Alle Artikel der Rubrik "Friedhof der Wörter"

Wo ist die Mitte Deutschlands? – Friedhof der Wörter

Geschrieben am 26. März 2012 von Paul-Josef Raue.
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Wenn es um das Territorium der ehemaligen DDR geht, liest man „Mitteldeutschland“ als auch „Ostdeutschland“; so schreibt ein Leser, der Sophienhofer Bürgermeister Wolfgang Jörgens. Er fragt: „Warum diese unterschiedliche Bezeichnung?“

Ein Blick auf die europäische Landkarte zeigt: Ostdeutschland ist der korrekte Begriff; östlich von Ostdeutschland gibt es kein Gebiet, das zur Bundesrepublik Deutschland zählt. „Mitteldeutschland“ unterstellt, dass es immer noch deutsche Gebiete östlich von Oder und Neiße gibt. Die Ostgebiete wie Schlesien oder Ostpreußen gehörten zwar vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges zu Deutschland, aber seit der Wiedervereinigung gehören sie endgültig und völkerrechtlich bindend zu Polen oder Russland.

In den Jahrzehnten nach dem Krieg akzeptierten nahezu alle Parteien im Westen weder die Spaltung Deutschlands noch den Verlust der Ostgebiete. Erst der „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ schrieb die Oder-Neiße-Grenze als deutsche Ostgrenze fest. Die Einheit Deutschlands ist vollendet, so ist es seit September 1990 unserem Grundgesetz zu entnehmen.

Wer also von „Mitteldeutschland“ spricht, kämpft noch einen Kampf, der seit zwei Jahrzehnten beendet ist. Das Wort sollten wir friedlich begraben – auch wenn viele Vertriebene der Verlust der alten Heimat immer noch schmerzt.

Sprachliche Blähungen – Friedhof der Wörter

Geschrieben am 20. März 2012 von Paul-Josef Raue.
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„Immer wieder liest man davon, dass etwa ,käuflich erworben‘ werden kann. Es stellt sich die Frage: Wie sonst sollte man etwas erwerben?“, schreibt Mathias Daniel aus Nordhausen.

Geld ist nicht alles, auch wenn man in Zeiten der Finanzkrise so denken kann. Man erwirbt das Vertrauen seiner Freunde, das geht in der Regel ohne Geld. Man erwirbt einen Doktor-Titel, und auch das geht in der Regel ohne Geld. Man erwirbt Wissen, und das gelingt Schülern allein durch Fleiß, Konzentration und Geduld.

„Erwerben“ bedeutet nicht immer „kaufen“. Doch „käuflich erwerben“ bedeutet schlicht „kaufen“, es ist ein unsinniges Blähwort. „Käuflich erwerben“ hat fünf Silben; „kaufen“ kommt mit zwei Silben aus.

Warum blähen wir solch kurze, sinnliche Wörter wie „kaufen“? Warum schreiben wir vom „allgemeinen Umgangssprachgebrauch“, wenn wir einfach „Sprache“ meinen? Was stellen wir uns unter einem „detaillierten Meinungsaustausch“ vor – wenn wir ihn kurz und treffend „Gespräch“ nennen könnten?

Blähungen sind unangenehm und verpesten die Luft. Wir sollten sie vermeiden.

(Thüringer Allgemeine vom 19. März 2012)

(zu: Handbuch-Kapitel 16 „Lexikon unbrauchbarer Wörter“)

Schluss mit der „Quote“! – Friedhof der Wörter

Geschrieben am 12. März 2012 von Paul-Josef Raue.
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Wenn eine Frau, klug und zielstrebig, Karriere macht, sagt bestimmt einer: „Das ist die Quotenfrau“. So macht er sie klein; er will sagen: Nicht Leistung ist entscheidend für die Karriere, sondern das weibliche Gen.

Wer von der Quote spricht, der ist sich sicher: Es gibt schwache Menschen, die Hilfe brauchen. Frauen, in diesem Fall, werden als hilfsbedürftig angesehen wie Behinderte oder Einwanderer.

Die „Quote“, erniedrigt, beleidigt ¬ das Wort wohlgemerkt, nicht die politische Absicht. Sie gehört beerdigt, die „Quote“, wenn das Wort gekoppelt wird mit einer Menschengruppe wie Frauen oder Ostdeutsche („Quoten-Ossi“) oder Schwarze.

