Alle Artikel der Rubrik "Aktuelles"

Andrea Nahles auf Rekordjagd: Das längste deutsche Wort 2015 (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Politiker sind eitel wie alle Menschen, die sich in der Öffentlichkeit präsentieren müssen, Journalisten inklusive. Herr Gauck will der beliebteste sein, Frau Merkel die erfolgreichste, Herr Steinmeier der bekannteste.

Frau Nahles, die Arbeitsministerin, möchte in den Umfragen auch nach oben steigen, will die bekannteste Politikerin werden, zumindest vor den Damen von der Leyen und Schwesig. Wie es ihr gelingen wird?

Mit Worten, genauer: mit dem längsten deutschen Wort 2015, das nicht einmal in eine Druckzeile passt: „Mindestlohndokumentationspflichteneinschränkungsverordnung“. Mit 58 Buchstaben übertrifft das Wort den 36-Buchstaben-Rekordhalter im Duden um Längen: Kraftfahrzeug-Haftpflichtversicherung.

Selbst der legendäre „Donau-Dampfschifffahrtsgesellschafts-Kapitän“ umfasst gerade mal 42 Buchstaben, wird als Wortungetüm diffamiert und Schülern zur Abschreckung vorgeführt.

„Wer nie Deutsch gelernt hat, macht sich keinen Begriff, wie verwirrend diese Sprache ist“, notierte Mark Twain, der amerikanische Dichter des Tom Sawyer, als er vor gut hundert Jahren durch Europa reiste. Er versammelte die „Schrecken der deutschen Sprache“, die er konzentriert im längsten ihm bekannten Wort fand: „Gegenseitigengeldbeitragendenverhältnismäßigkeiten“.

Er kannte Andrea Nahles und ihre Wortgewalt noch nicht.

PS. Es geht noch länger: 85 Buchstaben sind in diesem Blog als der Allzeit-Rekord notiert.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 26. Januar 2015

Stephan Thurm: Das Internet ist keine Bedrohung für Zeitungen

Geschrieben am 24. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Es gehört also immer mehr zu den Aufgaben der Redaktionen, für die „soziale“ Verbreitung Ihrer Artikel zu sorgen. Belohnung ist, dass auch ein Dialog mit den Lesern entsteht und die Publizisten dabei viel erfahren können.

Stephan Thurm ist Geschäftsführer von Funke-Digital in Berlin: Er soll die Zeitungen wie WAZ oder Hamburger Abendblatt ebenso in die digitale Zukunft führen wie die Zeitschriften von Hörzu bis Die Aktuelle. Diesen Vortrag hielt er beim Symposium „25 Jahre Thüringer Allgemeine“ in Erfurt:

Ich beschäftige mich beruflich seit 17 Jahren intensiv mit dem digitalen Wandel unserer Medienwelt. Meine Tochter hat die guten alten Kodak-Filmröllchen nicht mehr kennen gelernt und würde nicht mehr auf die Idee kommen, eine CD zu kaufen, wenn man doch mit Spotify alle Titel hören kann. Aber man muss sagen, dass es mittlerweile keine Branche mehr gibt, die vom digitalen Wandel nicht unmittelbar betroffen ist:

> Der Handel musste sich auf Amazon einstellen, deren letztes Weihnachtsgeschäft zu 60% über mobile Plattformen abgewickelt wurde.
> Dienstleister wie Friseure, Handwerker, Taxis und Restaurants werden per Handy gebucht und bewertet;
> Autos und Ferienwohnungen muss man nicht mehr besitzen, mittels „App“ lässt sich der Besitz effizient teilen;
> und natürlich hat sich die Mediennutzung in den letzten 25 Jahren stark verändert. 

Fakt ist: Insbesondere junge Menschen nutzen Medien anders als noch vor 10 Jahren und haben einen veränderten Zugang zu Nachrichten. Doch Medien sind kein beliebiges Produkt, denn wie wir auch hier in Thüringen sehen, ist die Entwicklung unserer Demokratie ohne kritische Journalisten nicht vorstellbar. Das haben letztes Jahr eindrucksvoll auch wieder die Enthüllungen von Edward Snowden gezeigt.

Wenn wir über „Zeitungen“ sprechen, haben sich die Medienmacher weltweit längst abgewöhnt, das Produkt nur noch mit Papier zu verbinden. Denn unabhängig von der Darreichungsform zählt der Inhalt, egal ob man seinen Goethe auf Papier oder auf Kindle liest. So haben finden sich alle starken Zeitungsmarken im Internet oder auf dem Smartphone und erreichen auf diese Weise auch junge Menschen. So wurde auch das Zeitungshaus Thüringen zum Medienhaus.

Reicht es also, wie bisher mit guten Journalisten relevante Nachrichten zu produzieren und diese schlicht zu digitalisieren? Sicher nicht, denn jedes Medium hat eigene Gesetze, und wir würden auch nicht auf die Idee kommen, im Radio die Zeitung vorzulesen.

Geschichten müssen anders erzählt werden, denn häppchenweise Lesen auf dem Handy erinnert sich eher an ADHS als ans entspannte Zeitungslesen am Frühstückstisch. Es reicht auch nicht mehr aus, wenn Journalisten Ihre Geschichten schreiben und dann zufrieden nach Hause gehen: Mehr als die Hälfte der Online-Leser finden die Geschichten über Google, Facebook oder Twitter. Es gehört also immer mehr zu den Aufgaben der Redaktionen, für die „soziale“ Verbreitung Ihrer Artikel zu sorgen. Belohnung ist, dass auch ein Dialog mit den Lesern entsteht und die Publizisten dabei viel erfahren können. 

Zwar ist nach einer BBC-Studie Deutschland eines der wenigen Länder, das bei Nachrichten mehr auf Gedrucktes als auf TV vertraut. Starke Marken – wie hier in Thüringen – sind wichtig. Aber was könnte wichtiger sein, als die Empfehlungen meiner Freunde?

