Alle Artikel der Rubrik "Aktuelles"

Chefredakteure, die ihre Redaktion führen wie eine Strafkompanie: Nachruf auf Spiegel-Chef Becker

Geschrieben am 16. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Die harten Chefredakteure, die „Piss-Geschichte“ mit grüner Tinte auf ein Manuskript schreiben, die ein raues Klima schaffen, eben eine Galeeren-Atmosphäre erzeugen – die werden gerühmt, wenn sie in den Ruhestand gehen, erst in den vorläufigen, dann in den ewigen. Ob da bei den Nachruf-Schreibern auch ein wenig Stolz dabei ist: Ich habe ihn überlebt! Ich bin stark!?

Hans Leyendecker, Chefreporter der Süddeutschen Zeitung, ist einer der besten deutschen Journalisten, ein ruhiger Kollege, keiner aus der „Strafkompanie des deutschen Journalismus“ wie Hans Detlev Becker, auf den Leyendecker einen bewegenden Nachruf schreibt. Becker war lange beim Spiegel, fing 1947 an, in den Gründerjahren also, und schied 1983 aus, nachdem er sich mit Rudolf Augstein überworfen hatte; er war Redakteur, Chefredakteur und später Verlagsdirektor.

Selbst die ruhigen Journalisten schätzen offenbar die harten Chefs: Kann man von ihnen am meisten lernen? Es klingt wie eine Aufforderung, die Härte zu suchen, die Quäler im Volontariat, wenn Leyendecker seinen Nachruf beginnt:

Manchmal klagen junge Journalisten, der Ton sei so rau, das Klima. Sie hätten mal unter Hans Detlev Becker arbeiten sollen… Ein Orden. Eine Galeere.

Was zeichnet einen harten Chef aus? Er bringt „den richtigen Zug und den knappen Stil ins Blatt“; er sorgt dafür, „dass der Apparat immer funktioniert“. Das klingt bei Leyendecker, der selber lange beim Spiegel war, wie ein Hieb auf die, die heute das Sagen beim Spiegel haben.

Heinz Egleder war Dokumentarist beim Spiegel und hat Becker über Jahrzehnte erlebt. Er ernennt im Nachruf auf Spiegel Online Becker zum ersten deutschen Enthüllungsjournalisten, der in den „Ehrenkodex“ für seine „undisziplinierte Redakteursbande“ schrieb:

1. Die Berichte sind „mit Vergnügen und ohne Mühe lesbar“;
2. sie müssen unbedingt stimmen (so dass er die Dokumentation gründete, die heute noch jede Tatsachenbehauptung prüft);
3. sie dürfen keine Unwörter enthalten, so dass er einen Index schrieb mit der Liste aller Wörter, die nicht im Spiegel stehen durften.

Becker starb am 2. November 2014 mit 93 Jahren.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung 15. November / Spiegel Online 15. November

Wenn Leser schwarz sehen: Cecilia Bartoli mag offenbar Bilder, auf denen nichts zu sehen ist

Geschrieben am 16. November 2014 von Paul-Josef Raue.
Bartoli in Mannheim

Bartoli in Mannheim

Der Kritiker des Mannheimer Morgen durfte Cecilia Bartoli zuhören, der Fotograf durfte seiner Arbeit nur eingeschränkt nachgehen. Also druckte die Zeitung nur die Kritik und zeigte eine schwarze Fläche statt eines Fotos der Sängerin. In der Bildzeile stand der Grund:

Wir hätten Ihnen gerne Fotos vom Bartoli-Konzert im Rosengarten geliefert. Leider war dies im Rahmen unseres öffentlichen Auftrags nicht möglich. Die Vorgaben des Managements der Künstlerin lauteten:

„Fotografiert werden darf nur während des Schlussapplauses. Und die Fotos müssen vor der Veröffentlichung vom Management freigegeben werden.“

Diese Art von Zensur wollen wir Ihnen nicht zumuten und verzichten deshalb auf Konzert-Bilder.

 

Im Juni 2013 hatte das Hamburger Abendblatt eine riesige, damals weiße Fläche gezeigt statt eines Foto von Cecilia Bartoli nach dem Konzert in Hamburg – mit dieser Bildzeile:

An dieser Stelle hätten wir gern ein Konzertfoto der Sängerin gezeigt. Doch das Schweizer Management stellte unannehmbare Bedingungen: Fotos in der Pause zur Auswahl vorlegen, die nicht genehmen löschen? Darauf haben wir uns nicht eingelassen.

