Politiker nach Boston-Anschlag: Worthülsen und Betroffenheit (Friedhof der Wörter)
Wenn Schreckliches in der Welt passiert, ziehen die Redenschreiber der Mächtigen die Schublade „Mitgefühl und Entsetzen“ auf. Diese Schublade ist im Computer-Zeitalter eine Datei mit Textbausteinen, sofort nutzbar wie nach dem Anschlag in Boston.
„Unser Mitgefühl gilt den Familien und Freunden der Opfer“, teilt unser Außenminister mit, bevor er das „fröhliche Sportereignis“ in den sprachlosen Kontrast zur „Tragödie“ setzt. Nach dem gleichen Schema reagiert die Kanzlerin: Erst „Entsetzen“, bevor auch sie „den Angriff“ in den Kontrast zur „friedlichen Sportveranstaltung“ setzt.
Stets gleich sind die Adjektive: „Heimtückisch“ nennt die Kanzlerin den Anschlag, „hinterhältig“ der Innenminister, der noch „feige“ hinzufügt, „sinnlos“ fällt einem Ministerpräsidenten ein (wie übrigens auch auch dem Papst).
Die höchsten Vertreter des deutschen Volks ringen nicht um Worte, sie sammeln die Hülsen auf. Sie sind nicht nur „betroffen“, der Innenminister ist sogar „zutiefst betroffen“. Und da er ahnt, wie leer dies Allerweltswort ist, setzt er noch eins hinzu: „menschlich zutiefst betroffen“.
Wir einfachen Leute, wenn wir den Tod beklagen, greifen auch zu Trauerkarten mit vorgestanzten Beileids-Sätzen. Es ist ein Dilemma.
„Zum Tod fall dir nichts ein“, schrieb die Dichterin Ingeborg Bachmann und schloss mit dem Vers:
Und nur nicht dies: ein Bild
im Staubgespinst, leeres Geroll
von Silben, Sterbenswörter.
Kein Sterbenswort,
Ihr Worte!
Wäre Schweigen nicht tröstender, wenn uns tröstende Worte fehlen? Nur – ist das überhaupt noch möglich in unserer geschwätzigen Welt?
Der Dativ und die DDR oder: Wer ging besser mit der Sprache um?
Die Gebildeten in der DDR waren sicher, sie achteten mehr auf die korrekte Sprache als die Menschen im Westen. Im Leseland DDR schrieben die Leute besser, genauer und regelgerecht, so die auch heute noch vorherrschende Überzeugung. Der Blick in die Zeitungen genüge, dass Schludrigkeit nach der Wende eingezogen sei.
Ein Erfurter Leser der Thüringer Allgemeine schrieb zu einer Überschrift auf der Titelseite vom 15. April:
Sie schreiben: „Mädchen ertrinkt in Ententeich“. In der DDR hätte man geschrieben: „Mädchen ertrinkt im Ententeich“.
Merke zu den Präpositionen: Mit dem Dativ stehen sie so, wenn man fragen kann: Wo? (Lehrstoff 3. Klasse, Grundschule). Aber DDR zählt heute nicht mehr! Oder vielleicht doch?
Der TA-Chefredakteur greift in der Samstags-Kolumne „Leser fragen“ das Thema auf und antwortet (20. April 2013):
Sie haben Recht – mit der Präposition. „Mädchen ertrinkt im Ententeich“ ist korrekt.
Dabei haben wir nicht den Dativ unterschlagen, sondern den Artikel: „Mädchen ertrinkt in einem Ententeich.“ Das Weglassen des Artikels in einer Überschrift ist eine Medien-Eigenart: Da in eine Überschrift nur wenige Buchstaben passen, geizen Journalisten mit jedem als unnötig erachteten Wort und Buchstaben. Sie können es ruhig eine Medien-Schlamperei nennen.
Diese Überschrift „Mädchen ertrinkt in Ententeich“ fanden Sie an diesem Tag dutzendfach im Internet – bei fast allen Medien vom „Focus“ über „Die Zeit“ bis zu RTL und T-Online. Dieser journalistische Herdentrieb macht es aber weder besser noch richtig.