Auch die Zeiten von Meinungsmonopolen sind vorbei: Jeder kann publizieren und die Nachrichtenströme organisieren sich blitzschnell, wie man in Paris zuletzt sehen konnte: 5 Millionen Twitter-Meldungen mit dem Hashtag #jesuischarlie haben die News kanalisiert und Journalisten hatten auf diese Weise Zugang zu Tausenden von Quellen.

Als Anmerkung sei gestattet: Lassen wir die Kirche im Dorf, alleine die Tageszeitungen unserer Gruppe erreichen täglich mehr als 5 Mio Leser…!

Einzelne Twitter-Meldungen gehen dabei um die Welt, wie das Foto einer Mutter von ihrem Neugeborenen beweist: Auf dem Namensschild, um das Ärmchen gebunden, steht „Je suis Charlie“. Das alles ist übrigens nicht ungefährlich, denn Terroristen wissen die sozialen Medien für Ihre Propagandazwecke trefflich zu missbrauchen.

Ist das eine Bedrohung für die Zeitungen? Nein, denn plötzlich tun sich guten und schnellen Journalisten viele neue Quellen zur Recherche auf, deren Einordnung und Bewertung die meisten „Normalverbraucher“ immer noch gerne der Redaktion Ihres Vertrauens überlassen. So haben Zeitungen einerseits die Herausforderung, auf das geänderte Mediennutzungsverhalten zu reagieren, das nach „live news“ und Informationshäppchen auf dem Handy verlangen.

Andererseits gilt es, den Markenkern der Zeitung mit einer reflektierten Berichterstattung neben diesem hektischen „news stream“ zu wahren. Denn die klassische Stärke der Zeitung liegt im täglichen Informationspaket der Redaktion meines Vertrauens, kompakt und übersichtlich, pünktlich geliefert. Ein Paket, das einen Anfang und ein Ende hat. Das mir hilft, das Weltgeschehen einzuordnen und mit einem guten Gefühl informiert in den Tag zu gehen. Es wäre schön, wenn die Zeitungen bei allem Wandel auf Ihre Stärken nicht vergessen.

Eine besondere Herausforderung für die Zeitungen ist das Geschäftsmodell: Lässt sich Qualitätsjournalismus in der digitalen Welt noch finanzieren? Daran arbeitet die gesamte Branche, und es wird sich bezahlen lassen, wenn die Leser bereit sind, für die Nutzung unserer Produkte auch eine Zahlungsbereitschaft zu entwickeln.

Dafür gibt es viele positive Beispiele und ich bin sehr zuversichtlich, dass dies auch hier in Thüringen gelingen wird.

 

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Das Symposium fand am 12. Januar 2015 in Erfurt statt.

Pegida versucht, einen Chefredakteur zu erpressen. Armin Maus erzählt das seinen Lesern

Geschrieben am 21. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Pegida will in Braunschweig demonstrieren. Die Braunschweiger Zeitung druckt erst die Forderungen ab und will dann mit den Organisatoren sprechen. Die lehnen zunächst ab und stellen dann Forderungen, unübliche und für eine unabhängige Redaktion unerfüllbare Forderungen. Chefredakteur Armin Maus lehnt ab und informiert seine Leser auf der Titelseite:

Pegida wird heute zum ersten Mal in Braunschweig körperlich sichtbar werden. Gerne hätten wir unseren Lesern vorab die Möglichkeit gegeben, die Pegida-Organisatoren im Originalton zu lesen, um sich ein Bild von ihren Positionen und Zielen, ihrer Art zu formulieren und ihrem Hintergrund zu machen. Unsere Interviewanfragen wurden zunächst abgelehnt, dann mit der Forderung verbunden, das Pegida-Positionspapier zu veröffentlichen.

Das hatten wir bereits getan: Am 16. Dezember berichteten wir ausführlich und detailreich auf dem Großteil einer Zeitungsseite über die dort formulierten Positionen und die interne und externe Diskussion. Der Anmelder der Pegida-Kundgebung verlangte nun eine Veröffentlichung des nackten kompletten Textes des Positionspapiers. Nur dann sei man zum Gespräch bereit.

Wir haben dieses Ansinnen im Interesse unserer Leserinnen und Leser abgelehnt. Unsere Redaktion ist unseren Leserinnen und Lesern verpflichtet, die von uns erwarten, unsere Arbeit frei und unbedrängt zu machen. Wir achten den Pressekodex – und sind nicht erpressbar.

Bundeskanzler, Minister, Verbandschefs, Unternehmer, Kirchen-Obere, Vereinsvorsitzende und viele ganz normale Bürger sprechen mit den Journalisten. Sie alle akzeptieren als Demokraten die Rechte der freien Presse. Dazu gehört ganz wesentlich, dass wir uns keinerlei Vorleistungen aufoktroyieren lassen können und dürfen. So wird es bleiben, Pegida hin, Pegida her.

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Quelle: Braunschweiger Zeitung, Montag, 19. Januar 2015

Joachim Braun: „Nordbayerischer Kurier“ ist eine der ersten Regionalzeitungen mit Online to print

Geschrieben am 21. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Joachim Braun ist ein Chefredakteur, der Leidenschaft hat und Experimente wagt. Mit seinem Nordbayerischen Kurier wagt er sich ab 1. Februar in eine völlig neue Organsiation, in neue Aufgaben und ein neues Profil für Lokaljournalisten. Beim Symposium „25 Jahre Thüringer Allgemeine“ in Erfurt stellte er „Online to print“ vor:

„Eine Zeitung muss sich stetig verändern und doch irgendwie bleiben, wie sie ist.“ Das schrieb der geschätzte Kollege Wolfgang Krach von der Süddeutschen Zeitung in einem Editorial. Er sprach von der Bedeutung von Traditionen und einem gewissen Hang von Zeitungsredaktionen, unmodern zu sein. Da zuckte ich schon ein bisschen zusammen. Und dann kündigte Wolfgang Krach an, dass die SZ in diesem Jahr Print- und Onlineredaktion zusammenführen werde, auf das – Zitat – „etwas fruchtbares, kreatives Neues“ entsteht.