Siehe dieser Blog vom 7. Juni 2013

Darf eine Zeitung das Bild eines rasenden Politikers drucken? Ramelows Blitzerfoto und Quietsche-Enten

Geschrieben am 15. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Ein Leser der Thüringer Allgemeine fragt zum „Blitzerstreit des B.R.“, gemeint ist Bodo Ramelow, der erster Ministerpräsident der Linken in Deutschland werden will: „Der Abdruck des Blitzerfotos ist gesetzwidrig, er verletzt das hohe Gut des Persönlichkeitsrechtes – warum dazu kein Hinweis?“ Der Leser bezieht sich auf Berichte und Fotos, zuerst der Bildzeitung, über Bodo Ramelow, der zu schnell gefahren sein soll, wie ein Blitzerfoto beweise (was von ihm bestritten wird: Erst akzeptierte er den Bußgeldbescheid nicht, aber zahlte dann laut eigener Angabe doch, nachdem der Fall ans Amtsgericht weitergeleitet und öffentlich diskutiert worden war).

Auch die Thüringer Allgemeine und der FAZ berichteten ausführlich, FAZ und Bild sogar mit Angabe des Kennzeichens von Ramelows Wagen.

Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ auf der Leserseite:

Es gibt in der Tat ein Recht am eigenen Bild. Doch gibt es auch eine Reihe von Ausnahmen – vor allem für Bürger, die gewählt sind als Vertreter des Volks, für Bürger, die berühmt sind und die sich in der Öffentlichkeit stolz präsentieren.

Blitzerfotos waren sogar Gegenstand einer Klage beim Bundesverfassungsgerichts, das entschied: Sie sind erlaubt, denn sie werden auf öffentlichen Straßen aufgezeichnet und sind jedermann wahrnehmbar – und schließlich gehe es um die Sicherheit im Straßenverkehr, die eine Einschränkung der „grundrechtlichen Freiheiten“ erlaubt.

Vor allem Politiker, die von den Bürgern als Vorbild gesehen werden, müssen akzeptieren, dass sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Bodo Ramelow nennt dies in einer Facebook-Nachricht sinngemäß: Die Presse spiele mit Quietsche-Enten. Selbst eine Politikerin wie Heidi Simonis, die abgewählt war, musste ertragen, dass sie beim Einkaufen fotografiert wurde. Der Bundesgerichtshof entschied: Die Bürger dürfen erfahren, wie sich ein Politiker verhalte – gerade in spektakulären Situationen. Er könne sich “nicht ohne Weiteres der Berichterstattung unter Berufung auf seine Privatheit entziehen“.

Und dass sich Bodo Ramelow in einer spektakulären Situation befindet, dürfte selbst bei ihm unstrittig sein, wie sein persönliches Engagement in den sozialen Netzwerken beweist.

Zudem: Wen sollte ein Reporter nach der Zustimmung zur Veröffentlichung des Blitzerfotos fragen, wenn unklar ist, wer überhaupt auf dem Foto abgebildet ist?

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“ 15. November 2014 (hier erweitert)

Quellen: Bild 6.11. „Wird hier Thüringens neuer Landeschef geblitzt?“ und FAZ 7.11. von Claus Peter Müller „Zur Akteneinsicht gebracht“

Shitstorm und Putin-Versteher: Sind Journalisten aus dem Osten empfindlicher als die im Westen?

Geschrieben am 15. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Ist ein Journalist, aufgewachsen in der DDR, empfindlicher als einer aus dem Westen? Muss man ihn mit Walter Ulbricht vergleichen, weil er keine Lust und keine Nerven mehr hat, in Shitstorms zerlegt zu werden? Kann ein ehemaliger DDR-Korrespondent in Moskau heute nicht objektiv über Putins Russland schreiben?

Paul Schreyer kommentiert auf heise.de einen Beitrag des Spiegel-Autor Christian Neef, der im Medium Magazin beklagte:

Onlinemedien wie Spiegel Online nehmen inzwischen sogar in Kauf, dass die Berichte ihrer Korrespondenten gleich im Anschluss an den Text in den Foren aufs Übelste zerpflückt und als unwahr bezeichnet werden, sie desavouieren damit ihre eigenen Mitarbeiter und liefern sie schutzlos dem Shitstorm aus. Ich habe die Kollegen bei Spiegel Online deswegen gebeten, bei bestimmten Texten, die ich schreibe, die Kommentarfunktion künftig abzuschalten – so wie es andere Webseiten schon länger tun.