Was das Mädchen, im Ententeich ertrunken, mit der Achtung vor der DDR zu tun, ist schon schwerer zu verstehen. Der Dativ war im Westen und in Österreich ebenfalls geachtet und wurde in den Schulen gelehrt.
Gerade in der Sprache blieb Deutschland einig – trotz Mauer. Der in Wismar geborene Sprach-Professor Harald Weinrich stellte 1983 in einem Göttinger Vortrag über die Zukunft der deutschen Sprache fest: Nach einer Generation getrennter Sprachentwicklung kann festgestellt werden, die deutsche Sprache ist ungetrennt und ungeteilt.
Er folgerte daraus. „Es ist offenbar einfacher, einen neuen Staat als eine neue Sprache zu gründen.“
Kommentar eines TA-Lesers:
Als interessierter Leser insbesondere der Leserbriefseite der TA heben sich – wie ich es empfinde – bestimmte Beiträge häufig wiederkehrender Leserbriefschreiber hervor; der o.g. Leserbrief stellt jedoch ob seiner entlarvenden Schlichtheit alles in den Schatten.
Umso beeindruckender habe ich Ihre nüchterne, pointierte Antwort empfunden.
Was ist eine Dreistadt? (Friedhof der Wörter zu einer Minister-Idee)
Dirk Reinhardt schreibt im“Ostblock“ der Zeit (4. April 2013):
Vor einigen Monaten habe ich hier im mal Ostblog versucht, das etwas komplizierte, für Außenstehende aber durchaus auch amüsante (Nicht-)Verhältnis zwischen den Städten Erfurt, Jena und Weimar zu beschreiben. Sie erinnern sich vielleicht: Das sind die drei Städte im Zentrum Thüringens, deren Bewohner offiziell nichts miteinander zu tun haben wollen, was sie aber nicht davon abhält, aus beruflichen Gründen oder denen des Freizeit-Vergnügens hin- und herzupendeln…
Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig hat ein Zukunftskonzept für Thüringen vorgelegt, in dem doch allen Ernstes die Rede von der “Drei-Stadt” Erfurt-Weimar-Jena ist. Gemeint ist damit zwar ausdrücklich nicht eine Fusion der drei Städte zu einer Thüringer Superstadt, aber immerhin ein aufeinander abgestimmtes, gemeinsames Planen zum Beispiel in Sachen Nahverkehr oder Wohnungsbau.
Damit könnte diese Region zu einer Art Metropole Thüringens zusammenwachsen, so die Begründung Machnigs oder seiner Referenten (man weiß ja bei Ministern nie so genau, ob sie sich die Konzepte, mit denen sie an die Öffentlichkeit gehen, selbst ausgedacht haben). Also eine Art zweites Ruhrgebiet, wobei das räumliche Zusammenwachsen durch neue Wohngebiete entlang einer imaginären S-Bahn-Linie zwischen den drei Städten erfolgen soll.
Diese Drei-Stadt-Geschichte ist nicht der einzige Vorschlag des Machnigschen Zukunftskonzepts, aber der skurrilste… Na immerhin hat Machnig so für etwas Spaß gesorgt im beschaulichen Thüringen.
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Der „Friedhof der Wörter“ beschäftigt sich auch mit der „Dreistadt“:
Das Glück wird einem Minister nicht jeden Tag gegönnt: Er prägt ein Wort, das selbst der Duden nicht in den deutschen Sprachschatz aufgenommen hat. „Dreistadt“, von Wirtschaftsminister Machnig geprägt, wartet also noch auf die Aufnahme.
Der Minister meint, auch polemische Angriffe abwehrend aus allen möglichen Thüringer Ecken und Kanten: „Dreistadt“ meint doch nur drei Städte.
Hat er Recht? Schauen wir auf ähnliche Wörter, also Verbindungen von „Drei“ und einem Substantiv:
- Das Dreiblatt, vorzugsweise ein dreiblättriges Kleeblatt: Wer Glück hat und es findet, hat einen Klee mit drei Blättern.
- Das Dreirad ist ein Rad mit drei Rädern.
