Karl Valentin, der Papst und die Frage „Wo ist der Fremde fremd?“ (Friedhof der Wörter)
Er ist ein Spielverderber, der den Menschen die Freude und das Lachen nicht gönnt. So schüttelten viele den Kopf, als der Papst seinen Rücktritt ausgerechnet am Rosenmontag erklärte. Oder hatte sich der alte Mann an einen Rosenmontag vor 65 Jahren erinnert?
Am Rosenmontag 1948, drei Jahre nach dem Krieg, starb Karl Valentin – ein Bayer, der Komiker war, Pessimist und ein Spieler mit der Sprache, wie es wenige in Deutschland gibt. Mit seinen Spielen brachte er zuerst die Menschen zum Lachen und dann zum Innehalten, wenn sie den doppelten Boden der Wörter sahen. Denn ein Wort ist meist mehr als ein Wort.
„Fremd ist der Fremde nur in der Fremde“, lässt Karl Valentin den Schüler Max sagen, als sich der Lehrer im Unterricht über die Fremden auslässt. Wörter können also ihren Sinn verändern, je nach Ort, Zeit, Situation. Ein Thüringer ist ein Fremder in der Türkei, ein Türke ist ein Fremder in Thüringen.
Aber diesen doppelten Boden des Wortes will der Lehrer gar nicht zeigen. „Es kann aber auch einem Einheimischen etwas fremd sein!“, sagt er.
„Die Fremden“ schrieb Karl Valentin 1940.
Als Karl Valentin am Aschermittwoch vor 65 Jahren in Planegg beerdigt wurde, machte sich ein Theologiestudent, 20 Jahre jung, vom nahen München auf den Weg und war dabei, als der Sarg in die gefrorene Erde gesenkt wurde. Es war der Student Joseph Ratzinger, der auch diesen Satz des Valentin gekannt haben mag:
„Mögen hätt’ ich schon wollen, aber dürfen hab ich mich nicht getraut.“
„Taschendiebinnen“, die Sprache und der Sexismus
Frage der Drehscheibe:
Gibt es in der Redaktion Regeln zum nicht-sexistischen Sprachgebrauch, zum Beispiel was männliche und weibliche Schreibweisen betrifft? Wenn ja, wie sehen diese Regeln aus?
Meine Antwort:
Die Debatte um das große I, um Diskriminierung in der Sprache, führen wir schon lange in der TA, zum Beispiel in der Kolumne „Friedhof der Wörter“. Im November begann die Kolumne so:
„Frauen sind die Benachteiligung leid, lehnen sich dagegen auf und erregen sich über die Sprache, die überwiegend männlich geprägt ist. Warum nur sind der Gott und der Mensch männlich?“
Zitiert wird dann aus einem Infobrief der Erfurter „Linke“: „Ein Parallelität zwischen grammatischem und natürlichem Geschlecht (Genus und Sexus) besteht nicht.“
Und die Kolumne endet: „Zudem ist unsere Sprache ungerecht auch zu den Männern: Warum ist die Brüderlichkeit weiblich und der Hampelmann männlich? Die Liebe weiblich und der Hass männlich? Der Verbrecher männlich, auch der Sündenbock und der Taschendieb – oder haben Sie schon einmal gelesen: Vor Taschendieben und Taschendiebinnen wird gewarnt?“
Es ist Unsinn, die Debatte um den „Sprachgebrauch“ in die „sexistische“ Ecke zu stellen. Das ist zu viel Ehre für Herrn Brüderle.
Wenn Gott promoviert (Friedhof der Wörter zur Schavan-Affäre)
Wer in die Geschichte der Wörter schaut, kommt aus dem Staunen nicht heraus. Nehmen wir ein Wort, das in der Schavan-Affäre die zentrale Rolle spielt: Promovieren.
Hat die Ministerin promoviert? Oder wurde sie promoviert?
Das ist nicht nur eine Frage für Fachleute, die transitive Verben untersuchen, sondern auch eine Frage der Moral:
- Hat die Ministerin promoviert, also selber den Doktor-Titel erlangt? Dann trägt sie allein die Verantwortung.