Paul Schreyer wundert sich, dass die üblen Kommentare „langsam Wirkung auf einzelne Journalisten zeigt“ und fragt: „Geht es nicht am Ende um den Leser? Ist dieser nicht der Souverän in einer offenen Mediengesellschaft?“

Das sind interessante Ansichten, intelligente Fragen – allemal eine Debatte wert, zumal Günther Nonnenmacher (FAZ) und Hans Leyendecker (SZ) ähnlich wie Christian Neef argumentieren. Nur – was um alles in der Welt – hat das mit der DDR zu tun? Warum wird einer aus dem Osten abgekanzelt, weil er aus dem Osten kommt? Und dies noch auf eine, vorsichtig ausgedrückt, seltsame und unjournalistische Art – unter Berufung auf Widerstand im Spiegel, der unter „vorgehaltener Hand“ geäußert wird. Das ist eher DDR-mäßig: Anonym und hinterhältig.

Schreyer schreibt:

Auch innerhalb des Spiegel regt sich nun Widerstand gegen Neefs Ansichten. Unter vorgehaltener Hand heißt es aus der Redaktion, hinter den Äußerungen des Russlandkorrespondenten stecke „eine Denkweise, die Walter Ulbricht einst auf die Formel brachte, man dürfe ‚die Dinge nicht dem Selbstlauf überlassen'“. Die Pointe dabei: Neef ist selbst in der DDR aufgewachsen, war in den 1980er Jahren Korrespondent des DDR-Rundfunks in Moskau, ist seit der Wende aber beim Spiegel und profiliert sich dort seit vielen Jahren vor allen Dingen mit massiver Russlandkritik. Er war es auch, der den Begriff „Putinversteher“ 2011 erstmals in einer Schlagzeile verwandte.

Und was ist wirklich die Pointe?

Ein Experiment ist gescheitert: „dieredaktion.de“

Geschrieben am 14. November 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 14. November 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Es gibt die „redaktion.de“ nicht mehr,. Die Deutsche-Post-AG hat entschieden: Der Service wird zum 12. Dezember eingestellt. Die Idee war gut: Die Post sammelt freie Journalisten in einer Journalisten-Börse, in der sie ihre Geschichten, Fotos und Dienste den Verlagen anbieten; die Post garantiert, dass die Freien ihr Honorar schnell und zuverlässig bekommen – direkt von der Post, die wie eine Bank agiert und eine Vermittlungs-Gebühr behält.

Es hat offenbar nicht geklappt: Die Verlage haben offenbar andere Sorgen, die Post hat wahrscheinlich nicht genug verdient. Schade: Ein Experiment ist zu schnell gescheitert.

Ein aktuelles Beispiel aus dem Angebot von „dieredaktion.de“:

Artikel
Azubis: Langfristig binden
Aus dem Ressort »Arbeit & Beruf > Arbeitswelt«. Preis: 35,00 €

Stellenanzeige aufgeben, Bewerbungen abwarten – und schon ist der passende Azubi gefunden? Das war einmal. Wer an die besten Auszubildenden heran will, und diese langfristig ans Unternehmen binden möchte, der beginnt anders. Beispielsweise können sich auch kleine und mittelständische Unternehmen auf Ausbildungsmessen präsentieren. Dort kommt man meist ungezwungen mit dem potenziellen Nachwuchs ins Gespräch. Möglicherweise finden sich so Mitarbeiter, die sich auf eine normale …

Das Naturell von Journalisten: Die Neugier sitzt ihnen permanent im Nacken

Geschrieben am 14. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Journalisten sind ein Völkchen, deren Arbeitsbedingungen sich zwar stark verändert haben, deren Naturell jedoch seit über anderthalb Jahrhunderten so ziemlich dasselbe geblieben ist. Die Neugier sitzt ihnen als Sucht und als Quälgeist permanent im Nacken.

Joseph Hanimann bespricht in der Süddeutschen Zeitung den Film über die Tageszeitung Le Monde „Immer noch Jäger“ (13. November 2014). Die Redakteure treffen sich übrigens im Morgengrauen zur legendären Stehkonferenz.

