fall die gelackmeierten. Die Heuschrecken wüten derweil bereits an einem anderen Ort.

Thomas Bertz in pro-TZ (5. Dezember 2014, 19:47) zur Debatte über die Zukunft der Regionalzeitungen.

Cordt Schnibben: Die meisten Journalisten sind zu satt und zu zufrieden (Zitat der Woche)

Geschrieben am 3. Dezember 2014 von Paul-Josef Raue.

Ich bin tief beunruhigt. Wir stecken in einer schweren Strukturkrise. Mich sorgt, dass die meisten meiner Kollegen noch zu satt und zu zufrieden sind. Und ich weiß, dass der entscheidende Punkt für alle ist – werden wir es schaffen, unsere tollen Inhalte so ins mobile Netz zu kriegen, dass wir dafür Geld bekommen. Wenn das nicht gelingt, wird es in zehn Jahren diese Form von Qualitätsjournalismus nicht mehr geben.

Cordt Schnibben, Spiegel-Reporter und Juror des Deutschen Reporterpreises – nach der Verleihung am Montag in einem Interview mit Christian Meier (meedia.de, 2. Dezember 2014)

Die erfolgreiche Titelseite: Lokal-Schau oder Tagesschau?

Geschrieben am 1. Dezember 2014 von Paul-Josef Raue.

Wie sieht die ideale Titelseite aus? Tagesschau-Nachdreher? Regional und lokal? Ein Mix, also: Lokales Foto und Berliner Aufmacher? Marianne Schwarzer ist Redakteurin der Lippischen Landes-Zeitung in Detmold und gehört zu einer Arbeitsgruppe, die ein Konzept für die Lokalzeitung im Kreis Lippe diskutiert. Sie fragt nach den Erfahrungen der Thüringer Allgemeine, die seit drei Jahren eine strikt regionale Titelseite anbietet.

Das sind die Thüringer Erfahrungen:

Die Leser wollen eine regionale Titelseite, aber sie wollen eine regionale Titelseite mit Qualität: Die Themen müssen wichtig sein, gut recherchiert und gut geschrieben – und sie sollten, so oft wie möglich, die Leser auch überraschen.

Wir haben dies in einigen Leserbefragungen erkundet:

> Die Leser wollen auf der Titelseite keine Stoffe, die sie aus der Tagesschau, den Hörfunk-Nachrichten und dem Internet längst kennen. Wenn wir diese Themen doch bringen, dann müssen sie aus der Perspektive der Leser gesehen werden: Flüchtlinge aus Syrien – ja, aber gibt es noch Platz in unserer Region? Was sagen die Landräte usw. / Freihandelsabkommen mit den USA und Kanada – ja, aber was sagen die IHK, die Unternehmer? Kostet es oder bringt es Arbeitsplätze in der Region usw.

> An den meisten Tagen bringen wir eigene Geschichten als Aufmacher, sehr viel aus der Wirtschaft und der regionalen Politik, aber auch Gesundheits- und Schul-Themen; eine Besonderheit im Osten sind historische Themen, die sich um die DDR drehen. Was in einer Region für die Leser interessant ist, bekommt eine Redaktion mit, wenn sie oft mit den Lesern spricht und dies am besten institutionalisiert.

> Qualität bekommt eine Redaktion allerdings nur, wenn sie gute Reporter hat, die ein aktuelles Thema auch schnell runterbrechen können (und nicht erst am Folgetag oder noch später). Wir nennen diesen Reporter „Ad-hoc-Reporter“, es gibt jeden Tag einen (und wenn er nichts zu recherchieren hat, dann arbeitet er an einer größeren Eigen-Recherche für die kommenden Tage).

> Einfach die erste Lokalseite auf die Titelseite bringen, dürfte schief gehen – nicht nur an einem Montag im Sommer, wenn die Hüpfburgen beschrieben werden. Die Leser müssen schon das Gefühl bekommen, dass sie für ihr gutes Geld Qualität bekommen und keine Ramsch-Ware.

Ich bin mir aber nicht sicher, ob es in ländlichen Regionen doch gelingen könnte. Das kann man testen: Eine Null-Nummer produzieren und zu Leserkonferenzen einladen (aber nicht nur Oberstudienräte, die uns einen Bildungsauftrag aufschwatzen wollen).