Etwas Neues? Leeor Engländer kommentierte diese Ankündigung auf Facebook mit nur einem Satz: „Ich kenne eine Zeitung, da wird dies schon seit zehn Jahren praktiziert.“ Engländer ist Referent von Welt-Chefredakteur Jan-Eric Peters. Und deren Zeitung, Die Welt, ist – jedenfalls aus meiner Sicht – die Tageszeitung in Deutschland, die am konsequentesten den notwendigen Wandel zum Digitalen umsetzt. Damit unsere Verlage überleben, können wir es uns tatsächlich nicht mehr leisten – ich nehme noch mal Bezug auf Wolfgang Krach – „unmodern“ zu sein. Dafür haben wir, Redaktionen und Verlage, die Zukunft viel zu lange verschlafen.

„Online first“, also die Ausspielung von Artikeln auf der Website vor Erscheinen der gedruckten Version, ist inzwischen so etwas wie der Standard in Deutschland. Die Welt macht nun seit einem Jahr „Online to Print“. Das heißt, alle Reporter arbeiten für die digitalen Kanäle, und am Ende des Tages macht eine kleine Truppe von Blattmachern aus den online gestellten Artikeln die gedruckte Zeitung.

Das klingt banal, ist es aber ganz und gar nicht. „Online to Print“ ist die eigentliche Revolution in unserer Branche, weil dieses Prinzip nur dann funktioniert, wenn sich die Journalisten endgültig vom festen Redaktionsschluss, vom 24-Stunden-Rhythmus zwischen zwei gedruckten Zeitungsausgaben verabschiedet, wenn die Journalisten verstehen, dass Online viel, viel mehr ist als die Verlängerung von Print.

Was wir als Zeitungsmacher produzieren, ist Journalismus – nicht mehr, nicht weniger. Es ist nebensächlich, ob unsere Artikel auf der Website erscheinen, nur auf Mobilgeräten zu sehen sind, auf Blogs oder in der Zeitung gedruckt werden. Das einzige, was zählt, ist, dass die Leser das, was wir ihnen anbieten, interessant finden – so interessant, dass sie auch in Zukunft dafür bezahlen.

Beim Nordbayerischen Kurier in Bayreuth – wir sind ja nun eine sehr, sehr kleine Zeitung – arbeiten wir seit gut drei Jahren intensiv an diesem Change-Prozess. Am 1. Februar starten auch wir mit Online to Print, soviel ich weiß, gehören wir zu den ersten Regionalzeitungen in Deutschland.

Als erstes bauen wir dazu unsere Kommandozentrale um, den Newsdesk. Dort, wo bisher die Blattmacher saßen, die unsere Lokalseiten produziert haben, sitzt dann eine – wir nennen sie so – Online-Blattmacherin, die das komplette digitale Angebot, also Webseite und Soziale Medien, konzipiert. An ihrer Seite arbeitet ein Multimedia-Redakteur, der zu den vorgeplanten Themen und zu denen, die aktuell am Tag bearbeitet werden müssen, Ideen entwickelt, welches digitale Format für welche Geschichte das beste ist:

> Brauchen wir ein Video?
> Sollen wir live bloggen und damit in Echtzeit berichten?
> Oder eignet sich das Thema vielleicht sogar für eine multimediale Reportage (als Beispiel: Die preisgekrönten Mollath-Webseite).
 
Die gesamte Themenplanung richtet sich künftig am Digitalen aus. Natürlich ist auch in Bayreuth die gedruckte Zeitung noch auf lange Zeit der Hauptumsatzträger. Und ich habe keine Ahnung, ob es uns irgendwann gelingen wird, durch digitale Werbung und digitale Verkäufe Journalismus’ zu finanzieren. Ich glaube es, ehrlich gesagt, nicht. Sicher bin ich aber, dass es uns gelingt, rund um starke, positiv besetzte journalistische Marken digitale Geschäftsfelder zu entwickeln, im Bereich Handel, beim Lifestyle oder auch als Internet-Dienstleister. Das wird in Erfurt funktionieren und in Bayreuth auch.

Umso dringlicher ist es, dass wir gerade auf den digitalen Feldern weiterkommen, dieses „Neuland“ entwickeln, dass wir erkennen, welchen Bedarf an Themen es wann und wo gibt, dass wir lernen, mit neuen digitalen Formaten umzugehen. Noch nie war es so leicht, im Kontakt mit dem Leser oder User zu sein, noch nie war die Kommunikation so unmittelbar, wie jetzt zum Beispiel über Facebook. Wir sollten mehr als bisher dieses Angebot annehmen – und zwar als Weiterentwicklung der Bürgerzeitung, die erst in Braunschweig und dann hier in Erfurt umgesetzt worden ist.

„Putin-Versteher“ , nicht „Lügenpresse“ war Unwort-Favorit des Publikums (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 19. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

„Lügenpresse“ ist das Unwort des Jahres. Es ist eine gute Wahl, denn ohne unabhängige Presse verwandelt sich eine Demokratie in eine feudale Herrschaft derjenigen, die mit Macht oder Geld dem Volk vorschreiben, was es wissen darf und denken soll. 

Erfüllt die Presse ihre Aufgabe nicht oder nur teilweise, wird es in einer Demokratie immer ein Forum für Kritik, Widerspruch und Aufklärung geben – bei fast 17 Millionen Tageszeitungen, die täglich verkauft werden. Zu Recht  begründet die Jury:  „Eine pauschale Verurteilung verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der Pressefreiheit.“

„Lügenpresse“ war aber nicht der Favorit der über tausend Bürger, die ihre Vorschläge eingereicht haben, ja stand noch nicht einmal auf den vorderen Rängen. Das Publikum stimmte so ab – und jeder kann so seinen eigenen Favoriten wählen:

1. Putin-Versteher / Russland-Versteher (dies Unwort kam bei der Jury immerhin in die engere Wahl wie auch „Erweiterte Verhörmethoden“ für Folter)
2. PEGIDA / Patriotische Europäer gegen Islamisierung des Abendlandes
3. Social Freezing 
4. Tierische Veredelung / Veredelungsindustrie / Veredelungswirtschaft 
5. Gutmensch / Gutmenschentum 

Ob die Jury, mehrheitlich in Professoren-Hand, beim nächsten Mal auch einen Publikums-Favoriten auszeichnet?