Facebook – die neue Ära des Journalismus? Nein, weil die eigene Medien-Marke zu wichtig ist

Geschrieben am 13. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Journalismus in Zeitungen ist tot. Journalismus in Blogs auch. Journalismus auf Homepages ist tot und bei Google und auch in den sozialen Netzwerken – bis auf Facebook. Die New York Times ruft die neue Ära des Journalismus aus – denn unter einer neuen Ära tun wir es nicht mehr. Früher dauerte eine Ära noch Jahrhunderte, heute nur noch ein paar Jahre.

David Carr schreibt in der New York Times, zitiert von Socialmediawatchblog:

Facebook ist wie ein riesiger Hund. Du weißt nie genau, ob er einfach nur spielen oder Dich fressen will – am Ende leckt er Dich womöglich tot.

Diese drei Gründe nennt David Carr, warum Facebook den Journalismus aufsaugen wird:

1. Facebook bietet Verlagen an, ihren Journalismus komplett und schön gestaltet auf Facebook zu platzieren. Die Werbe-Erlösen sollen sich Facebook und Verlage teilen.

2. Mark Zuckerberg will im nächsten Jahrzehnt erreichen, dass Nachrichten die entscheidende Rolle bei Facebook spielen: “News is a very big priority“.

3. Der RSS-Miterfinder Dave Winer arbeitet, in Kooperation mit Facebook, an einem neuen Werkzeug, Artikel oder Foto gleichzeitig im Blog und auf Facebook zu platzieren.

Raphael Raue, SEO bei RP-Online, kann die Meinung von Carr überhaupt nicht teilen und schreibt:

Das alte Märchen vom großen Traffic über Facebook wird geschickt von zu vielen Social-Media-Beratern gestreut. Es gibt viele gute Social-Media-Experten, aber die manische Fokussierung der deutschen Medienwelt auf Social Media ist durch die Fakten nicht zu rechtfertigen. Denn richtig ist:

> Die meisten deutschen Nachrichtenseiten haben nicht mehr als 10% Facebook-Traffic

> Aber rund 30% Google-Traffic.
Quelle https://twitter.com/thorebbe/status/517344192318558209?s=03

> Entschiede man sich für Facebook, verlöre man 30% und gewönne vielleicht 10%. Unternehmerisch wäre das eine mehr als gewagte Entscheidung.

Dazu kommt: Journalistische Inhalte funktionieren nicht wirklich gut auf Facebook – außer große Meldungen, Todesfälle, ein wenig Regionales und vor allem Buntes, Boulevard und Sport. Die Konzepte von Buzzfeed und Heftig kann man nicht einfach auf Nachrichten übertragen.

Der Tod der Homepage wurde im Netz schon oft, zu oft, ausgerufen. Alle sind zu ihr zurückgekehrt, auch Social-Media-Berater. Zudem würde ich meine Marke nie von einer anderen allein abhängig machen. Mit einer eigenen Seite kann ich die Marke klassisch – offline und online – vermarkten, auf Google stärken, auf Facebook stattfinden lassen, Instagram, Tumblr und Pinterest nicht zu vergessen und auf allen künftigen großen Plattformen.

Wenn ich einmal zu Facebook wechsle oder mich nur auf Google verlasse, bin ich verloren, wenn sich das Netz ändert. Und es ändert sich ständig. Vor 20 Jahren konnte sich auch niemand vorstellen, dass man mal irgendwann anderes als Microsoft und Yahoo nutzen würde.

Ich halte diese Theorie, Journalismus werde bald nur noch auf Facebook stattfinden, weder kurzfristig noch langfristig eine auch nur bedenkenswerte Option. Genauso wenig würde ich irgendjemandem empfehlen, seine Seite nur auf Google auszurichten und Inhalte dort zu hosten und nicht mehr irgendwo anders auszuspielen.

Nachrichten müssen überall stattfinden, auf manchen Kanälen funktionieren sie besser, auf anderen weniger, wichtig ist aber, dass man sich die technische wie inhaltliche Unabhängigkeit bewahrt, ach wenn dafür noch nicht allerorts das Geschäftsmodell gefunden wurde.

 

Wie wir uns den vorbildlichen Journalisten vorstellen: Ein Mensch voller Einfälle

Geschrieben am 11. November 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 11. November 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, B 2 Welche Journalisten wir meinen.

Beim Erwachen hatte ich schon so viele Einfälle, dass der Tag nicht ausreichte, um sie niederzuschreiben.