> Wenn man ein komplettes Bundesland mit seinen Themen für die Seite 1 hat, ist es wahrscheinlich einfacher, als wenn man ein eher kleines Gebiet mit Nachrichten versorgt. Bei uns wollten die Leser Thüringen auf der Titelseite. Die Reaktionen geben uns recht: Seit mehr als zwei Jahren steigt der Einzelverkauf deutlich (gegen den bundesweiten Trend), und beim „Lesewert“ – eine Art Einschaltquote für die Zeitung – bekommt die Titelseite exzellente Werte, am meisten übrigens der Leitartikel auf der ersten Seite, der strikt regional ist und sich meist auf den Aufmacher oder Aufsetzer der Titelseite bezieht. Besonders gut läuft der Einzelverkauf, wenn der Teaser – ein sechsspaltiges Foto oben auf der Seite – emotional ist, einfach ein Hingucker ist, und wenn der Aufmacher eine leicht verständliche Überschrift hat und zum Gespräch anregt.

Wenn Redakteure religiöse Gefühle verletzen: Absicht oder Ahnungslosigkeit? (Leser fragen)

Geschrieben am 29. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Die Mohamed-Karikaturen brachten die muslimische Welt in Aufruhr und unsere westliche in Verwirrung: Wie kann in aufgeklärten Gesellschaften die Religion und das Spiel mit ihr die Gefühle noch so stark verletzen?  Sind Muslime, die den dänischen Karikaturisten mit dem Tod bedrohen, einfach Jahrhunderte hinter der Aufklärung zurück – und somit unfähig, Ironie, Satire und Spott über Gott und seine Vertreter auf Erden zu verstehen und zu ertragen?

Doch auch Christen tun sich schwer mit dem leisen Spott, wenn er ihre  Gefühle trifft – erst recht im weitgehend entchristlichten Osten, wo Kirchenferne und Kirchenfeinde, Agnostiker und Atheisten die überwältigende Mehrheit stellen. In Thüringen, einem Land mit gerade mal 150.000 Katholiken (bei 2,2 Millionen Einwohnern), ärgern sich Leser  über die Berichterstattung  der Thüringer Allgemeine zur Einführung des neuen Bischofs. Einer fragt: „Insgesamt ist Ihr Ton herablassend, abschätzig und teilweise beleidigend. War das vielleicht sogar Absicht oder ,nur‘ Ahnungslosigkeit?“

Im Zentrum der Kritik steht der Vergleich der Mitra, der Kopfbedeckung des Bischofs, mit einer Kochmütze. „Sie ergehen sich vorwiegend in Nebensächlichkeiten, machen sich Gedanken über das Treiben auf dem Domplatz, über Wurstprodukte aus dem Eichsfeld und natürlich über das Wetter, aber über das Eigentliche, über die hohe Bedeutung und den Sinn dieser Festlichkeit, wissen Sie nichts zu berichten. Sie nennen es ,Spektakel.“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Wir wollen keine religiösen Gefühle verletzen – das erklären wir ohne Umschweife. Sollten wir dies, gegen unsere Absicht, getan haben, bitten wir um Entschuldigung. Der Pressekodex, in dem Journalisten ihre Berufsehre erklären, bestimmt:

Die Presse verzichtet darauf, religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen zu schmähen.

Daran halten wir uns.

Was ist eine Schmähung? Da werden Gottlose anders urteilen als Menschen, die an Gott glauben – gleich ob sie ihn Christus, Jahwe oder Allah nennen. Zwei Beispiele:

  • Die in Berlin erscheinende „Tageszeitung (taz)“ liebt die Satire auch in nachrichtlichen Texten und überschrieb nach der Papstwahl den Aufmacher: „Junta-Kumpel löst Hitlerjunge ab“. Der deutsche Papst war in der Tat ein Hitlerjunge gewesen, der neue Papst aus Südamerika wird von einigen verdächtigt, einen Pakt mit Diktatoren geschlossen zu haben. „Das sei nicht belegt“, urteilte der Presserat und rügte die Überschrift als Schmähung religiöser Gefühle.
  • Ohne Rüge blieben allerdings die Formulierungen: „Alter Sack I. folgt Alter Sack II.“ und „esoterischer Klimbim“ für die katholischen Dogmen. Die fehlende Rüge rügte dafür das Zentralkomitee der Katholiken: „Gerade auch in einer säkularen und offenen Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt lebe, müsse man Respekt gegenüber den Religionsgemeinschaften pflegen.“

    Ist also die Kochmütze eine Schmähung? Respektlos könnte sie sein, wenn man bedenkt: Auch demokratische Institutionen verordnen ihre hohen Repräsentanten ungewöhnliche Kopfbedeckungen – wie beispielsweise den Verfassungsrichtern in Karlsruhe.