- Der Dreispitz ist ein Hut mit drei Spitzen, also drei Ecken.Dreikönig ist ein Feiertag in Sachsen-Anhalt mit drei Königen, die in der Krippe bleiben.
- Dreisprung ist eine olympische Disziplin, in der Sieger wird, der hintereinander dreimal ganz weit hüpft.
Wer also „Drei“ mit einem Substantiv verbindet, fügt drei Dinge zusammen – zu einem.
Eine Dreistadt ist also eine Stadt mit drei Stadtteilen. Solch eine „Dreistadt“ erinnert an eine theologische Konstruktion: Die „Dreifaltigkeit“ – also ein Gott in drei Personen. Der Verstand tut sich schwer damit, der Christ muss es einfach glauben.
Ist die „Dreistadt“ vielleicht auch eine theologische Konstruktion?
Thüringer Allgemeine, 8. April 2013
Peter Handke: Die scheußlichsten Wörter kommen von Journalisten
Wenn Sie das Wort einknicken noch mal verwenden, stelle ich Sie hinaus in den Regen. Einknicken, sich hinauslehnen, verschnarcht: Die scheußlichsten Wörter der Bundesrepublik kommen von Journalisten.
Peter Handke in einem Interview mit dem Magazin der Süddeutschen Zeitung (19.10.2012)
Brauchen wir korrektes Deutsch? (Friedhof der Wörter)
Was ist denn das für eine Denkhaltung: Hauptsache verständlich, korrekt muss es nicht unbedingt sein.
So zürnt Hiltrut Schmerbauch aus Ingersleben mit dem Autor des „Friedhofs der Wörter“. Sie zürnt zu Recht: Wer denkt, wir müssten nicht korrekt schreiben, der ist ein Tor.
Beides gilt: Verständlich muss die Sprache sein und korrekt – und darüber hinaus noch farbig und unterhaltsam. Die Reihenfolge ist mit Bedacht gewählt: Die Verständlichkeit steht vorn – denn wem nützt die beste Sprache, wenn sie einer nicht versteht, der sie verstehen soll, gar verstehen muss.
In der Prozession der Wichtigkeit folgt das Korrekte wie ein Zwilling – denn nur, wenn wir uns an die Regeln halten, halten wir die Sprachgemeinschaft zusammen. Hiltrut Schmerbauch schreibt, wieder zu Recht: „Die Grundlage einer jeden Kommunikation ist nun mal die Sprache, und die sollte eben richtig sein.“
Wer nach Beliebigkeit oder Laune, wegen Faulheit oder Ignoranz die Regeln ändert, der verwirrt uns und schadet der Verständlichkeit.
Es folgen zwei Einwände, die bedenkenswert sind:
- Erstens verändere sich Sprache unentwegt, weil Neues zu benennen ist wie der Computer, das Internet oder die Energiewende; weil Wörter aus anderen Sprachen uns erst bedrängen, dann gefallen wie Flirt und Steak, Tsunami und Blamage; weil junge Leute anders sprechen wollen als die Alten und sich freuen, wenn diese „geil“ gar nicht geil finden.
- Zweitens sei der Duden eine wankelmütige Instanz, der jeden Fehler zur Regel erhebt, wenn er nur oft genug zu lesen ist.
Doch ist es aller Mühe wert, nicht zu kapitulieren vor denen, die unsere Sprache verschandeln – vor Werbern, die uns den „Service Point“ unterjubeln, vor digitalen Ureinwohner, die ihre Tastatur in ein „keyboard“ verwandeln, vor Experten, die lieber von einem „justiziellen Verfahrensablauf“ sprechen statt von einem Gerichtsprozess, oder vor Journalisten, die jeden sprachlichen Unsinn verbreiten statt ihn zu ächten.
Wer die Regeln ändern will, muss dies gut begründen können. Dies allerdings muss möglich sein – auch gegenüber dem Duden, dem Spiegel oder Peter Sloterdijk.
Verbünden wir uns also mit Hiltrut Schmerbauch aus Ingersleben und retten die korrekte Sprache – und die verständliche.
geplant für Thüringer Allgemeine 2. April 2013
Erinnern mit Goethe und Josef Fischer (Friedhof der Wörter)
Ist dieser Satz falsch? Gar Denglisch?