Der „Quoten-Schwarze“ tauchte beim Merkel-Dialog in Erfurt auf. Die Sonntagszeitung der „Frankfurter Allgemeine“ schrieb über die Teilnehmer im Kaisersaal: „Es gab einen Quotenschwarzen, eine Asiatin und zwei Kopftuchfrauen. Und viele Thüringer natürlich.“

Was wollte der Journalist sagen: „Der Quotenschwarze“ gehörte nicht in die Runde, weil in Thüringen kaum Ausländer leben; er ist auch kein Thüringer, weil ein Schwarzer nicht zu den „vielen Thüringern“ gehört.

So entehrend kann Sprache sein: Mit ein paar Wörtern werden Schwarze, Ausländer und Thüringer beleidigt und die Kanzlerin dazu, weil sie solche Leute eingeladen hat.
Also begraben wir die „Quote“ – und das Denken, das dahinter steckt, gleich mit.

(zu: Handbuch-Kapitel 11-16  „Schreiben und Redigieren“

„Nachvollziehen“ auf dem Friedhof der Wörter

Geschrieben am 5. März 2012 von Paul-Josef Raue.

Wie muss man sich die „nachvollziehbare Möglichkeit eines Beischlafs“ vorstellen? So stand es in einem Zeitungsbericht über eine Gerichtsverhandlung; der TA-Leser Heinz-Ulrich Görwitz aus Berka hat es ihn entdeckt.Er schreibt: „Kommt man da nicht auf den Gedanken, dass die Herren Rechtsgelehrten diesen besagten Beischlaf genüsslich virtuell nachvollzogen haben?“

„Nachvollziehen“ ist für den 89-jährigen Leser ein Unwort, zu begraben auf dem „Friedhof der Wörter“. Dort gehört es hin, in der Tat. Doch wir kommen an dem Wort in seiner eigentlichen Bedeutung nicht vorbei.

Gerade Richter müssten es wissen: Sie kennen den Vollzug als Kurzform für den Strafvollzug; der Vollzugsbeamte erscheint regelmäßig in den Gerichtssälen; sie erwarten eine Vollzugsmeldung, um zu erfahren, dass etwas, was sie angeordnet haben, auch wirklich „vollzogen“ wurde.

„Vollziehen“ bedeutet schlicht: machen. Der große sechsbändige Duden übersetzt es: „etwas verwirklichen, in die Tat umsetzen, ausführen“. So führt beispielsweise der Gerichtsvollzieher aus, was ein Richter angeordnet hat.

Nachvollziehen ist eine unsinnige Erweiterung von „vollziehen“ und kann nichts anderes bedeuten als: nachmachen, etwas kopieren. Das Modewort „nachvollziehen“ hat die Bedeutung ins Undeutliche verschoben und meint: nachempfinden, nachfühlen, einsehen, verstehen, kapieren, sich klar machen.“

„Ich kann das Attentat nicht nachvollziehen“, sagt ein Politiker. Wir hätten es ihm auch nicht zugetraut.

(Diese Kolumne erscheint, leicht verändert, in der Thüringer Allgemeinen vom 5. März 2012)

(Zu: Handbuch-Kapitel 16  „Lexikon unbrauchbarer Wörter“.)

 

„Schweinejournalismus“

Geschrieben am 28. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

So nannte Jürgen Trittin den Vorwurf der „taz“ über Joachim Gauck, er habe den Holocaust verharmlost – zu sehen in Maybrit Illners Talkshow am 23. Februar. Das Wort prägte wohl Oskar Lafontaine. 1995 schrieb Hans-Werner Kilz, einst Chefredakteur von  „§piegel“ und „Süddeutscher Zeitung, im immer noch empfehlenswerten „Spiegel Spezial“ über Journalisten:

„Lafontaine und andere Mitglieder der saarländischen Landesregierung gerieten in Verdacht, sich zu eng mit Saarbrücker Kiez-Größen eingelassen zu haben. Diesem Umstand verdankt die Öffentlichkeit eine Lafontaine-Wortschöpfung, die das Berufsfeld der Medienschaffenden um eine neue Gattung bereichert – den „Schweinejournalismus“. Falsches stand nicht in den Blättern, nur Unangenehmes.

Doch seitdem denkt der Sozialdemokrat darüber nach, was er als Politiker gegen verwilderte Sitten im Journalismus tun kann, jedenfalls dort, wo er bestimmen kann. Und natürlich ist ihm etwas eingefallen: Das Saarland hat seit einigen Monaten ein neues, schärferes Pressegesetz, von dem der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Ernst Benda, sagt, daß damit „an der Freiheit der Presse genagt“ werden soll.