Angemerkt sei abschließend: Die respektlosesten Witze über Gott und Würdenträger werden im Vatikan erzählt. Aber, eben mit Respekt sei eingeschränkt: Eine Nachricht ist kein Witz.

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 29. November 2014

Jammert nicht über die Kostenlos-Kultur im Internet! Stellt den Leser in den Mittelpunkt!

Geschrieben am 24. November 2014 von Paul-Josef Raue.

„Kostenlosmentalität ist ein Ausdruck der Resignation, eine Entschuldigung für den Widerstand gegen das Neue“, schreibt Cosmin Ende, Gründer und Geschäftsführer von „LaterPay“, in Lousypennies.de Verleger und Redakteure sollten sich eingestehen: „Im Internet ist selbst ein Großverlag ein Startup.“ Statt Zeitung und Zeitschrift einfach ins Netz zu stellen, sollte man schauen, was die Leser im Internet wirklich brauchen: „Wie bediene ich den User mit meinem Inhalt so, dass er sie als Dienstleistung empfindet, einen klaren Nutzen erkennt und bereit ist dafür Geld zu bezahlen?“

Spiele-Anbieter im Internet haben das erkannt, beispielsweise „Mobile Games“. Das Erfolgs-Prinzip: „Seconds to learn, years to master – Ich brauche wenige Sekunden, um in das Spiel einzusteigen, zu spielen und das Spiel zu verstehen – aber ich brauche Jahre, um richtig gut zu werden.“

So sollte auch Redaktionen verfahren, vor allem für ungeübte Zeitungs-Leser:

Auch redaktionelle Inhalte fordern heraus. Als Nicht-Verlagsmensch blicke ich als Konsument und nicht als Profi auf die Inhalte. Ich kaufe ein Brandeins-Heft, weil ich überrascht, herausgefordert werden will. Ob polarisierend, erklärend oder zum Nachdenken anregend – eine Herausforderung ist immer da. Und dafür bezahle ich, unabhängig vom Medium oder der Darreichungsform. Egal ob am Kiosk oder im Internet (wenn es denn ginge).

News sind etwas schwieriger. Wenn News in Mehrwert verpackt werden, entsteht ein Produkt. Wenn jemand um Nachrichten herum weiterführende Informationen anbietet, entsteht ein Produkt mit Mehrwert. Die Themen wiederholen sich und die Archive sind voll. Dort gilt es, Zusammenhänge zu finden, Erklärungen zu liefern und Komplexität zu reduzieren. Premiuminhalte wie Dossiers, Videos, Studienauszüge, Expertenmeinungen – all das macht den User schlauer und geht über die reine Nachricht hinaus.

Das sind Endes Rezepte:

> Nachricht plus gesprochene Variante sind ein Mehrwert.

> Nachricht plus Zusammenfassung in zwei Sätzen sind ein Mehrwert.

> Nachricht plus Erklärvideo aus dem Archiv sind ein Mehrwert.

> Komplexität zu reduzieren ist ein Mehrwert

Das Jugendwort 2014, endgültig: „Läuft bei Dir“ (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Regen Sie sich  gerne auf, wenn sich junge Leute „cool“ geben? Was man „kuhl“ ausspricht. Immer diese englischen Wörter! – regt sich auf, wer ein Liebhaber der deutschen Sprache ist.

Doch damit ist, zumindest in diesem Jahr, Schluss. Das Jugendwort des Jahres ist kein Anglizismus wie „Swag“ oder „Yolo“, die vor zwei und drei Jahren vorn lagen, auch  kein türkisches Wort wie „Babo“, das im vergangenen Jahr gewann, sondern ein deutscher Satz: „Läuft bei Dir“. 

Wer seine Jugend nur noch von vergilbten Fotos kennt, wird trotzdem den Kopf schütteln: „Die Jugend von heute!“ Der Satz ächzt unter der Last der Grammatik, aber so sind die jungen Leute: Sie erfinden neue Wörter und Wendungen, schräge und unkonventionelle – mit denen sich die Jungen gut verständigen. „Läuft bei Dir“ ist einfach die Jugend-Übersetzung von „cool“ 

Jugendsprache soll eben von der Sprachwelt der Erwachsenen abgrenzen, soll für die Alten unverständlich sein. Und wenn sie sich aufregen: Umso besser! Wer wollte es ihnen verbieten?