„Seine Mutter starb früh, und er erinnert heute noch in allen Einzelheiten ihren Tod.“ Der Satz stand in unserer Zeitung im Porträt des Starkochs Heinz Winkler.
Da verfällt der Autor unversehens in einen gepflegtes Denglisch, schimpft ein Zeitungsleser aus Weimar und begründet es so:
„Diese englische Variante des deutschen ,sich erinnern‘ wurde schon vor Jahren durch den Ex-Außenminister Josef Fischer kreiert, der seine Putztruppenzeit absolut nicht erinnert.“
Vergessen wir Josef Fischer, bleiben wir in Weimar. „Erinnre mich nicht jener schönen Tage“, schrieb Goethe in der „Iphigenie auf Tauris“.
Ist Goethe verdächtig, in einem gepflegten Denglisch zu schreiben? Nur weil er nicht dichtete: „Erinnre mich nicht an jene schönen Tage“?
Zu Goethes Zeiten brachen nicht englische, sondern französische Wörter in die deutsche Sprache ein: Jede Zeit hat ihre Sprachmoden.
Matthias Claudius, ein schlichter Zeitgenosse Goethes, schrieb nicht nur „Der Mond ist aufgegangen“, sondern auch „Da unser einer doch täglich seiner Sterblichkeit erinnert wird“ in seinem „Wandsbecker Boten“ – und eben nicht „Unser einer wird täglich an seine Sterblichkeit erinnert.“
Jahrhunderte vor Goethe und Claudius übersetzte Martin Luther die Bibel: „etwas erinnern“ und nicht „an etwas sich erinnern“. Kurzum: Denglisch ist teuflisch, aber „erinnern“ ist, wie auch der Duden beteuert, so zauberhaft wie die goldnen Sternlein, die prangen – am Himmel hell und klar.
Thüringer Allgemeine geplant für 25. März 2013
Papst Franz? Oder: Wer macht Wörter? (Friedhof der Wörter)
Gott hat die Erde erschaffen, so steht es in der Bibel und so glauben es gläubige Menschen. Wer hat „Franziskus“ erschaffen, den Namen des neuen Papstes?
Er selber? Wohl kaum. Da er spanisch spricht, wird er sich „Francisco“ nennen und zu „San Francisco“ beten.
San Francisco heißt: Der heilige Franziskus. So nennen wir auch die Stadt in Kalifornien, denen Franziskaner-Mönche den Namen gaben.
Wir kommen nicht auf die Idee, San Francisco in San Franziskus umzubenennen, was der Papst-Logik entspräche: Man nehme Francisco und mache daraus einen Franziskus.
Doch der Kardinal, der als erster den Namen nannte, sprach lateinisch: „Franciscus“. Es ist eine deutsche Eigenart, vielleicht sogar Bescheidenheit, jedem fremden Wort hinterherzulaufen, wenn es nur offiziell klingt.
So verwandelten wir schon historisch schöne Namen: Aus Persien machten wir Iran, aus Ceylon Sri Lanka, aus Burma Myanmar. Andere Länder denken gar nicht daran, so dass wir für die Engländer immer noch Germanen sind und für Franzosen Alemannen, also Germany und Allemagne (wobei die Franzosen unsere „Alemannen“ auch noch falsch schreiben).
Die Spanien nennen den neuen Papst „Francisco“ , die Franzosen „Francois“ und die Engländer „Francis“. Aber wir nennen ihn nicht Franz, also „Papst Franz“, obwohl der Namensgeber ein Franz war: Franz von Assisi.
Ob wir schon einen himmlischen Franz haben, den einige „Fußballgott“ nennen – und deshalb den römischen lieber „Franziskus“ nennen wollen?
Wahrscheinlich ist die Erklärung, wie wir Wörter machen, einfacher: Es war spät am Abend, als der weiße Rauch aufstieg. Die Journalisten hatten wenig Zeit, sich über den Namen tiefe Gedanken zu machen. So nahmen sie den erst besten Namen, also den aus der kurzen Kardinals-Rede auf dem Balkon über dem Petersplatz.
