Je suis Charlie – Vor 81 Jahren zerstörten Nazis den Simplicissimus (Friedhof der Wörter)
„Das ist simpel“, sagen wir und meinen: Eine Aufgabe ist einfach, ist unkompliziert. Das Wort haben wir dem Lateinischen „simplex“ entlehnt.
Berühmt machte Hans Jacob Christoffel von Grimmelshausen den Simplicius, einen einfachen Mann, der im dreißigjährigen Krieg Gewalt erlebte, Folter und Mord. Vor gut 350 Jahren erschien der Roman „Der abenteuerliche Simplicissimus Deutsch“, der zur Weltliteratur zählt.
Das lateinische Wort machte Karriere in der deutschen Literatur: Den Simplicissimus, den Einfältigen, wählten Journalisten 1896 zum Titel ihres Satire-Magazins, das alte Motto des Grimmelshausen aufnehmend: „Es hat mir so wollen behagen, mit Lachen die Wahrheit zu sagen.“
Es wurde Deutschlands berühmtestes und bestes Satire-Magazin, laut Tucholsky das „A und O der politischen deutschen Satire“, vergleichbar dem „Charlie“ in Paris. Tucholsky erhob das Magazin zum Maßstab für gute Satire: „Vorbildlich in der Form, rücksichtslos im Inhalt“. Was ist der ideale Satiriker: „Er schlägt, und die Getroffenen stehen nicht wieder auf. Er lacht, und der Blamierte kann sich in den Erdboden verkriechen.“
Die Gewalt, die „Charlie“ am Mittwoch erlitt, erfuhr der Berliner Simplicissimus in der Nacht zum 11. März 1933. Die SA zerstörte erst die Redaktions-Räume und dann die Pressefreiheit in Deutschland; einige Redakteure flohen oder tauchten unter.
Die Nazis zwangen die Eigentümer der Zeitschrift, das Magazin „in streng nationalem Geiste“ zu führen. Klaus Mann, einer der Söhne von Thomas Mann, schämte sich im Exil für die Journalisten und nannte ihre Arbeiten „degoutante Gesinnungslumpereien“.
Wir haben aus der deutschen Geschichte gelernt: Wir zerstören nie wieder die Freiheit der Presse, auch wenn wir uns ärgern, empören und uns in den Erdboden verkriechen wollen. Wir sagen – auch mit Lachen – die Wahrheit.
Und so bekennt auch der Kolumnist des „Friedhofs der Wörter“: Je suis Charlie – ich bin Charlie.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“ 12. Januar 2015
Weihnacht – auf den Spuren eines Wortes: „Leider ein Freßtag!“ (Friedhof der Wörter)
Weihe oder Wein? Woher stammt „Weihnachten“, das Wort? Von der geweihten Nacht? Michael Prätorius dachte an – den Wein!
Prätorius, vor knapp fünfhundert Jahren nahe Eisenach geboren, komponierte eines der bekanntesten Weihnachtslieder: „Es ist ein Roß entsprungen“; er dachte nicht an die geweihte Nacht, sondern eben an den Wein:
„Weihnachten hat den Namen vom Weine, weil mitten in der Nacht alle Wasser zu Weine werden“, schrieb er – und könnte er aus seinem himmlischen Quartier auf deutsche Heiligabend-Feiern schauen, würde ihm der Spott vergehen.
Im späten Mittelalter ist die Deutung als Wein-Nacht mehrfach zu finden. Dem zornigen Prediger Abraham a Santa Clara, der den Österreichern ins Gewissen redete, kam diese Deutung gerade recht:
„Wie oft wird die heilige Weinacht zu einer Wein-Nacht“ wetterte er und fuhr fort: „Was ist der Festtag? O leider! Ein Freßtag!“ Diese Wutpredigt hört sich modern an, ist aber schon knapp vierhundert Jahren alt.
Nun ist einem nach reichlichem Wein-Genuss feierlich zumute, doch das Feierliche und Heilige der Weihe liegt unserer „Weihnacht“ zugrunde. Es ist ein recht junges Wort: In der Bibel finden wir es nicht, erst vor achthundert Jahren taucht die „wihe naht“ erstmals in einem Schriftstück auf.