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 19. Januar 2015

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Die Jury:
Prof. Dr. Nina Janich/TU Darmstadt (Sprecherin), PD Dr. Kersten Sven Roth (Universität Düsseldorf), Prof. Dr. Jürgen Schiewe (Universität Greifswald) und Prof. Dr. Martin Wengeler (Universität Trier), Stephan Hebel (Journalist), Christine Westermann (Journalistin, als jährlich wechselnder Gast)

Die Begründungen der Jury:

„Lügenpresse“ war bereits im Ersten Weltkrieg ein zentraler Kampf-
begriff und diente auch den Nationalsozialisten zur pauschalen Diffamierung
unabhängiger Medien. Gerade die Tatsache, dass diese sprachgeschichtliche
Aufladung des Ausdrucks einem Großteil derjenigen, die ihn seit dem letzten
Jahr als „besorgte Bürger“ skandieren und auf Transparenten tragen, nicht
bewusst sein dürfte, macht ihn zu einem besonders perfiden Mittel derjenigen,
die ihn gezielt einsetzen. Dass Mediensprache eines kritischen Blicks bedarf und
nicht alles, was in der Presse steht, auch wahr ist, steht außer Zweifel. Mit dem
Ausdruck „Lügenpresse“ aber werden Medien pauschal diffamiert, weil sich die
große Mehrheit ihrer Vertreter bemüht, der gezielt geschürten Angst vor einer
vermeintlichen „Islamisierung des Abendlandes“ eine sachliche Darstellung
gesellschaftspolitischer Themen und differenzierte Sichtweisen entgegen-
zusetzen. 

„Erweiterte Verhörmethoden“
ist aktuell geworden durch den CIA Bericht 2014; der Begriff hat sich in der Berichterstattung zu einem dramatisch verharmlosenden Terminus Technicus entwickelt. Der Ausdruck ist ein Euphemismus, der unmenschliches Handeln, nämlich Folter, legitimieren soll. Auch wenn er in deutschen Medientexten in distanzierenden Anführungszeichen steht, dient er letztlich dazu, das in seiner Bedeutung sehr klare Wort „Folter“ zu umgehen. Dass man sich die Sprache der Täter mit dieser Übernahme zu eigen macht und damit akzeptiert, ist bedauerlich.

„Russland-Versteher“

Zum Unwort wird dieser in der aktuellen außenpolitischen Debatte gebrauchte Ausdruck vor allem, weil er das positive Wort „verstehen“ diffamierend verwendet (und zwar ohne die Ironie, wie sie beispielsweise hinter der analogen Bildung des „Frauen-Verstehers“ steht). Wie Erhard Eppler im in seinem kritischen Essay „Wir reaktionären Versteher“ (Spiegel 18/2014 vom 28.04.2014) darlegt, sollte das Bemühen, fremde Gesellschaften und Kulturen zu verstehen, Grundlage einer jeden Außenpolitik sein, weil die Alternative nur Hass sein kann. Eine fremde Perspektive zu verstehen, bedeutet keinesfalls, damit zugleich Verständnis für daraus resultierende (politische) Handlungen zu haben. Andere polemisierend als „Versteher“ zu kritisieren, ist damit unsachlich und kann die inhaltliche Diskussion nicht ersetzen. Ein ganzes Volk zudem pauschal für eine politische Richtung haftbar zu machen und es mit dem Ausdruck „Putin-Versteher“ auf einen Autokraten zu reduzieren, zeugt von mangelnder Sprachreflexion oder aber gezielter Diffamierung.

Ramelow führt in Thüringen „Staatsfernsehen“ ein

Geschrieben am 17. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow sprach gestern erstmals im TV-Sender Salve, ohne dass Journalisten ihn mit Fragen stören konnten. „Ramelow & Co“, so der Serien-Titel, wird jede zweite Woche ausgestrahlt. Im Konzept des Weimarer Senders heißt es: Ramelow wird eigenständig vor der Kamera zusammenfassen und reflektieren. Dabei spricht er direkt in die Kamera.

Ramelow verwirklicht so, wovon Adenauer träumte: Ein Staatsfernsehen. Dem ersten Kanzler der Bundesrepublik hatte das Bundesverfassungsgericht einen Riegel vorgeschoben. „Das ist wie Staatsfernsehen, das geht so nicht“, kritisiert in der Thüringer Allgemeine der SPD-Bundestagsabgeordnete Steffen Lemme, der auch der Versammlung der Thüringer Landesmedienanstalt vorsteht. Wenn Ramelow, so Lemme, ungestört zu den Thüringern sprechen wolle, „kann er sich auch gleich selbstständig machen mit einem eigenen Medienunternehmen“.

Trotz der Kritik, die aus allen politischen Lagern kommt, will Ramelow nicht von dem Auftritt abrücken, wie die Staatskanzlei mitteilt. Der Medienwissenschaftler Horst Röper aus Dortmund findet den Auftritt absurd und sagt der Thüringer Allgemeine:

Ich habe noch nie gehört, dass ein Ministerpräsident sich selbst kommentieren darf. Das ist unglaublich, das ist entsetzlich. Hier verabschieden wir uns vom Journalismus. Dass es so etwas geben könnte, hat vermutlich niemand geahnt.

Für den Salve-TV-Hauptgesellschafter Klaus-Dieter Böhm ist Ramelows Solo-Auftritt der Versuch, „Politik transparent zu machen“.

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Quelle: Thüringer Allgemeine 17.1.2015

Tobias Korenke über Journalisten: Die Zeiten der Arroganz sind vorbei (Symposium „25 Jahre TA“ – Teil 2)

Geschrieben am 16. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Hart ins Gericht mit Journalisten, von denen viele wie Beamte arbeiten, ging der Leiter der Funke-Unternehmens-Kommunikation beim Symposium der Thüringer Allgemeine:

Ich sehe eine Haltungskrise bei den Journalisten. Die Zeiten der selbstherrlich gelebten Arroganz ist vorbei; sie sind beleidigt, dass es offenbar keine Lebensstellung mehr ist und sie ihre Deutungshoheit verloren haben; ihre Texte können plötzlich im Internet gemessen werden.