- Wurde sie promoviert? Dann ist die Verantwortung zumindest geteilt: Wer jemanden promoviert, muss prüfen, ob alles mit rechten Dingen zugegangen ist – Abschreiben inklusive.
„Promovieren“ taucht in der deutschen Sprache vor einem halben Jahrtausend auf und wird aus dem Lateinischen entlehnt, man dürfte auch sagen: abgeschrieben. In ihrem Wörterbuch erklären die Brüder Grimm: „Einen oder etwas weiter, vorwärts bringen, fördern, befördern.“
Das ist die ursprüngliche Bedeutung des Worts: Jemanden nach vorne bringen – also beispielsweise mit einem Doktortitel.
Die Förderer müssen keine Professoren sein, auch Gott kann förderlich sein. Diesen Satz fanden die Brüder Grimm bei Abraham a Santa Clara, einem berühmten Volksdichter im 17. Jahrhundert:
„Gott wird uns nicht verlassen, sondern unsere Waffen mit seinen göttlichen Segen promovieren.“
Wer historisch korrekt sein will, lässt also promovieren: Gott oder Professoren samt einer kompletten Fakultät. Unter solch mächtigen Instanzen erscheint ein armer Sünder oder eine arme Studentin doch eher klein.
Thüringer Allgemeine, geplant für 11. Februar 2013
Stalingrad, Goebbels, der Krieg und die Wörter (Friedhof der Wörter)
Vor siebzig Jahre endete im Kessel von Stalingrad die wahrscheinlich blutigste Schlacht der Geschichte. Propaganda-Minister Joseph Goebbels redete die Niederlage schön und verbot den Deutschen, ein Wort auszusprechen:
Für uns aber war es seit jeher feststehender und unumstößlicher Grundsatz, dass das Wort Kapitulation in unserem Sprachschatz nicht existiert!
Im Krieg stirbt die Wahrheit immer zuerst, sagte Churchill, und jeder Krieg beweist: Er ist immer auch ein Kampf um die Worte. Meistens wollen die, die Krieg führen, ihre Bevölkerung milde stimmen und Bomben, Tod und Elend beschönigen – auch in Demokratien.
Jamie Shea war vor fünfzehn Jahren Sprecher der Nato während des Kosovo-Kriegs. Er sprach vom „Kollateralschaden“ und meinte Zivilisten, die bei einem Bombardement getötet wurden. Das Wort wurde in Deutschland zum „Unwort des Jahres“ gewählt.
Jamie Shea entschuldigte sich dafür in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau:
Der Begriff wird von Militärs benutzt. Ich habe daraus gelernt, dass der Jargon, der innerhalb einer Behörde benutzt wird, außerhalb eine sehr negative Wirkung haben kann.
Jamie Shea nutzte öffentlich noch andere Wörter aus der Behörde, mit der er die Armee meinte:
- Smart Bombs, also: intelligente Bomben, wobei „smart“ im Englischen eine positive Bedeutung hat, etwa gepflegte Kleidung oder edles Restaurant; selbst der Nato-Sprecher räumt ein: „Smart Bombs waren natürlich nicht immer smart.“
- Luft-Kampagne statt Bombardement und Luftkrieg. Das sei ein diplomatischer Ausdruck, rechtfertigte sich der Nato-Sprecher. „Wir wollten das Wort Krieg bewusst vermeiden. Denn Krieg bedeutet immer, dass es keinen Platz mehr für Diplomatie gab.“
„Der Krieg ist das Gebiet der Ungewissheit“, schrieb Carl von Clausewitz vor 180 Jahren, „drei Viertel derjenigen Dinge, worauf das Handeln im Kriege gebaut wird, liegen im Nebel.“ Aus der Not der Generäle haben die Propagandisten die Untugend des Euphemismus entwickelt: Sprich schön, obwohl es hässlich ist.
Sie erfanden Wörter wie Bombenteppich oder Waffengang und erklärten einen Krieg zur „Operation Regenbogen“. Das ist der Nebel der Wörter im Krieg.