Moderne Versuche, „Weihnacht“ abzuschaffen, sind nur satirisch erfolgreich wie bei Reinhard Ulrich, dem Autor vom „Spur der Broiler“. Er fand oder erdichtete die DDR-Fassung eines bekannten Lieds, die umgedichtet umgehend auf unseren Friedhof gehört:
„Oh du ölige, o du mehlige, bratenbringende Jahresabschlussbilanzzeit.“
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Dezember 2014
Muss nicht jede Zeitung eine Debatten-Zeitung sein? Das neue FAZ-Feuilleton
Der neue FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube:
Das Debattenfeuilleton hat sich bewährt. Die Frage ist, ob die Themenbreite dieser Diskussionen nicht breiter ist, als sie manchmal bei uns war. Über längere Strecken wurden jeweils die Genetik, die Demografie oder die Probleme mit der Internetökonomie behandelt, andere Themen wie Migration oder soziale Ungleichheit blieben im Hintergrund. Ich strebe einen ausgeglicheneren Stil an. Und im Feuilleton dürfen die klassischen Künste und ästhetischen Fragen nicht zu kurz kommen. Die Entscheidung zwischen Debatte und Ästhetik wäre eine schlechte Alternative.
Kaube auf die Frage von Martin Eich „Was werden Sie anders machen als Frank Schirrrmacher?“ (Mainz, Allgemeine-Zeitung vom 17.12.2014)
Die Frage muss sich jede Zeitung, erst recht Regional- und Lokalzeitung stellen:
> Erkennen wir die Themen, die die Menschen umtreiben?
> Recherchen wir sie tief genug?
> Bieten wir die Themen an, die zur Debatte taugen?
> Vernachlässigen wir Themen?
> Drängen wir den Politiker die Themen auf, wenn wir erkennen, dass die Bürger auf eine große Debatte oder Entscheidung drängen?
Wer meint, dies sei nicht Aufgabe einer Zeitung, der lese im Spiegel-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom August 1966, zu lesen im Handbuch auf Seite 21:
Die Presse fasst die in der Gesellschaft und ihren Gruppen unaufhörlich sich neu bildenden Meinungen und Forderungen kritisch zusammen, stellt sie zur Erörterung und trägt sie an die politisch handelnden Staatsorgane heran.
Was ist ein Gastbeitrag? Muss man dafür bezahlen? (Leser fragen)
Wissen wir eigentlich, was unsere Leser unter unseren Fachbegriffen verstehen? Was ist etwa ein „Gastbeitrag“?
Wer meint, das sei doch klar, der schaue in den Brief eines Lesers; er hatte einen langen, mit der Hand geschriebenen Brief geschickt, in dem er sich über den Gastbeitrag von Klaus von Dohnanyi zum Mauerfall und zur Rot-Rot-Grünen Koalition in der Thüringer Allgemeine ärgert. Am Ende seines Briefs fragt der Leser an Dohnanyi gewandt:
„Ich weiß nicht, ob Sie Geld dafür bekommen haben. Mussten Ihre Zeilen in der Zeitung von Ihnen bezahlt werden? Wer kann Gastbeiträge in der ,Freien Presse‘ drucken lassen?“ Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Gastbeiträge werden nicht honoriert, auch müssen die Autoren dafür nicht bezahlen. Gastbeiträge werden von der Redaktion erbeten, um ein schwieriges oder umstrittenes Thema ausführlich zu ergründen und zur Diskussion zu stellen. Einige Beispiele:
- Klaus von Dohnanyi war Minister, Hamburger Bürgermeister und arbeitete in Thüringen für die Treuhand; er ist ein Politiker, der weiß, wovon er spricht – und wem er widerspricht. Sein Beitrag hat polarisiert – und das sollte er auch bewirken.
- Der Erfurter Carsten Schneider ist ein wichtiger Thüringer Abgeordneter im Bundestag, oft in der Tagesschau zu sehen. Er schrieb aus SPD-Sicht über die Rot-Rot-Grüne-Koalition und setzte sich mit der Geschichte von SPD und SED in der DDR auseinander.