Nun muß nicht alles, was dazu gedacht ist, böse Journalisten zu zügeln, gleich als Attentat auf die Pressefreiheit empfunden werden. Auch Journalisten sündigen. Doch wenn Oskar Lafontaine überlegt, „wie der investigative Journalismus in seine ethischen Schranken zurückverwiesen werden kann“, ist Vorsicht geboten. Da fühlen sich Rechercheure und Autoren bei anderen besser aufgehoben.

Geht es nach dem Saarländer, werden Zeitungen künftig nach politischen Enthüllungen maßlos lange Gegendarstellungen drucken müssen, die sowieso schon ohne Rücksicht auf den Wahrheitsgehalt abgefaßt werden können. Ein erläuternder Zusatz der Redaktion ist an gleicher Stelle nicht erlaubt.“

Dies  saarländische Pressegesetz wurde vom Bundesverfassungsgericht kassiert.

Von der Westbank gibt’s kein Geld – Friedhof der Wörter

Geschrieben am 27. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Mexico City.
„Gebrauchsanweisung für Mexiko-City“ titelte eine überregionale Zeitung. Warum „Mexikon-City“? Eine spanischsprachige Stadt können wir spanisch oder deutsch benennen – aber warum englisch? Spanisch,amtlich: Ciudad de México. Deutsch: Mexiko-Stadt, die Stadt Mexiko, oder einfach: Mexiko, denn nur selten bleibt unklar, ob man Stadt oder Land meint.

Mittlerer Osten
ist ein Anglizismus für „Naher Osten“. Für Engländer ist „Near East“ der Balkan und die Türkei; also müssen sie denjenigen Osten, der für uns noch nah ist, bereits als „Middle East“ bezeichnen.

Skandinavien.
„Das Erfolgsgeheimnis der skandinavischen Staaten“, überschrieb „Focus“ einen Artikel im vergangenen Jahr, „Was Schweden, Norwegen und Finnland richtig machen.“ Verwirrender geht es nicht. Denn Skandinavien heißt:
1. geographisch: Norwegen und Schweden,
2. bei den «Scandinavian Airlines»: dazu Dänemark (Sitz der SAS ist Kopenhagen),
3. für die Schweden (aus historischen Gründen): auch Finnland,
4. für Dänen und Norweger (aus historischen Gründen): auch Island.
Man muss also entweder die Länder, die man meint, aufzählen oder von den „nordischen Staaten“ sprechen, wenn man alle meint.

Westbank ist einer der schamlosesten Anglizismen. Sie ist weder ein Kreditinstitut noch eine Sitzgelegenheit, sondern die Nicht-Übersetzung von Westufer, zumal des Jordans, daher «Westbänk» gesprochen. Es gibt nicht nur im Westjordanland ein westliches Ufer, sondern auch am Nil und jedem anderen Fluss, also Westbanks ohne Ende.

(zu: Handbuch, Kapitel 16 “ „Lexikon der unbrauchbaren Wörter“)

 

Früh? Oder zeitig? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 20. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Zum dritten Mal begraben wir die wirklichen Unwörter, also unbrauchbare, missglückte, abgenutzte und aufgeblähte, die wir dennoch immer wieder hören und lesen:

Eigeninitiative
„Kleine und mittlere Unternehmen schätzen Eigeninitiative bei ihren Mitarbeitern“, schreibt eine Zeitung in ihrem „Karriere“-Teil. Wer, wenn nicht der Mitarbeiter selber, sollte mit der Arbeit beginnen, für die er bezahlt wird?
Initiative ist dem lateinischen Wort „Initium“ entsprungen, und das bedeutet: Anfang. „Eigeninitiative“ ist also eine törichte Verdoppelung: Initiative heißt ja, dass einer den Anfang macht.

Frontlinie
Noch eine Verdoppelung! „Fotografen an der Frontlinie“ schrieb eine Zeitung im September über eine Ausstellungs-Rezension. Im Französischen, das uns die „Front“ auslieh, bedeutet es: „Die erste Reihe“. Die Front ist also eine Linie.