Thüringer Allgemeine, geplant für 4. Februar 2013
Was ist korrekt: Selbständig oder selbstständig? (Friedhof der Wörter)
„Wann führt die TA endlich die Rechtschreibreform ein?“, fragt Peter Nolze, ein Leser der Thüringer Allgemeine aus Kranichfeld. Immerhin habe eine Expertenkommission getagt – „und die Vorschläge von klugen Menschen sollte man als verbindlich annehmen“.
Als Beispiel führt der Leser das Wort „selbstständig“ an und lobt die Redakteure: Immerhin schreiben sie „selbstständig“ mittlerweile richtig.
Ein Blick ins Archiv zeigt: Auch in der TA findet man noch die alte Schreibweise „selbständig“ ebenso wie in renommierten Zeitungen wie dem Tagesspiegel aus Berlin oder dem Magazin Spiegel.
Also – „selbständig“ ohne das doppelte „st“. So sprechen wir, so lernen es junge Leute am besten: Geschrieben wie gesprochen.
Wer regelmäßig diese Kolumne liest, kennt meinen Grundsatz: Verständlich und logisch soll die Sprache sein, unmissverständlich und schön – und korrekt. Wer nur korrekt, aber unverständlich schreibt, verwirrt jeden Leser, erst recht „die armen Kinder in der Schule“, an die der Kranichfelder Leser denkt.
Wer bestimmt überhaupt, was korrekt ist? Der Duden? Nein, er registriert, was üblich ist. Sollten die Bildzeitung und die Süddeutsche Zeitung den Analphabeten durchweg in einen „Analfabeten“ verwandeln, dann stünde der „Analfabet“ nach einigen Jahren im Duden – als korrekte Schreibweise.
Thüringer Allgemeine 4. März 2013
Sport-Synonym: Statt Nullnummer penetrationsarmer Fußball
@zeitonline: Manch Philosoph spricht in solchen Fällen von „penetrationsarmem Fußball“: Freiburg-Leverkusen 0:0
(Tweet von Zeit-Online am 26. Januar 2013)
(zu: Handbuch-Kapitel 13 Der heilige Synonymus)
Astrid Lindgrens „Neger“ und Walter Ulbrichts „Klopse“ (Friedhof der Wörter)
„Königsberger Klopse“ standen auf dem Speiseplan von Chefkoch Günther Griebel, als 1969 Walter Ulbricht in Oberhof Silvester feierte. Der 78jährige Staatsratsvorsitzende fuhr nicht nur Ski, sondern bereitete sich im Thüringer Wald auf seine TV-Rede zum neuen Jahr vor.
Im MDR-Fernsehen dieser Woche erzählte der Chefkoch von „Ulbrichts Nobelherberge in Oberhof“: Ulbrichts Frau Lotte kam, zeigte auf den handgeschriebenen Speisezettel und krittelte an den Königsberger Klopsen herum; erst dachte der Koch, sie wolle einen anderen Hauptgang, dann merkte er: Lotte mag das Wort nicht – „Königsberg“.
Im April 1945 hatte die Rote Armee die ostpreußische Hauptstadt nach einer erbarmungslosen Schlacht eingenommen, ein Jahr später in Kaliningrad umbenannt. „Königsberg“ gab es nicht mehr.
Um alle Erinnerungen an die deutsche Zeit, vor allem die Nazi-Zeit, zu löschen, kamen sogar die Klopse in Verruf. Wörter sind eben oft auch politische Wörter.
In diesen Tagen ist ein ähnlicher Streit wieder laut geworden: Dürfen wir literarische Texte verändern und Wörter wie „Neger“ und „Zigeuner“ löschen?
Vor vier Jahren verschwand der Neger aus „Pippi Langstrumpf“, geschrieben von Astrid Lindgren, immerhin Trägerin des alternativen Nobelpreises und des Friedenspreises der Deutschen Buchhandels; ein weiterer Liebling der Kinder, Otfried Preußlers „Kleine Hexe“, soll in der Neuauflage negerfrei werden.