- Ralf-Uwe Beck ist Pfarrer und Sprecher des „Bündnisses für Mehr Demokratie in Thüringen“: Wir dokumentierten in Auszügen eine beeindruckende Rede, die er vor Managern und Unternehmern auf der Wartburg gehalten hatte.
- Udo Reiter war Intendant des MDR und seit Jahren an den Rollstuhl gebunden. Er schrieb über Sterbehilfe und die persönlichen Gründe, warum er sein Leben selbst beenden könnte.
Gastbeiträge geben nicht die Meinung der Redaktion wieder, sie sollen zur Debatte anregen oder sogar anstacheln – so wie es auch jeder gute Kommentar und Leserbrief tun sollte. Wenn ich mich über eine Meinung errege, werde ich gezwungen, meine Gründe zu formulieren: Warum bin ich anderer Meinung?
Das Bundesverfassungsgericht schrieb in einem Urteil: „Soll der Bürger politische Entscheidungen treffen, muss er umfassend informiert sein, aber auch die Meinungen kennen und gegeneinander abwägen, die andere sich gebildet haben.“ Eine gute Zeitung reizt also zur Debatte – und trägt diese auch aus.
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Thüringer Allgemeine 13. Dezember 2014
Was sind Leserbriefe wert ? Was verändern sie?
Vor allem eifrige Leserbrief-Schreiber fragen immer wieder: „Was verändern unsere Leserbriefe? Werden Leserbriefe seitens der Redaktion ernst genommen?“ In der aufgewühlten Atmosphäre vor der Wahl Bodo Ramelows (Die Linke) zum Ministerpräsidenten Thüringens fragt zudem ein Leser der Thüringer Allgemeine nach der „Kultur der Kommunikation“, wenn er die Leserbriefe liest:
Ich kann mich des Eindrucks nicht verschließen, dass seit Wochen und Tagen – insbesondere was die Regierungsbildung in unserem Land betrifft – Hasstiraden zu lesen sind. Es ist aus meiner Sicht lediglich eigene Frustbewältigung in der Öffentlichkeit?! Die Wortwahl total daneben, die gute Schule der Manieren vergessend? In was für einer Gesellschaft leben wir?“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der TA-Chefredakteur:
Es gibt meines Wissens keine Zeitung in Deutschland, die jeden Tag ihren Lesern eine komplette Seite zur Verfügung stellt – als Seite für die Leser und von den Lesern. So wertvoll sind uns unsere Leser, so wertvoll sind unsere Leser und Bürger für die Gesellschaft – und so wertvoll sind die Bürger und ihre Gedanken für unsere Demokratie.
Was sie verändern? Wir sind uns sicher: Sie verändern viel in den Köpfen der Mächtigen, die schon lauschen, wie das Volk denkt – vor allem um ihre Macht zu sichern oder die Macht zu bekommen.
Veränderung hat immer etwas mit der großen Zahl zu tun: Den größten Einfluss nimmt der Bürger, der sich direkt in der Politik engagiert – ob in seinem Ortsteil oder im Kreis, im Landtag oder im Bundestag. Wer abstimmen kann, der regiert mit und hat die Macht. Die Chance mitzuregieren hat jeder.
Wer nicht regieren will, der kann seine Stimme erheben – aber er hat nur die Macht der Argumente auf seiner Seite und die Macht der Überzeugung, so andere sich überzeugen lassen. Die Macht des freien Wortes ist in einer Demokratie so wichtig wie die Kontrolle der Macht. Deswegen ist sie so wertvoll in der Zeitung der Bürger.
Und die Kultur der Kommunikation? So ist es eben: In dieser Gesellschaft mit ihren vielen Stimmen leben wir. Und wir verändern sie nicht, wenn wir die Frustbewältiger nicht zur Kenntnis nehmen. Im Übrigen ist auch die Sprech-Kultur der Volksvertreter nicht immer vorbildlich.
„Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!“, pöbelte sagte Joschka Fischer im Bundestag. Also halten wir es mit Martin Luther und schauen dem Volk, dem „Pöbel“, aufs Maul.
Und – in einer Demokratie hat eben jeder eine Stimme – nicht nur bei der Wahl.