Wie viele Journalisten arbeiten wie Beamte, das macht mich manchmal ratlos. Neugier, Interesse am Leser, Lust am Wandel, all das ist gar nicht so häufig zu sehen.
Ein Phänomen für mich sind Betriebsratswahlen: Journalisten wählen die Betriebsräte, die mit Wandel überhaupt nichts am Hut haben – obwohl die Artikel, die sie schreiben, meistens ganz fortschrittlich sind.

Wir brauchen einen Aufbruch, eine Leidenschaft für Print und Digital, ein Interesse an Lesern, wir brauchen das Wissen, was die Leser wollen – und wir müssen die Schützengräben zwischen Verlagsbereichen und Redaktion überwinden. Wir sind in einer Glaubwürdigkeitskrise, zudem sind unsere Geschäftsmodelle porös geworden. Vor diesem Hintergrund und der grundsätzlichen Veränderung von Öffentlichkeit brauchen wir einen neuen Pakt zwischen Journalisten und ihrem Publikum – und zwar ein Gespräch, das die alten Tugenden des Dialoges aufnimmt, also: Nahbarkeit, runter vom Podest, echtes Interesse, Empathie und nicht zuletzt die Bereitschaft zum Perspektivwechsel.

Die Zukunft der Zeitung ist gut, wenn wir Mut zur Qualität entwickeln. Professor Stölzl von der Weimarer Liszt-Hochschule hat wunderbar die Bedeutung von Geschichten herausgehoben, die etwas Urmenschliches sind.

Es geht um Neuigkeiten, um Service, letztendlich auch um Orientierungs- und Sinnwissen. Wir müssen die Glaubwürdigkeit unserer Marken nutzen und stärken; insofern halte ich das ständige Beschneiden der Marketing-Etats wirklich nicht für zielführend. Wir haben mit unseren Marken Glaubwürdigkeit und Autorität. Wir sollten sie offensiv ins Spiel bringen.

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Thüringer Allgemeine, 16. Januar 2015

Tobias Korenke: Leidenschaft entdecke ich bei Verlagsmanagern immer seltener (Symposium 25 Jahre TA)

Geschrieben am 16. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Tobias Korenke, Leiter Unternehmenskommunikation der Funke-Mediengruppe, beendete das Symposium zu „25 Jahre Thüringer Allgemeine“ mit einer Provokation – zuerst gegen Manager, denen er fehlende Leidenschaft vorwarf:

1.Zeitungen haben sich eigentlich ganz gut gehalten, wenn man sich anschaut:

Im Internet finden wir eine völlig andere Öffentlichkeit als die, mit der wir über Jahrzehnte, wenn nicht Jahrhunderte zu tun hatten; im Netz spielen kontroverse Meinungen kaum mehr eine Rolle. Pegida beispielsweise ist am Ende nichts anderes als eine riesige Facebook-Party, angetrieben nicht durch besseres Wissen, sondern durch den im Internet geschürten Glauben: Wir sind die einzige Gemeinschaft der Wahrhaftigen.

2.Ich beobachte in vielen Verlagen eine zunehmende Entkopplung von Management und Produkt. Wir haben es mit irrsinnig guten Kaufleuten, mit Controllern, mit Buchhaltern zu tun. Leidenschaft für die Zeitung erlebe ich immer seltener – und schon gar nicht für ihre aufklärerische gesellschaftliche Bedeutung. Die Zeitung ist eben eine Ware, ein Wirtschaftsfaktor.

Im Management Leidenschaft für den Leser zu finden, ist eine schwierige Geschichte. Man muss sich fragen: Ist eindimensionales Effizienzdenken an die Stelle von verlegerischem Denken getreten?

Wo ist der Mut zu Neuem?, möchte ich fragen. Mut zu sparen gibt es überall.

3.Ich sehe auch eine Krise der Eigentümer. Das ist natürlich ein ganz rutschiges Parkett, auf dem ich mich bewege. Aber ich finde, darüber muss man reden.
Können nicht auch Gewinne zurückfließen? Das ist jetzt nicht Populismus, sondern hat mit Verantwortung für das Medium zu tun.

Teil 2 – die Provokation an die Adresse der Journalisten – folgt.

Thüringer Allgemeine, 16. Januar 2015

Vom Leben und Leiden in einer DDR-Redaktion: Eine Redakteurin erinnert sich (25 Jahre Thüringer Allgemeine)

Geschrieben am 14. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

Am 15. Januar 1990 erschien die erste unabhängige Tageszeitung in der DDR: Die Redaktion der Bezirkszeitung Das Volk in Erfurt warf die SED raus, ließ die Freiheit rein und gab der unabhängigen Zeitung einen neuen Titel – Thüringer Allgemeine. Zum Jubiläum lud die TA zu einem ganztägigen Symposium: Zu Beginn erzählten vier Redakteure über die Unfreiheit vor der Revolution, von den Revolutionstagen und den Wochen danach.

Angelika Reiser-Fischer ist heute Redakteurin der Lokalausgabe „Erfurt Land“; sie erzählte (leicht gekürzt):

Am Morgen des 13. Januar 1990 fand in der Kantine der Druckerei Fortschritt Erfurt jene denkwürdige Versammlung statt, bei der sich die Redaktion der Zeitung Das Volk für parteiunabhängig erklärte. Hitzige Diskussionen hatten in den Wochen zuvor in der Redaktion stattgefunden.

Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich an jenem Morgen in das Zeitungshaus unterwegs war. Im Trabant, ohne Winterreifen, über von Reif glitzernden Straßen.
Ich war pünktlich. Und ich hatte keine Ahnung, wie die Sache ausgehen würde. Ich wusste aber: So ging es nicht weiter. Man überlegt in solchen Umbrüchen wohl immer: Wann hat es angefangen? Was waren die Zeichen? Was haben sie mit mir gemacht?