Frühzeitig
Und noch eine geschwätzige Verdoppelung! „Kapitän verließ frühzeitig das sinkende Schiff“, titelte eine Boulevardzeitung, als sie über Francesco Schettino schrieb nach der Kollision der „Costa Concordia“ mit einem Felsen.
Wann hatte nun der Kapitän das Schiff verlassen? Früh? Oder zeitig? Beides zusammen ist Unsinn. Was wollte der Redakteur sagen? Zu früh hat der Kapitän das Schiff verlassen – eben bevor alle Passagiere in den Rettungsbooten saßen. (Thüringer Allgemeine, 20. Februar 2012, Kolumne „Friedhof der Wörter“)

(zu: Handbuch Kapitel 16 „Lexikon unbrauchbarer Wörter“)

Hingebung, Demut, Dienen (Noske-Interview 2)

Geschrieben am 15. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Die Organisation eines Klosters und einer Redaktion sowie Fehler und ihr Management: Das sind die Themen im zweiten Teil des Interviews, das Paul-Josef Raue mit Henning Noske  über dessen Buch „Journalismus“ führte.

Raue: Sie sind zum Schreiben des Buchs ins Kloster gegangen. Kann man nur ohne Handy und I-Pad noch konzentriert arbeiten?

Noske: Das Kloster war ein Fehlschlag, wie Sie ja lesen konnten. Ich habe nicht ansatzweise das Pensum geschafft, das ich mir vorgenommen hatte. Um mich herum hatte ich zwar keinerlei Medien, sogar das Massaker auf der Insel Utoya in Norwegen habe ich zunächst nicht mitbekommen. Ich erfuhr davon erst zwei Tage später um 6 Uhr früh in der Predigt. So muss es wohl früher gewesen sein.

Das Kloster und die gestrandeten Menschen dort – das war für mich alles viel zu spannend, um es für meine konzentrierte Arbeit an dem Buch, die ich mir eigentlich vorgenommen hatte, zu ignorieren. Ich bin am Mittagstisch sitzengeblieben, um mit den spannenden Leuten zu reden. Im Buch kann man nachlesen, warum das so wichtig ist. Ich habe es dann zuhause im Urlaub fertiggeschrieben, auf Kosten meiner Frau.

Raue: Sie nennen die Organisation eines Klosters ein zwei Jahrtausende altes Psycho-Programm. Wenn es sich so bewährt hat: Was können Redaktionen von den Mönchen lernen?

Noske: Konzentration auf das Wesentliche, Hingebung, Demut, Dienen. Natürlich kann man eine Redaktion nicht wie ein Kloster organisieren – und niemand hätte Verständnis dafür. Die Kunst ist es heute, die Hingabe an die eigene Profession mit dem Spaß und dem Erfolg zu verbinden. Insofern ist mir das Kloster schlicht zu weltabgewandt, in jeder Beziehung.

Die Redaktion ist im Idealfall ein Tummelplatz von gesprächigen Menschenfreunden, die aus sich herausgehen und nicht nach innen gekehrt sind. Mein Glaube ist, dass nichts gewiss ist. Das sehen die Mönche natürlich ein bisschen anders.

Raue: Was ist Ihr Lieblings-Kapitel im Buch? Ihr Lieblings-Zitat?

Noske: Das ist immer dort, wo ich mich mit Egon Erwin Kisch beschäftige. Und das ist gleich an etlichen Stellen der Fall, wenn es um Details und Erzählkunst geht. Das hat mir am meisten Spaß gemacht. Und mich aber leider auch wieder am meisten Zeit gekostet: Ich habe mich in meine Kisch-Gesamtausgabe aus dem Aufbau-Verlag, noch zu DDR-Zeiten mit Ostmark aus dem Zwangsumtausch erstanden, vergraben und immer wieder festgelesen. Dieser Mann schreibt uns auch heute noch alle an die Wand! Er hat so viel Spaß am Schreiben und Erzählen, er spielt mit Lust damit und mit seinem Leser, den er liebt, hofiert, umgarnt, fordert und fesselt – und man liest es! Ich hätte Lust, ein „Best of Kisch“ zu schreiben.

Und mein Lieblings-Zitat? Da beschäftige ich mich mit Wolf Schneider und seinem legendären Spruch: Qualität kommt von Qual. Ich sage dazu: Nein, verehrter Meister, hier irren Sie. „Qualität kommt von Spaß! Weil ich sage: Wer keinen Spaß hat, braucht sich auch nicht zu quälen. Er wird ohnehin niemals Erfolg haben.“ (Journalismus – Was man wissen und können muss, Seite 84).

Raue: Sie kommen aus dem Wissenschafts-Journalismus, haben dort viele Preise gewonnen und sind an der Braunschweiger Universität bekannter als der Präsident. Was haben Sie für den Journalismus von Wissenschaftlern gelernt, vor allem von Naturwissenschaftlern und anderen, die mit unserem Gewerbe nichts zu schaffen haben?