Die eine Hälfte der Deutschen findet das nach einer Emnid-Umfrage richtig, die andere Hälfte spricht dagegen; doch je höher die Bildung, desto geringer die Zustimmung zur Löschung.
In der Tat ist der „Neger“ rassistisch, doch ist ein Gespräch mit Kindern über das Wort sinnvoller als seine Beerdigung. Wir können Geschichte verstehen, aber nicht löschen.
Thüringer Allgemeine 28. Januar 2013 (geplant)
Wenn Aachener Printen gedruckt werden
„Printen wir die Zeitung? Oder drucken wir noch?“ war ein „Friedhof der Wörter“ in diesem Blog überschrieben. Am Freitag suchte ein Leser bei Google „printen – aachen – pralinen“ und landete bei – „Printen wir die Zeitung“.
Eiszeit der Bilder: Sibirische Polarpeitsche und russische Kältepeitsche
Wenn es eisig wird in Deutschland, blühen die Sprachbilder, die an den Kalten Krieg erinnern. Die Süddeutsche zählt im Streiflicht die „rhetorischen Schneekanonen“ auf: „Russische Kältepeitsche“ und „Sibirische Polarpeitsche“, ergänzt durch das amerikanische „Snowmageddon“ oder „Snowpocalypse“ oder „Snowzilla“.
Der sprachlichen Gewaltspirale müssten Grenzen gesetzt werden (was für ein Bild!):
Die Herstellung, Lagerung und Verwendung martialischer Wintermetaphern muss international geächtet werden. Denn Tauwetter ist nicht in Sicht.
SZ, 25. Januar 2013
Kurt Kister belebt den „Schwachmaten“, in dessen Verein auch ein „Krawallo“ spielt
Die Brüder Grimm haben nicht nur Märchen gesammelt, sondern auch ein großes Wörterbuch der deutschen Sprache begonnen. Darin kommt der „schwachmaticus“ vor – als „Schwächling“.
Kurt Kister nennt die FDP in seinem Leitartikel vor der Niedersachsen-Wahl einen „Schwachmaten-Verein“. Kister ist Chefredakteur der Süddeutschen Zeitung, ein brillanter Kommentator, ein Journalist deutlicher Worte, der auch Volkes Sprache nutzt, selbst wenn sie derbe ist – nur klar muss sie sein.
Den „Schwachmaten“ haben wahrscheinlich Studenten in Helmstedt vor drei Jahrhunderten erfunden, ehemals eine bedeutende Universitätsstadt, östlich von Braunschweig gelegen. Wer durch die Literatur blättert, findet als Bedeutung nicht nur den Grimmschen „Schwächling“, sondern auch den Idioten, Feigen, Unfähigen oder in der milden, der scherzhaften Form den Zaghaften und Schüchternen. Zwischen Beleidigung und Scherz pendelt die Bedeutung mit deutlichem Drall zu Beleidigung.
Was wohl Kurt Kister meint? Was auch immer er meint: Gut meint er es nicht mit der FDP und ihren Politikern. Wir müssen nicht bei den Grimms nachschlagen, um zu verstehen, was er von dem FDP-Politiker Dirk Niebel hält, den er einen „Gelegenheits-Chaoten“ nennt, oder von Wolfgang Kubicki, den „Krawallo“.
Der „Krawallo“, das Gegenteil des schwächlichen Schwachmaten, ist allerdings ein Liebling des Fernsehens. Im vergangenen Jahr war Kubicki der am häufigsten Eingeladene in den großen Talkshows – vor Ursula von der Leyen, vom Spiegel zur „Quasselkönigin“ gekrönt; Sarah Wagenknecht, die erfolgreichste Ostdeutsche, folgt knapp hinter der Ministerin und darf in diesem Jahr auf den Titel hoffen.
Quelle Kister: SZ vom 19. Januar 2013
Kolumne „Friedhof der Wörter“ geplant für Thüringer Allgemeine 21. Januar 2013
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