Ja, ich war in der SED. Ohne Zwang bin ich als Volontärin eingetreten. Ich wollte Journalistin werden – weil ich neugierig war, weil mich das Bunte und Spannende interessierte; weil ich meinte, als Journalistin der Wahrheit zumindest nahe zu kommen; weil man da die Dinge selbst erleben, hinterfragen, begutachten, auch beurteilen könnte. Und das wollte ich bei einer großen Zeitung lernen. Die allerdings waren Mitte der 1970er Jahre alle in der Hand der SED. Meine Vorstellungen waren ziemlich naiv. Zunächst beim Journalistik-Studium in Leipzig: Schockiert erlebte ich ein Partei-Verfahren gegen einen Wissenschaftler. Er hatte aus einem Urlaub in Ungarn ein Buch mit in die DDR gebracht: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“, von Wolfgang Leonhard. Ich konnte nicht fassen, was sich vor meinen Augen abspielte: demütigende Verhöre vor den Studenten im 2. Studienjahr, das Durchdrücken einer Abstimmung, Drohungen an uns junge Leute und anschließender Rauswurf des Wissenschaftlers.

Aber ich wollte Journalistin werden. Wenn ich nur erst in der Redaktion wäre, dachte ich, da würde bestimmt alles besser.

1978 begann ich in der Redaktion Das Volk, und lernte die Spielregeln, hatte bald die Schere im Kopf, fragte Dinge erst gar nicht, überhörte Bemerkungen.
Meine Gesprächspartner wussten meist auch selbst, dass ich manches gar nicht schreiben würde: fehlendes Gemüse, verbotene Bücher, nicht genehmigte Westreisen. In der sozialistischen Presse hatte so etwas nichts zu suchen. Es waren peinliche Momente. In der Redaktion drechselte ich an meinen Sätzen. Und glaube noch immer, dass jeder mitreden durfte, auch wenn es bald Ansagen gab, dass manche Wörter oder Formulierungen nicht verwendet werden durften; „Umgestaltung“ war ab Mitte der 1980er Jahre so ein verbotenes Wort.

Wenn manche heute meinen, sie hätten Widerstand geleistet – ich nicht. Um anzuecken, war dies auch gar nötig. Eines Tages kam ein Leserbrief in die Redaktion über eine rollende Fleischerei, in der die Leute Schnitzel und Wurst kaufen konnten. Plötzlich blieb es weg. Warum?, wollte jemand wissen. Ich ging der Sache nach, fragte, und es hieß, da sei etwas kaputt, das Auto sei zur Reparatur, es fehle ein Ersatzteil. Das schrieb ich auf. Ich hielt das für einen völlig normalen journalistischen Vorgang. Der Beitrag wurde aus der Zeitung kurz vor dem Andruck entfernt. Ich bekam Ärger und eine Verwarnung.

Im Sommer 1983 erschien ein Artikel aus der Feder meines Kollegen Heinz aus dem Kulturressort. Es ging, eigentlich völlig harmlos, um ein Erfurter Ehepaar, das als Dauercamper am Stausee Hohenfelden lebte. Was weder in dem Artikel stand noch dem Autor bekannt war: das Ehepaar hatte einen Ausreiseantrag gestellt.Dem Kollegen wurde unterstellt, bewusst dem Klassenfeind Raum in der Parteizeitung gegeben zu haben. Zunächst wurden alle Redakteure angewiesen, niemanden in der Zeitung mit Namen zu nennen oder im Foto zu zeigen, von dem nicht klar war, dass er keinen Ausreiseantrag gestellt hatte. Ein Akt des Misstrauens gegen jedermann. Und für eine Tageszeitung ein unsägliches Verfahren.

Gegen Heinz wurde nun ein Parteiverfahren angestrengt. Artikel von ihm durften nicht mehr erscheinen. Wie sollte ich mich verhalten? Diskussionen unter den Kollegen waren schwierig. Mit wem konnte man offen reden? Wie würden sich die anderen in einer Abstimmung verhalten? Und wenn sie einer Bestrafung zustimmen würden, dann aus Überzeugung – oder um die eigene Haut zu retten? Angst und Zweifel bestimmten die Tage in der Redaktion. Die Parteileitung ließ keinen Zweifel: Wer dem Rauswurf von Heinz widerspricht, fliegt auch. Das Urteil gegen ihn stand eh fest. Klar war: Hier sollte ein Exempel statuiert werden.

Die außerordentliche Parteiversammlung im September 1983 war eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte dieser Zeitung. Mir völlig unbekannte Leute saßen in der Versammlung und zitierten plötzlich aus einem Brief, den Heinz an seine Schwester in den Westen geschrieben haben sollte. Ich war wie versteinert. Wie kamen sie überhaupt zu dieser Post? Eine einzige Kollegin hob nicht die Hand, als es um den Rauswurf von Heinz ging. Ich war das nicht, auch ich hob die Hand. Und auch diese Kollegin soll im Nachhinein ihre Gegenstimme, ihren Widerstand zurück genommen haben. Heinz musste die Redaktion danach sofort verlassen.

Es war nur ein paar Monate später. Eines Abends klingelte es an meiner Wohnungstür. Davor stand der stellvertretende Chefredakteur Heiner Oette. „Bis du allein in der Wohnung?“, fragte er mich. Ich nickte, bat ihn herein. Ich war in diesen Tagen allein in der Lokalredaktion gewesen und hatte über einen neuen Kosmetiksalon berichtet. Eine schöne lokale Geschichte, dachte ich, die ich sofort mit einem Foto einrückte. Was mir der Vize-Chef an jenem Abend mitzuteilen hatte: Auch jene Kosmetikerin hatte einen Ausreiseantrag gestellt. Das hatte ich nicht gewusst, nicht vermutet und – nicht prüfen lassen. Ich wusste, was mir bevorstehen würde.