Noske: Natürlich bin ich dort nicht bekannter als der Präsident – und ich möchte es auch nicht sein. Aber von den Wissenschaftlern habe ich viel gelernt, übrigens gerade von den Naturwissenschaftlern. Sie forschen mit der Attitüde des selbstlosen Rechercheurs – ein Befund reicht ihnen nicht, ein zweiter meistens auch nicht. Sie sind übrigens auch dann zufrieden, wenn sie rauskriegen, dass sie nicht Recht haben. Das ist auch ein Treffer.

Hier sehe ich die Grenze: Journalisten recherchieren, um ihre Geschichte rund- und nicht totzumachen. Wir kommen schneller auf den Punkt, übersetzen, schlussfolgern, schätzen, kommentieren. Damit tun sich die Forscher schwer. Mein Programm ist es, Teams mit ihnen zu bilden. Sie erklären mir die Wissenschaft, beispielsweise, wie die Naturstoffe von Bakterien entschlüsselt und zu Medikamenten umgebaut werden. Und ich zeige ihnen den Weg zu unserem Leser, für den er bislang immer nur chinesisch geredet hat.

Raue: Journalisten geben ungern Fehler zu. Sie schreiben 25 Seiten über das „Fehlermanagement“, sogar drei Kapitel über „Rechtschreib-Hauptfehler“ und bemühen die Hirnforschung. Warum so viele Mühe um unsere Fehler?

Noske: Weil wir zwar ungern Fehler zugeben, aber zu viele machen. Der Fehler ist ein alltägliches Phänomen, nicht nur beim Zeitungmachen. Die Technik, die wir lernen müssen, ist es, bei Qualitätsarbeit im Fehlervermeidungsmodus zu arbeiten. Wir arbeiten jedoch allzu oft in einer Art Fehlermodus: Er suggeriert uns, da würde immer noch einer kommen, der den Fehler schon noch findet und ihn eliminiert. Bloß, dass diese Heinzelmännchen ausgestorben sind.

Was bleibt, sind allzu viele Fehler – und ein Leser, der unsere Zuverlässigkeit liebt und an unseren Fehlern verzweifelt. Es gibt noch einen anderen wichtigen Punkt in diesem Zusammenhang: Fehler zermürben uns, sie durchlöchern unser Selbstbewusstsein. Fehler machen fertig, sind Sargsprossen zum Burnout. Das Verbergen von Fehlern und Defiziten, nicht das Korrigieren, frisst unglaublich Zeit und Energie, lähmt. Bei all dem sage ich: Mit offenem Visier gegen unsere Fehler, auch gemeinsam mit dem Leser, der gerade unsere Ehrlichkeit immer besonders schätzt und gern liest. Der Forscher würde sagen: Jeder Fehler bringt mich weiter.

Raue:  Bleiben wir bei den Fehlern. Das Foto auf dem Buchumschlag zeigt Ihre Zeitung mit einer Schlagzeile, die ein Fall fürs Fehlermanagement wäre: „Hebel aus der Krise“ ist ein schiefes Bild, eher geeignet für den „Hohlspiegel“, den Sie in Ihrer Literaturliste empfehlen. Ist das Titelbild ein Wink in die Redaktion, gefälligst Ihr Buch zu lesen?

Noske: Nein, ich habe das Bild in der Bahnhofsbuchhandlung selbst geschossen – aber auf die Schlagzeile dieses Tages nicht geachtet. Darauf machen Sie mich erst aufmerksam. Ich bewundere Ihren Instinkt, mit dem Sie bei den abgebildeten 45 nationalen und internationalen Blättern im Miniformat untrüglich die Schlagzeile Ihrer Lieblingszeitung entziffern können und sich offenbar immer noch auf eine kleine Rauferei in der Konferenz freuen.

Ich nehme mal die Lupe und lese die ganze Schlagzeile: „Merkel und Sarkozy suchen den Hebel aus der Krise.“ Der Hebel ist im Zusammenhang mit den Euro-Rettungsfonds ist ein blindes Bild, das keiner bislang so richtig begriffen hat. Wir werden die Schlagzeile aber vermutlich nicht im Hohlspiegel finden. Trotzdem sollten alle gefälligst mein Buch lesen. Das hebelt richtig.

*

Der dritte und abschließende Teil des Interviews folgt. Teil 1 – Teil 3.