So stand er am nächsten Morgen in allen Zeitungen. Und deshalb haben wir keinen Franz als Papst.
Thüringer Allgemeine, geplant für 18. März 2013
Vertriebene oder Umsiedler? (Friedhof der Wörter)
Vertriebene? Umsiedler? Zwangsmigranten? Wie bezeichnen wir die Menschen, die nach dem Krieg aus Schlesien nach Thüringen kamen?
Ein Ortschronist nannte sie in der Thüringer Allgemeine „Umsiedler“, als er darüber sprach, dass sich nach dem Krieg die Zahl der Einwohner verdoppelt hatte. Leser protestierten: Wir sind keine Umsiedler! Wir sind Vertriebene!
Wieder sprechen wir über Wörter, die Politik machen und über Wörter, die Menschen manipulieren sollen – sei es um einer Ideologie zu dienen, Interessen durchzusetzen und Macht zu bekommen oder zu festigen.
Sicher sind die Menschen in Schlesien und Ostpreußen vertrieben worden – gegen ihren Willen und mit Gewalt.
Doch die Regierung der DDR musste Rücksicht nehmen auf die Verbündeten im Osten. Diejenigen, die DDR-Bürger vertrieben hatten, waren politische Freunde geworden.
So erließ die Volkskammer ein „Gesetz zur weiteren Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler in der Deutschen Demokratischen Republik“ und verschwieg damit nicht nur die Vertreibung, sondern sprach den Vertriebenen auch das Recht ab, darüber zu sprechen: Aus Vertriebenen wurden Umsiedler, aus Umsiedlern wurden Ehemalige.
Auch im Westen war das Wort „Vertreibung“ umstritten – nicht nur bei denen, die argwöhnten: wer von „Vertreibung“ spricht, will die Schuld der Deutschen am Weltkrieg leugnen. 1985 sprach Bundespräsident Richard von Weizsäcker, zum 40. Jahrestag des Weltkriegs-Ende – von der „erzwungenen Wanderschaft“.
„Umsiedlung“ nannte die DDR 1952 und 1961 auch die Vertreibung der Menschen, die im Sperrgebiet an der innerdeutschen Grenze lebten, als politisch unsicher bewertet wurden und ins Innere der DDR gefahren wurden: Aktion Kornblume und Aktion Ungeziefer waren die Namen für die Vertreibung.
Der thüringische Innenminister Willy Gebhardt, verantwortlich für die „Aktion Ungeziefer“ in Thüringen, schrieb mit der Hand an den SED-Landessekretär Otto Funke: „Otto, diese Zahlen hat mir eben Gen. König durchgegeben. Das wäre das Ergebnis der Kommissionsarbeit zur Beseitigung des Ungeziefers.“
Worte zeichnen ein Bild vom Menschen – und auch von der Verachtung des Menschen.
geplant für Thüringer Allgemeine 2. April 2013
Wie Goethe den Genitiv missachtete (Friedhof der Wörter)
Prüfen Sie sich! Welche der folgenden Sätze sind richtig:
1. Dank meines Fleißes werde ich in den Bundestag gewählt?
2. Großalarm wegen totem Hund?
3. Trotz Umbaus geöffnet?
4. Laut unseres Briefes sind sie von der Zahlung befreit?
Wer die deutsche Sprachen retten will, der rettet den Genitiv. Helmut Wolf aus Erfurt, Leser der Thüringer Allgemeine, ärgert sich, wenn in der Zeitung „immer wieder“ Genitiv und Dativ verwechselt wird – sogar auf der Kinderseite und ausgerechnet in einem Artikel über die Bildungsministerin.
Helmut Wolf hat Recht: Wir sollten den Genitiv wahren, so es die Regel gibt. Aber wir sollten bedenken, dass auch die Regel eine Geschichte hat. Nehmen wir als Beispiel: Der Genitiv nach der Präposition „wegen“.