Als ich am nächsten Morgen die Redaktion betrat, kam ich nicht mal bis zu meinem Schreibtisch. Ich wurde auf der Treppe abgefangen und musste mit zur SED-Kreisleitung. Dort saß ich dann stundenlang auf dem Gang, wurde immer wieder verhört und befragt und zu Stellungnahmen aufgefordert: Warum habe ich diesen Beitrag geschrieben? Wer hat gesagt, dass ich diese Frau interviewen und fotografieren sollte? Wer wusste, dass ich darüber schreiben würde? Wer hat den Artikel vorher gelesen? Nach zwei Tagen durfte ich wieder in die Redaktion. Aber: Auch ich bekam ein Verfahren. Auch gegen mich waren sich alle einig. Dabei: Ich war kein Widerstandskämpfer. Es war einfach eine Panne, die offenbar auf einen schwachen Klassenstandpunkt schließen ließ.Ich kam mit einer Parteistrafe davon. Es wurde mir wohl zugute gehalten, dass zufälligerweise niemand im Umkreis dieser Frau von ihrem Ausreiseantrag wusste.

Am 23. Oktober 1989 wurde in der Redaktionskonferenz angekündigt, dass nun nach Leipzig, Dresden und anderen Orten auch in Erfurt demonstriert würde. Was macht die Redaktion? Schweigen am Tisch. „Ich gehe da hin“, habe ich heraus geplatzt. Das wollte ich sehen, hören. Und davon wollte ich etwas für die Zeitung schreiben, zusammen mit meiner Kollegin Esther Goldberg. Wir waren uns einig. Ich fuhr zunächst nach Hause (Telefon hatte ich nicht). Dort saß mein neunjähriger Sohn über den Hausaufgaben. Ich erklärte ihm, dass es heute später werden würde. Für den Fall, dass ich bis 21 Uhr nicht zu Hause wäre, sollte er zu seiner Oma gehen. Falls mir etwas zustoßen würde, ich vielleicht verhaftet oder verletzt wäre, wollte ich verhindern, dass er – allein zu Hause – ahnungslos die Tür aufmachte. Womöglich dem Jugendamt.

Nach den Friedensgebeten in den Kirchen der Stadt strömten die Massen zum Domplatz. Dort verabredete man sich für Samstag zum „Dialog“ in der Thüringenhalle. Anschließend führte der Zug durch die Innenstadt von Erfurt. Auch vor das Zeitungshochhaus. Das lag im Dunkeln. Alle Lichter waren gelöscht. Aufgeregte, hitzige junge Leute stürmten die Treppe hoch zur Eingangstür. Vertreter vom „Neuen Forum“ und den Kirchen griffen ein, beruhigten. „Schreibt die Wahrheit“, riefen die Demonstranten immer wieder. Das wollte ich gern tun. Als Esther und ich zur Redaktion kamen, riefen wir glücklich und aufgekratzt: „Wir sind das Volk“ und „Wir sind vom Volk“ – beides stimmte ja. Uns wurde ein Platz auf Seite 2 zugewiesen. Nicht sehr groß, aber immerhin. Wir wollten nun schreiben, was wirklich geschehen war. Und lieferten unser Manuskript ab. Warteten dann, wie das Urteil des Chefredakteurs ausfiel. Wir warteten. Und warteten. Irgendwann kam jemand an uns vorbei: Geht heim, sagte er, und dass Werner Hermann, der damalige Chefredakteur, seit Stunden mit der SED-Bezirksleitung telefoniere. Ausgang: unklar.

Am nächsten Morgen konnte ich es kaum erwarten, die Zeitung in der Hand zu halten. Ich schlug auf, Seite 2? Wo war unser Bericht? War er unverändert?
Er war – gar nicht. Er war nicht gedruckt worden. Dafür erschien an diesem Platz, der unserer sein sollte, ein Pamphlet mit der Überschrift: Offizielle Mitteilung. Da war die Rede von einer „propagierten Aktivität“, von „Losungen mit demagogischem Inhalt“, von einer „nicht genehmigten Demonstration“. Ich war fassungslos, wütend. Wollte den Hergang erfahren. Der Chefredakteur erklärte zerknirscht, dass die Überschrift „Offizielle Mitteilung“ das Äußerste war, wodurch sich die Redaktion von dem Text distanzieren konnte. Auch unter Lesern brach ein Sturm der Entrüstung los.

Zwei Tage später fand in der Thüringenhalle der auf dem Domplatz verabredete „Dialog“ statt. Während sich vor der Halle Hunderte drängten, hieß es an den Türen: Alles besetzt. Die Hälfte der Halle war reserviert, für Funktionäre und Studenten der Parteischule. Die Debatte wurde mit Mikrofonen nach draußen übertragen.
Trotzdem drängten sich stundenlang die Leute an den Mikrofonen im Saal, verlangten von Partei und Regierung, teils aufgebracht, Rechenschaft. Und die Leute wollten auch wissen, wer für die „Offizielle Mitteilung“ in der Zeitung verantwortlich sei, sie verfasst hätte. Der stellvertretende Chefredakteur Hartmut Peters stand auf und sagte, dass die Redaktion diesen Text nicht geschrieben hatte und nur unter Zwang den Text eingerückt hätte. Damit war dann aber auch sein Abgang besiegelt.

In den folgenden Tagen und Wochen brach in der Redaktion immer heftiger eine Debatte los, ob und wie der Schritt zur Unabhängigkeit gegangen werde sollte. Etwa ein Viertel der Kollegen sagten auch klar, dass sie diesen nicht mitgehen wollten und in solch einem Fall die Redaktion verlassen würden. Was dann auch geschah.

An jenem 13. Januar wurde der Schritt vollzogen. Mit allen Unwägbarkeiten. Unser Kapital waren allein die Leser der Zeitung und ihr Vertrauen und unsere Verwurzelung in Thüringen. Die Zeitung erhielt einen neuen Namen Thüringer Allgemeine. Ich habe in den darauf folgenden Monaten und Jahren endlich über vieles schreiben können, wovon ich zuvor nur hätte träumen können: Über die ersten freien Wahlen im Frühjahr 1990, die Öffnung des Rennsteiges nach Bayern, die Einführung der D-Mark, die Wiedergründung des Landes Thüringen und den ersten Thüringer Landtag und vieles mehr.

Es waren für mich gute Jahre.