Eine ausführliche Besprechung des Noske-Buchs hat Armin Maus, Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung, geschrieben: „Wie man guten Journalismus macht“ (BZ, 22. Dezember 2012)

Das Buch: Henning Noske, Journalismus – Was man wissen und können muss. Ein Lese- und Lernbuch. Klartext-Verlag, Essen, 234 Seiten, 17.95 Euro

Örtliche Aufheiterungen (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 13. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Zum zweiten Mal begraben wir die wirklichen Unwörter, also unbrauchbare, missglückte, abgenutzte und aufgeblähte, die wir dennoch immer wieder hören und lesen:

Abgesehen davon, dass

„Abgesehen davon, dass Griechenland, Irland und Spanien inzwischen bis an die Schmerzgrenze sparen: Die Märkte testen die Widerstandsfähigkeit der Europäer mit brutaler Konsequenz.“

Eine junge Chinesin, des Deutschen kundig, versteht diesen Satz nicht, den sie in einer Zeitung gelesen hat. Dabei ist der Satz leicht zu verstehen, wenn sich der Autor ein wenig Mühe gegeben hätte: Er streicht das „Abgesehen davon, dass“ und formuliert einfach zwei Hauptsätze und setzt zwischen ihnen einen Punkt oder, noch besser, ein Semikolon.
„Abgesehen davon, dass“ ist stets entweder eine Anmaßung („Von örtlichen Aufheiterungen abgesehen…“, sagt der Wetterbericht. Woher weiß er aber, dass ich gerade vom einzig Erfreulichen am Wetter abzusehen wünsche?) – oder eine Antinachricht: Alles, wovon der Leser absehen soll, sollte man schlüssigerweise weglassen.

Bereich

„Feuerwehr: Brandherd wohl im Bereich der Kinderzimmer“, lesen wir in der Zeitung nach dem Feuer in einem Aachener Haus, bei dem im Januar drei Kinder starben. Sprechen wir so? Nein, wir rufen zu: Der Brand ist in den Kinderzimmern ausgebrochen! Der „Bereich“ ist überflüssig, wird oft gebraucht, ist aber stets nutzlos.
„Der Wagen verunglückte im Kurvenbereich?“ Nein, in einer Kurve.

„Im innerschulischen Bereich nimmt die Gewalt zu.“ Nein, in der Schule nimmt die Gewalt zu. „Bereich“ ist ein Blähwort: Acht Silben für den abstrakten „innerschulischen Bereich“, vier für das bildhafte „in der Schule“. (Thüringer Allgemeine, 13. Februar 2012, Kolumne „Friedhof der Wörter“)

(zu: Handbuch Kapitel 16 „Lexikon unbrauchbarer Wörter“)

Geschwätzige Verdoppelung (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 6. Februar 2012 von Paul-Josef Raue.

Im Februar begraben wir die wirklichen Unwörter, also unbrauchbare, missglückte, abgenutzte und aufgeblähte, die wir dennoch immer wieder hören und lesen.

Missglücktes Attentat
„Missglücktes Attentat am Times Square: Autobomber handelte offenbar allein“ lautete die Schlagzeile einer Zeitung im Mai 2010. Für wen wäre es ein Glück gewesen, wenn das Attentat gelungen wäre? Nicht für über 99 Prozent der Zeitungsleser.
Ein Attentat kann misslingen, scheitern, verhindert werden; „missglücken“ kann nur etwas, bei dem das Glücken vom normalen Leser als Glück empfunden worden wäre.

Attentatsversuch
„Landeskriminalamt weiß doch von Attentatsversuch“, war im November in den Radionachrichten zu hören über einen Sprengsatz in Stadtroda, der 1997 misslungen war.
Das „Attentat“, seit 500 Jahren auch ein deutsches Wort, bedeutet: Der Versuch. „Adtemptatio“, lateinisch, war der Versuch, das Recht zu brechen. Seit dem 19. Jahrhundert haben wir im Deutschen die Bedeutung eingeschränkt: Das Attentat ist der Versuch, einen politischen Gegner zu töten.
Attentatsversuch ist also eine geschwätzige Verdoppelung von „Attentat“. Ein Mordanschlag kann scheitern; ein Attentat bleibt er doch.

_____ (Thüringer Allgemeine, 6. Februar 2012, Kolumne „Friedhof der Wörter“)

(zu: Handbuch Kapitel 16 „Lexikon unbrauchbarer Wörter“)

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