Jugendsprache ist oft auch böse, verletzend und politisch unkorrekt. Aber da passen schon die Erwachsenen auf, dass solch ein Wort nicht zum Jugendwort des Jahres gekürt wird. Der Langenscheidt-Verlag, der die Wahl organisiert, lässt erst Jugendliche im Internet abstimmen, ehe eine Jury aus Journalisten, Wissenschaftlern und ein paar Jugendlichen das letzte Wort hat.

Wie schon in diesem Blog berichtet: Nur 12 Prozent der Jugendlichen stimmte für „Läuft bei Dir“,   aber 46 Prozent für „fappieren“ – ein Anglizismus: to fap bedeutet im Englischen onanieren. Da haben die Erwachsenen gut aufgepasst.

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Thüringer Allgemeine, 24. November 2014
Nachrichten-Quelle für das Jugendwort des Jahres: Focus-Online 23.11.2014

Ramelow & Co: Leser beklagt eine „Angst- und Verunglimpfungs-Kampagne“

Geschrieben am 22. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt:

Ich bin kein Linker, ich bin ein SPD-Anhänger. Wie können Sie es zulassen, dass gegen Rot-Rot-Grün und Herrn Ramelow die Angst- und Verunglimpfungskampagne weitergeht?

Selten war eine Regierungsbildung so heftig diskutiert wird die Rot-Rot-Grüne in Thüringen, die seit Wochen Öffentlichkeit wie Zeitung umtreibt mit Debatten über den Unrechtsstaat DDR und die Last der Diktatur auf den Schultern der Gegenwart überhaupt. Aktueller Anlass für den Leser war ein Foto auf der Titelseite am Montag nach dem Mauerfall-Jubiläum: Es zeigt die Erfurter Domplatz-Demonstration, auf der sich viertausend Bürger mit Kerzen in den Händen gegen die rot-rot-grüne Koalition wandten. Der Leser wollte lieber über die Feiern zum Mauerfall-Jubiläum auf der Titelseite lesen und folgert: „Mit dieser eindeutig parteilastigen Berichterstattung machen Sie die TA zum Sprachblatt der CDU.“

In der Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:

Der Vorwurf der „Angstmache- und Verunglimpfungskampagne“ geht an die Ehre eines Journalisten – denn unser Ehrenkodex bestimmt: „Die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit sind oberste Gebote der Presse.“ Das bedeutet:

Wir schauen bei den Mächtigen genau hin, also auch bei denen, die zu den Mächtigen aufsteigen wollen – dabei interessiert uns keine Partei. Würden wir anders handeln, wären wir wirklich ein Parteiblatt. Wir geben allen eine faire demokratische Chance, wie Sie es fordern: Darum beobachten wir die Politiker, wenn möglich auf Schritt und Tritt. Das ist unsere Aufgabe.

Wir dürfen auch nicht wegschauen: Das Unterdrücken von Nachrichten missachtet das Recht der Leser, sich selber eine Meinung zu bilden. Ob eine Nachricht, eine Diskussion, eine Affäre oder ein Skandal einem Politiker oder einer Partei schadet oder nutzt, das entscheidet der Wähler. Wir liefern nur die Informationen und regen zur Meinungsbildung an.

Den Vorwurf, ein Parteiblatt von SPD oder Linken zu sein, bekamen wir in den vergangenen Jahren von der CDU und CDU-Wählern, als wir die Affären von Zimmermann bis Gnauck aufgedeckt und ausführlich berichtet hatten. Wir machen eben keine Affären, wir berichten über sie. Angst und Verleumdung ist nicht unser Geschäft.

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Thüringer Allgemeine 22. November 2014

Nun erwischt es auch eine Journalismus-Zeitschrift: Message wird nicht mehr gedruckt

Geschrieben am 21. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Bisher hat Message die Schwierigkeiten und vor allem Defizite von Zeitungen und Zeitschriften analysiert – und des Journalismus überhaupt. Nun muss Message selber aufgeben und verkauft das Ende als „Schritt in die Zukunft“. Im kommenden Jahr erscheint Message nur noch im Netz, als App oder E-Paper.

Die Abos gehen, wie bei den Zeitungen, zurück. Noch in diesem Jahr sollte der Relaunch den Niedergang stoppen – vergebens. Auch hat die Zeitschrift den Abgang von Gründer Michael Haller vor zwei Jahren nicht verkraftet. Das Projekt der „Rudolf-Augstein-Stiftungsprofessur für Praxis des Qualitätsjournalismus“ hat wohl selber keine ausreichende Qualität liefern können.