Der Universal-Gelehrte Gottfried Wilhelm Leibniz vor rund dreihundert Jahren.

Eine Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten: Warum wir stolz sein können

Geschrieben am 9. November 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 9. November 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, H 31 Feature.

Können Sie eine Liebeserklärung an den Osten schreiben?, fragte mich der Südkurier-Chefredakteur Stefan Lutz aus Konstanz am Bodensee. Ja, das ist die Liebeserklärung an die Revolutionäre im Osten Deutschlands:

Die Mauerspechte perforieren die Mauer, die Wessis klopfen auf Trabbis als Willkommens-Gruß, und Helmut Kohl und Lothar de Maiziere verhandeln über die Einheit – vor knapp 25 Jahren.

Der eine, Kanzler seit acht Jahren, ist groß und kräftig; der andere, erst seit einigen Wochen DDR-Ministerpräsident, klein und schmächtig. Der Kanzler wähnt sich als Sieger der Einheit; der DDR-Präsident weiß, sein Staat ist pleite und sein Volk will die Einheit, egal wie.

Nach einem der zähen Gespräche bewegt der DDR-Regierungssprecher den sichtbar mürrischen Kanzler dazu, die Journalisten nicht länger warten zu lassen. Er bittet Kohl vor dem Gästehaus nicht auf der obersten Stufe stehen zu bleiben – aus Rücksicht auf den DDR-Präsidenten, der einen Kopf kleiner ist.

Kohl bleibt oben stehen, sieht die Fotografen, zögert und steigt unwillig eine Stufe hinab. Nun sind sie auf Kopfhöhe, die beiden deutschen Regierungschefs: Ein symbolisches Bild in jeder Hinsicht.

Der Starke und der Schmächtige – in diesem Bild fanden sich die Ostdeutschen wieder, als das Trabbiklopfen leise wurde und zwei von drei Ostdeutschen keine Arbeit mehr hatten. Im Südwesten, eine Tagesreise von Schwedt oder Cottbus entfernt, verschwand schnell das Interesse an dem, was man die „neuen Bundesländer“ nennt – ein typisch westdeutscher Begriff, der suggeriert, man habe ein Land erobert.

Dabei haben die Ostdeutschen unmerklich die Achse des neuen Deutschlands (eigentlich das alte, das verfassungsgemäße) nach Osten verschoben: Berlin, die neue Hauptstadt, liegt näher an Warschau als an Paris; die Kanzlerin kommt aus Vorpommern, der Bundespräsident aus einem schmalen Streifen an der Ostsee, den man Fischland nennt.

Man muss die Ostdeutschen nicht lieben, aber man sollte es zumindest versuchen. Denn – was ist das nur für ein stolzes Volk, das hinter dem Todesstreifen die Sehnsucht auf eine Revolution wach hielt – trotz Indoktrination und Angst vor einer Bande unfähiger und die Menschen verachtenden Politiker? Was ist das für ein Volk, das eine Gesellschafts-Ordnung beerdigte, die ihnen ein gutes Leben und frei Rede verwehrte? Was ist das für ein Volk, dem die einzige Revolution in Deutschland gelang, und die auch noch friedlich?

Sie machen einen das Lieben auch nicht leicht, gelten als mürrisch – und undankbar. Undankbar? Wofür sollten die Ostdeutschen danken?

Sicher ist eine Billion oder noch mehr in die Unternehmen, Städte, Straßen und Landschaften gesteckt worden, damit sie blühen. Aber es war eine Laune der Geschichte, dass die Menschen in Erfurt, Rostock und Dresden unter die Knute der Sowjets kamen und ein sozialistisches Experiment auszuprobieren hatten, während die Brüder und Schwestern in Hamburg, Essen und Konstanz an ihrem Wohlstand arbeiten und am Feiertag, dem 17. Juni, in die Biergärten gehen durften. Nach ihrer Revolution bekamen die Ostdeutschen zurück, was ihnen vorenthalten war und ihnen zustand.
Es ist schon ein westdeutscher Hochmut, dafür Dankbarkeit zu erwarten. Und dieser Hochmut geht den Ostdeutschen gegen den Strich. Was haben sie nicht alles ertragen müssen, als dem Rausch der Revolution der Kater folgte?