Wer „wegen totem Hund“ schreibt, wie in einer Überschrift unserer Zeitung, wer also Dativ und Genitiv verwechselt, gilt als Sprachverderber. Aber wie schrieb Goethe gleich mehrfach in seinen Briefen? „Wegen eintretendem Reformationsfeste“.
Noch derber trieb es der Geheimrat am Weimarer Hof, als er in einem einzigen Satz „wegen“ erst mit dem Genitiv, dann mit dem Dativ gebrauchte: „Wegen des Stoffs als wegen den Umständen“.
Auch Schiller verwechselte: „Wegen dem Göz von Berlichingen“, und Gerhard Hauptmann verwechselte und Adalbert Stifter.
Es geht drunter und drüber, wie so oft in der Geschichte unserer Sprache. Erst war „wegen“ mit dem Dativ verbunden, dann mit dem Genitiv – wie beispielsweise schon im Urkundenbuch des thüringischen Arnstadt von 1432:
Von wegen syner koniglichen Durchluchtigkeit.
Der Genitiv setzte sich durch, nur nicht jederzeit bei Goethe, Schiller und anderen dichtenden Heroen, vor allem wenn sie eiligst Briefe schrieben – und im Volke wohl auch nicht.
Meinetwegen, könnte man sagen: Ich bleibe beim Genitiv, den auch Schiller durchaus schätzte und das „wegen“ hinter das Hauptwort verbannte. Statt „wegen seiner Natur“ schrieb er: Es ist dem Menschen „von Natur wegen möglich gemacht, aus sich selbst zu machen, was er will“.
Was ist also richtig? Alle Sätze sind – mehr oder minder – falsch im Eingangstest, und so sind sie richtig:
1. Dank meinem Fleiß (laut Duden);
2. Großalarms wegen eines toten Hundes (allerdings registriert der Duden schon: umgangssprachlich auch mit Dativ);
3. Trotz Umbau geöffnet (denn Hauptwörter ohne Artikel oder Attribut werden meistens nicht gebeugt);
4. Laut unserem Brief (allerdings lässt der Duden auch „laut unseres Briefes“ zu).
Geben wir Friedrich Schiller das letzte, oder besser: vorletzte Wort:
Schätzen Sie mich wegen dem, was ich unter besseren Sternen geworden wäre.“
Thüringer Allgemeine 11. März 2013
Gauck als Meister der Floskeln und taumelnden Wörter (Friedhof der Wörter)
In dieser Woche hat unser Bundespräsident seine erste große Rede gehalten. Er sei nervös gewesen, schreiben Kommentatoren, und sie meinen es positiv: Besser ein nervöser Politiker als ein überheblicher. Und er schreibe seine Reden selbst, und auch das meinen sie positiv.
Die Rede war nett, sie tat keinem weh, vor allem den Briten nicht, die gerade erdulden müssen, dass die deutsche Wirtschaft besser läuft als ihre. Da tröstet es, wenn ein Bundespräsident sagt: Auch Engländer gehören zu Europa, sogar die Schotten, die Waliser, Nordiren und „britische Neubürger“.
Nur – war die lange Rede des Präsidenten mehr als eine Reihung von Floskeln, hübsch, aber leer? Ein Beispiel:
Einst waren europäische Staaten Großmächte und Global Player. In der globalisierten Welt von heute kann sich im besten Fall ein vereintes Europa als Global Player behaupten.
- Global Player sind Unternehmen, die weltweit handeln, und nicht Staaten. Staaten leiden unter „Global Playern“ und ihrer Finanzmacht, mit der sie Politiker unter Druck setzen können.
- Globalisierte Welt ist wie ein weißer Schimmel. Pleonasmus nennen es die Wissenschaftler, abgeleitet vom griechischen Wort für Überfluss: Zwei Wörter, deren Sinn ähnlich ist.
Wer von „globalisierter Welt“ spricht, meint keine weltweite Welt, sondern eine schnelle Welt, in der Informationen und Transporte in einem Tempo um die Welt rasen wie nie zuvor – dank Internet, Flugzeugen und Containerschiffen. Für viele folgt diese schnelle Welt nicht mehr dem menschlichen Maß. Aber das ist ein neues Thema.
Thüringer Allgemeine 25. Februar 2013
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