Zum 15-Jährigen in diesem Jahr hatte Michael Haller noch einmal die Feder gespitzt – und manchem Medien-Wissenschaftler in seiner gewohnt diplomatischen Art bescheinigt, dass sie nicht in der Lage sind, „ihre Befunde allgemeinverständlich rüberzubringen“:

Unvergessen blieb mir ein über Wochen laufender Mailverkehr mit einem Professorenkollegen, dessen Text im Wissenschaftsjargon abgefasst (aufgeblasen) war und im Zuge unserer Bearbeitung seine gedankliche Trivialität offenbarte. Am Ende zog der Kollege den Text zurück: Wir hätten seinen Gedankengang zerstört.

Auch die Macher, die Chefredakteure, geißelte Haller, der selber kaum am Minderwertigkeits-Syndrom leidet:

Warum wird man Ressortchef, dann Chefredakteur? Auf welche Qualifikationen kommt es an, um den Medienwandel zu verstehen und den heute sogenannten Changeprozess crossmedial zu steuern? Wir haben dieses Thema später dann nur noch mit spitzen Fingern angefasst, weil wir merkten, dass doch viele Redaktionschefs in Deutschland auf Manöverkritik eher beleidigt reagieren, offenbar, weil ihnen, spitz gesagt, die eigene Eitelkeit im Wege steht.

Wenn ich meinen Aktenordner mit Korrespondenzen der vergangenen 15 Jahre durchblättere, begegnen sie mir wieder, die pseudo-coolen, doch im arroganten Ton abgefassten Beschwerdebriefe deutscher Chefredakteure. Es war nicht nur Mangel an Selbstreflexion, der irritierend wirkte, sondern auch deren Weigerung, sich mit dem Wandel der Medienfunktionen praktisch zu beschäftigen und Konsequenzen zu ziehen.

Trotz anhaltendem Reichweitenschwund hielten viele Blattmacher an der Überzeugung fest, ihr persönliches Bauchgefühl sei Garant für erfolgreichen Journalismus.

Diese Arroganz wird uns, zumindest in gedruckter Form, fehlen. Der Abschied vom Druck wird wohl der Abschied von Message überhaupt sein.

PS. Der Autor dieses Blogs hat nie einen Brief an Message geschickt, noch war er Autor der Zeitschrift.

Twitter-Journalismus: Investigative Fragen an Bastian Schweinsteiger

Geschrieben am 16. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Bei der Bambi-Preisverleihung langweilt sich Thorsten Schmitz von der Süddeutschen Zeitung, hört „übliche Phrasen“ und sieht „altbackene Choreografien“. Kurzum – das ist nicht seine Welt. So geht er in die Lobby zu den „jungen nervösen Klatschreporterinnen, die ihre Redaktionen mit Twitter-Nachrichten füttern müssen“. Vielleicht will er die schöne neue Welt des Journalismus ahnen, die Zeit nach der Süddeutschen, wenn Papier nicht mehr raschelt und der Leser mit 140 Zeichen zu befriedigen sein wird.

Zwei Worte reichen schon, um die „heimelige Bambi-Welt“ zu zerstören: „Fuck Isis“ steht auf dem T-Shirt eines jungen Sängers. „Zu krass“ findet das eine der jungen nervösen Klatschreporterinnen und twittert es – nicht. Dann kommt der journalistische Höhepunkt, den Thorsten Schmitz sekundengenau schildert:

Als Bastian vor ihr (der jungen nervösen Klatschreporterin) steht, fragt sie investigativ: „Wie geht’s Ihnen?“ Scheinsteiger sagt: „Super!“ Sekunden später ist das Zitat im Umlauf.

Aber richtig zufrieden ist sie auch nicht damit.

„Hast Du schon einen Knaller?“ fragt sie eine Kollegin.

„Nö“, sagt die. „Du?“

Bei so viel Phrasen möchte sich Thorsten Schmitz befreien, er zitiert Arthur Schnitzler, den Senta Berger zitiert: „Wir alle spielen. Wer es weiß, ist klug“; er zitiert Helmut Dietl und nennt es einen „Moment der Authentizität“: „Wüsste ich, wie Glücklichsein geht, wäre ich es damals gewesen“.

Schmitz nennt diesen Satz „Sperrgut im Weichspülermeer vor Bambiland“. Wer viele Phrasen hören muss, versinkt halt auch mal im Sprachbilder-Schlick.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung 15. November 2014 „Hast Du schon einen Knaller“

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