Wer eine totale, wirklich totale Veränderung seines Lebens und seines Alltags noch nicht erlebt hat, der gebe sich einmal fünf Minuten und denke nach: Gelänge es mir

> mit dem Verlust meines Arbeitsplatzes fertig zu werden – nach einem Arbeitsleben, in dem Arbeitslosigkeit so gut wie nicht vorkam?

> erstmals einen Versicherungs- und Mietvertrag verstehen, eine Steuererklärung abgeben und einen Kreditantrag ausfüllen zu müssen?

> mit einem ebenfalls deutsch sprechenden Menschen einen Kaufvertrag abzuschließen über einen sechs Jahre alten Golf, der fast so viel kosten soll wie ein neuer?

> einen Menschen zu respektieren, der Beamter ist, eine Buschprämie zu seinem hohen Gehalt bekommt und mit mir so unverständlich, aber kompromisslos redet, als habe er einen Unzivilisierten aus dem Busch vor sich?

Viele, zu viele kamen aus dem Westen, um Karrieren zu machen, die sie wegen mangelnder Eignung in ihrer Heimat nie hätten machen können. Trotz dieser Mitläufer und Günstlinge der Revolution, aber auch dank manch wirklicher Helfer gelang den Ostdeutschen ein zweites Wirtschaftswunder, zumindest im Süden des Ostens, in Sachsen und Thüringen.

Wer weiß schon in Konstanz, dass die Arbeitslosigkeit in Thüringen geringer ist als in Nordrhein-Westfalen und die Zahl der Industrie-Arbeitsplätze, in Relation zu den Einwohnern, die zweithöchste in Deutschland? Manches erinnert an den Aufschwung in Westdeutschland nach Verabschiedung des Grundgesetzes: Ein fleißiges und genügsames, bisweilen auch seltsames Volk schafft sich seinen Wohlstand – und denkt nicht über die Vergangenheit nach.

Man sollte sie einfach lieben, aber jeden Fall zu ihnen reisen. Der Osten ist der schönste Teil Deutschlands: Ein Drittel unseres Welterbes ist im Osten zu besichtigen. Wer beispielsweise nach einer langweiligen Fahrt durch die hessische Kulturwüste über die alte Grenze fährt, den grüßt gleich die Ruine der Brandenburg, die Unkundige schon für die Wartburg halten. Es ist eine Perlenkette entlang der Autobahn:

 Die Wartburg, auf der Luther die Bibel übersetzte, grüßt oberhalb von Eisenach, wo Johann Sebastian Bach geboren wurde.

 Nicht einmal eine halbe Autostunde entfernt lockt die Residenzstadt Gotha mit dem ältesten englischen Landschafts-Park auf dem Kontinent.

 Noch einmal eine halbe Autostunde weiter liegt mit Erfurt eine der schönsten und fast vollständig erhaltenen Altstädte Deutschlands mit dem beeindruckenden Dom.

 Nebenan liegt Arnstadt mit der Kirche, an der Bach seine erste Anstellung als Organist bekam.

 Ja, und dann kommt Weimar, die deutsche Kulturstadt schlechthin, in der Goethe lebte, liebte und schrieb, und Schiller und Herder und viele andere – und in der Nietzsche starb.

Übrigens: Sie sind wirklich anders, die Revolutionäre und ihre Nachfahren im Osten. Wer ungeduldig fragt: „Ist das denn möglich – 25 Jahre nach der Wende?“, der hat Revolutionen nicht verstanden und kennt nicht mehr die Spätfolgen von Diktaturen, der spürt nicht die Narben in den Seelen der Menschen, die immer noch schmerzen, der ahnt nur, wie schwer es ist, ein Paradies und das Glück der Freiheit zu erwarten und eine Demokratie zu bekommen, die einem keiner so recht erklärt.

So müde auch die Älteren geworden sind, überdrüssig der Veränderungen und der Debatten über Stasi, Mitläufer und Unterdrückung, so neugierig sind die Jungen, so vital und tatendurstig und so unbekümmert. Die Dritte Generation Ost ist das Potential für die Zukunft Deutschlands.

Wir befinden uns in der historischen Zeit „25 Jahre danach“, also im Achtundsechzig des Ostens: Die Jungen halten das Schweigen der Eltern kaum aus; sie wollen wissen, was sie getan und wie sie gelebt haben in der Diktatur. Was ist das für eine Generation, die Dritte? „Eine Generation, die sich auf die Suche nach ihren Wurzeln macht, weil sie in der Gegenwart wenig darüber erfährt“, so beschreibt sie es in einem Buch, das einfach „Dritte Generation Ost“ heißt.