Thüringer Allgemeine, 16. Januar 2014 (gekürzte Fassung in der Extra-Ausgabe).
Weitere Reden und Debatten aus dem Symposium folgen in diesem Blog.

Charlie und „Satire im Kreuzfeuer“: Erfurter Kabarettist Ulf Annel über Tucholskys Aufsatz

Geschrieben am 10. Januar 2015 von Paul-Josef Raue.

„Satire darf alles. Gewissermaßen ist es der Luxemburg-Satz von der Freiheit, die immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist. Aber denken muss man schon.“ In einem Gastbeitrag der Thüringer Allgemeine schreibt der Erfurter Kabarettist Ulf Annel über Kurt Tucholskys Aufsatz und Menschen mit Haltung:

Kurt Tucholskys Geburtstag jährte sich gestern zum 125. Mal. Das allgemeine (Des)Interesse am Pazifisten und Antifaschisten Tucholsky und die aktuellen Ereignisse in Frankreich ließen den Ehrentag medial klein, machten aber ein Zitat riesengroß: „Was darf die Satire? Alles.“ Ein Fragesatz, eine Antwort, Punkt.

Aber dieses Zitat ist nur das Ende eines längeren Artikels, den Tucholsky im Januar 1919 für das „Berliner Tageblatt“ schrieb. Ein großer Krieg war vorbei, nicht jedoch der Kampf um die Deutungshoheit, was dieser Krieg für Deutschland war und was man für die Zukunft daraus lernen könne.

Wirklich neu war allerdings, dass die Zensur aufgehoben war und man nun gegen diesen Krieg, seine Verursacher und Profiteure anschreiben konnte. Man lese den ganzen Artikel. Es geht darin nicht nur um den Krieg allein, es geht vor allem um die Befreiung des Denkens, um Aufklärung, um das Recht, alles, aber auch wirklich alles sagen zu dürfen. Aber dieses Recht schließt ein, dass man ein Mensch – gibt es ein genaueres Wort, als das so oft missbrauchte? – mit einem Standpunkt sein muss. „Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier“, schrieb Tucholsky, „nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den.“

Satire darf alles. Gewissermaßen ist es der Luxemburg-Satz von der Freiheit, die immer auch die Freiheit des Andersdenkenden ist. Aber denken muss man schon. Insofern bedeutet „Alles“ eben nicht alles. Der Satz ist gleichsam wahrhaftig, aber auch satirisch überspitzt. Oder will man allen Ernstes behaupten, Satire dürfe und würde ernsthaft zu Mord, Totschlag, zu Intoleranz und Rassismus, zu Lug und Betrug aufrufen?

Aber nichts und niemand darf für sich in Anspruch nehmen, Satire dürfe sich nicht mit ihm und seinem Tun und Denken beschäftigen. In diesem Sinne gibt es kein Tabu. Keines!

Wenn auch das die Satire beschreibende Wortmaterial nicht ohne Waffen auskommt – wie oft wurde das feine Florett beschworen, mit dem Dieter Hildebrandt umgegangen sein soll -, so ist es doch nur ein Wortbild. Nie sah ich Hildebrandt mit umgeschnallter Hieb- oder Stichwaffe. Aber seine Hiebe und Stiche saßen. Der Grund ist ganz einfach: Er hatte eine Haltung. In seinem Kopf gab es immer diesen Widerspruch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit, zwischen Ideal und Realität. Er nahm die Fakten und kommentierte kabarettistisch. Hildebrandt wusste genau, dass dabei immer der Zeigefinger des lehrhaften Aufklärers nach oben zuckte. Nie war es ihm genug, was die Medien an Fakten und Zusammenhängen brachten, vor allem vermisste er immer wieder die Fragen: Warum? Und: Wem nützt es? Bei der Beantwortung dieser Fragen nahm er kein Blatt vor den Mund. Alles wurde gesagt. Erinnert man sich heute noch daran, dass seine Sendung einmal von Bayern ausgeschaltet wurde? Ausgeschaltet. Was für ein Wort, gibt man es Mördern in den Mund. Satiriker sind keine Mörder. Satiriker sterben, wenn Mörder sie mundtot machen wollen.

Und nun? Noch ein Zitat. Bertolt Brecht: „Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse“. Diesen Satz hat er der Hauptfigur seines Theater-Stückes „Leben des Galilei“ in den Mund gelegt. In der Realität wurde Galileo Galilei von Religionsvertretern mit dem Tode bedroht.

Thüringer Allgemeine 10. Januar 2015

***

Was darf Satire?

Auszüge aus dem Artikel Kurt Tucholskys für das Berliner Tageblatt vom 27. Januar 1919

Wenn einer bei uns einen guten politischen Witz macht, dann sitzt halb Deutschland auf dem Sofa und nimmt übel.

Satire scheint eine durchaus negative Sache. Sie sagt: „Nein!“ Eine Satire, die zur Zeichnung einer Kriegsanleihe auffordert, ist keine. Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.

Satire ist eine durchaus positive Sache. Nirgends verrät sich der Charakterlose schneller als hier, nirgends zeigt sich fixer, was ein gewissenloser Hanswurst ist, einer, der heute den angreift und morgen den. (…)

Übertreibt die Satire? Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.

Aber nun sitzt zutiefst im Deutschen die leidige Angewohnheit, nicht in Individuen, sondern in Ständen, in Korporationen zu denken und aufzutreten, und wehe, wenn du einer dieser zu nahe trittst. Warum sind unsere Witzblätter, unsere Lustspiele, unsere Komödien und unsere Filme so mager? Weil keiner wagt, dem dicken Kraken an den Leib zu gehen, der das ganze Land bedrückt und dahockt: fett, faul und lebenstötend. (…)

Der deutsche Satiriker tanzt zwischen Berufsständen, Klassen, Konfessionen und Lokaleinrichtungen einen ständigen Eiertanz. Das ist gewiß recht graziös, aber auf die Dauer etwas ermüdend. Die echte Satire ist blutreinigend: und wer gesundes Blut hat, der hat auch einen reinen Teint.

Was darf die Satire?

Alles.

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