In manchem ähnelt der Aufschrei der jungen Leute aus dem Osten dem Aufschrei der jungen Achtundsechziger einst im Westen:

 Während die Älteren, die Väter- und Großväter-Generation, Ruhe haben will, während sie behaupten, die Jungen wollen die alten Geschichten nicht hören, widersprechen die Jungen laut: „Wer sagt, dass die Vergangenheit für die Jungen keine Rolle mehr spielt, der irrt… Wir wollen nicht mehr ausweichen und um alles lavieren, was mit Ostdeutschland zusammenhängt.“

 Die Jungen wollen wissen, warum sie autoritär (aber auch liebevoll) erzogen worden sind – eben so, wie es in der DDR üblich war. Sie wollen wissen, ob eine andere Erziehung besser gewesen wäre und in Zukunft auch wäre – vor allem mit Blick auf ihre Kinder. Sie wissen, dass mit einer Revolution nicht alles untergeht, was die Menschen geprägt hat.

 Sie ringen um Antworten, was sie aus dem untergegangenen Land mitnehmen können in das neue Land – und sie wünschen,
dass ihre Eltern dabei helfen. Sie ringen um die Werte und fragen: Welche Werte sind so wertvoll, dass sie nicht über Bord geworfen werden dürfen?

Anders als die Achtundsechziger im Westen begehren sie nicht auf und gehen nicht auf die Straße. Sie haben andere
Möglichkeiten: Sie verlassen einfach ihr Elternhaus, lassen die Alten schweigend zurück und gehen zu Studium oder Lehre in den Westen oder fliegen gleich nach England oder Australien. Sie sehen die Trauer in den Augen der Mütter und verstehen sie nicht; diese Trauer belastet sie sogar, weil sie wissen: Es war schwer in der Diktatur, seinen Kindern trotzdem den aufrechten Gang zu lehren. Aber sie Jungen schütteln die Last der Vergangenheit ab, weil es um ihr Leben geht.

Wir sprechen von weit mehr als zwei Millionen junger Menschen, die in den beiden letzten Jahrzehnten der DDR herangewachsen sind. Sie haben heute einen unschätzbaren Vorteil gegenüber ihren Altersgenossen im Westen: Sie kennen zwei Wirtschafts- und Gesellschafts-Systeme, sie waren – im besten Alter – auf sich selbst geworfen, konnten selbstbewusst in eine neue, eine freie Gesellschaft wechseln, ohne hohe Eintrittsgebühren zahlen zu müssen. Sie kennen etwas, was im Wohlstand und Freiheit aufgewachsene Generationen nicht erfahren: Im besten Alter die Richtung ändern, neu anfangen, die Welt neu denken – ja, die Welt verändern und mit der eigenen anfangen.

Die Erste deutsche Generation entstand aus der Dritten Generation Ost und wurde in der Revolution elternlos in dem Sinne: Sie brauchten ihre Eltern nicht mehr. Am liebsten hätten die Eltern ihre Kinder nach der Zukunft gefragt, hätten Rat gesucht, wie es weitergeht. Aber wer in einem streng hierarchischen System von Oben und Unten gelebt hatte, will sich vor seinen Kindern keine Blöße geben – und schweigt, erst recht wenn er sich nicht sicher ist, ob er das richtige Leben gelebt hat in dem falschen der Diktatur.

Kurz angemerkt sei, um nicht fahrlässig euphorisch zu werden: Es gibt auch Kinder der Revolution, die in den falschen Weg abgebogen sind, die ohne Hilfe hilflos wurden und ihre Energie fatal einsetzen – wie die jungen Terroristen der NSU, die mit ihrer Intelligenz ein Jahrzehnt lang mordeten und die Polizei unseres Landes an der Nase herumführten. Auch das ist eine Parallele zu den 68ern des Westens, von denen einige in den Terror gingen und mordeten und die Gesellschaft ihrer Eltern herausforderten.

Die meisten der Jungen, der Dritten Generation Ost, haben ihren Weg gefunden ohne große Hilfe, denn auch ihre Lehrer waren ratlos und die Ratgeber aus dem Westen selten die besten. Für die Jungen ist Deutschland nicht mehr geteilt, auf jeden Fall nicht in Ost und West, sondern eher in Nord und Süd, in Gestern und Morgen.

So wie die Achtundsechziger den Westen verändert haben, vielleicht sogar radikaler als viele denken, so werden die Achtundsechziger des Ostens die gesamte Republik verändern, langsamer zwar und leiser, aber tiefgreifend. Es ist so: Die Revolution hat Deutschland, auch und gerade den Westen, verändert. Um es neudeutsch zu beschreiben: Nachhaltig verändert.

Unser Land ist ein anderes geworden. Man mag es in der äußersten, der südwestlichen Ecke der Republik kaum merken.
Wer es wenigstens mal ahnen will, reise in den Osten – und nicht nur nach Berlin, unserer Hauptstadt, die zu unserer ersten Metropole geworden ist.

Kommt er nach Thüringen oder Mecklenburg zu Besuch, wird er sich wohlfühlen, erst recht in den Touristen-Hochburgen. Bleibt er länger, bekommt er eine nachrevolutionäre Antipathie zu spüren, die ihn verwirrt oder gar verletzt: Viele in der Eltern- und Rentner-Generation mögen den Fremden nicht, erst recht nicht den Fremden aus dem eigenen Land, der sich über das lädierte Selbstbewusstsein wundert, an die Lebens-Geschichte rührt, darüber sprechen oder gar urteilen will. Da geht es dem Fremden nicht besser als den Kindern der Revolution.

Trotzdem: Wir können die Revolutionäre nur lieben, zumindest aber sollten wir sie und ihr Leben respektieren.

**

Im Südkurier erschien die Liebeserklärung am 30. Oktober auf den Seiten 2-3. Online hat ihn die Redaktion in die Exklusiv-Abteilung gestellt:

29.10.2014 | THEMEN DES TAGES | Exklusiv
25 Jahre Mauerfall: Warum wir stolz sein können. Eine Liebeserklärung an Ostdeutschland
25 Jahre sind seit dem Mauerfall vergangen – aber noch heute fremdeln die Deutschen miteinander. Paul-Josef Raue, einer der angesehensten Journalisten Deutschlands, erklärt exklusiv für den SÜDKURIER, warum die Deutschen stolz auf ihren Osten sein können.

Redakteure Ost, die Dritte Generation, debattieren mit jungen Redakteuren West über die Einheit

Geschrieben am 9. November 2014 von Paul-Josef Raue.

Lars Haider, der Chefredakteur des Hamburger Abendblatt war verblüfft, nachdem er einer Mauerfall-Debatte der jungen Redaktions-Generation Ost und West zugehört hatte:

Die DDR selbst und ihr Ende ist bei der Delegation der Thüringer Allgemeine fast so präsent, als wären die Kollegen damals nicht acht, neun oder zehn, sondern mindestens volljährig gewesen. Andererseits registrierte man als (westdeutscher) Zuhörer erstaunt, dass die Wiedervereinigung bei den jungen Kollegen des Hamburger Abendblatt nicht mehr als die Erinnerung an Erzählungen der Eltern ist. Der 9. November ist für sie fast ein Tag wie jeder andere.

Mir hat die zweistündige Diskussion so deutlich wie selten gezeigt, dass es einen nach wie vor gigantischen deutsch-deutschen Unterschied gibt – nämlich in der Bewertung der Wiedervereinigung. Während man im Westen doch, vielleicht auch ohne es zuzugeben, relativ schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen ist und die Bedeutung des 9. November von Jahr zu Jahr verblasste, hat dieses Datum und seine Folgen in Ostdeutschland auch 25 Jahre später vergleichsweise wenig von seiner Kraft und Gewalt verloren. Wer glaubt, spätestens für die dritte Generation hätten sich die Themen der Wendezeit erledigt, der irrt, und wie.

Vier Redakteure aus Thüringen und vier aus Hamburg hatten sich getroffen, um über die Einheit und die Unterschiede in Ost und West zu sprechen. Die Debatte ist in der Wochenend-Ausgabe der TA zu lesen ebenso wie der Kommentar des Hamburger Chefredakteurs:

Es war eindrucksvoll, die jungen Kollegen der Thüringer Allgemeine in Hamburg erleben zu können, mit ihrem Bewusstsein für die eigene Geschichte und ihrem Blick auf das neue Deutschland. Das war im besten Sinne Nachhilfeunterricht für einen Westdeutschen, der manchmal in die Versuchung gerät, die Wiedervereinigung nun endlich doch als Selbstverständlichkeit abzuhaken.

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