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Thüringer Allgemeine 6. Dezember 2014
Wenn Redakteure religiöse Gefühle verletzen: Absicht oder Ahnungslosigkeit? (Leser fragen)
Die Mohamed-Karikaturen brachten die muslimische Welt in Aufruhr und unsere westliche in Verwirrung: Wie kann in aufgeklärten Gesellschaften die Religion und das Spiel mit ihr die Gefühle noch so stark verletzen? Sind Muslime, die den dänischen Karikaturisten mit dem Tod bedrohen, einfach Jahrhunderte hinter der Aufklärung zurück – und somit unfähig, Ironie, Satire und Spott über Gott und seine Vertreter auf Erden zu verstehen und zu ertragen?
Doch auch Christen tun sich schwer mit dem leisen Spott, wenn er ihre Gefühle trifft – erst recht im weitgehend entchristlichten Osten, wo Kirchenferne und Kirchenfeinde, Agnostiker und Atheisten die überwältigende Mehrheit stellen. In Thüringen, einem Land mit gerade mal 150.000 Katholiken (bei 2,2 Millionen Einwohnern), ärgern sich Leser über die Berichterstattung der Thüringer Allgemeine zur Einführung des neuen Bischofs. Einer fragt: „Insgesamt ist Ihr Ton herablassend, abschätzig und teilweise beleidigend. War das vielleicht sogar Absicht oder ,nur‘ Ahnungslosigkeit?“
Im Zentrum der Kritik steht der Vergleich der Mitra, der Kopfbedeckung des Bischofs, mit einer Kochmütze. „Sie ergehen sich vorwiegend in Nebensächlichkeiten, machen sich Gedanken über das Treiben auf dem Domplatz, über Wurstprodukte aus dem Eichsfeld und natürlich über das Wetter, aber über das Eigentliche, über die hohe Bedeutung und den Sinn dieser Festlichkeit, wissen Sie nichts zu berichten. Sie nennen es ,Spektakel.“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Wir wollen keine religiösen Gefühle verletzen – das erklären wir ohne Umschweife. Sollten wir dies, gegen unsere Absicht, getan haben, bitten wir um Entschuldigung. Der Pressekodex, in dem Journalisten ihre Berufsehre erklären, bestimmt:
Die Presse verzichtet darauf, religiöse, weltanschauliche oder sittliche Überzeugungen zu schmähen.
Daran halten wir uns.
Was ist eine Schmähung? Da werden Gottlose anders urteilen als Menschen, die an Gott glauben – gleich ob sie ihn Christus, Jahwe oder Allah nennen. Zwei Beispiele:
- Die in Berlin erscheinende „Tageszeitung (taz)“ liebt die Satire auch in nachrichtlichen Texten und überschrieb nach der Papstwahl den Aufmacher: „Junta-Kumpel löst Hitlerjunge ab“. Der deutsche Papst war in der Tat ein Hitlerjunge gewesen, der neue Papst aus Südamerika wird von einigen verdächtigt, einen Pakt mit Diktatoren geschlossen zu haben. „Das sei nicht belegt“, urteilte der Presserat und rügte die Überschrift als Schmähung religiöser Gefühle.
- Ohne Rüge blieben allerdings die Formulierungen: „Alter Sack I. folgt Alter Sack II.“ und „esoterischer Klimbim“ für die katholischen Dogmen. Die fehlende Rüge rügte dafür das Zentralkomitee der Katholiken: „Gerade auch in einer säkularen und offenen Gesellschaft, die von gegenseitigem Respekt lebe, müsse man Respekt gegenüber den Religionsgemeinschaften pflegen.“
Ist also die Kochmütze eine Schmähung? Respektlos könnte sie sein, wenn man bedenkt: Auch demokratische Institutionen verordnen ihre hohen Repräsentanten ungewöhnliche Kopfbedeckungen – wie beispielsweise den Verfassungsrichtern in Karlsruhe.
Angemerkt sei abschließend: Die respektlosesten Witze über Gott und Würdenträger werden im Vatikan erzählt. Aber, eben mit Respekt sei eingeschränkt: Eine Nachricht ist kein Witz.
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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 29. November 2014
Bitte tauschen Sie Ihr Kind um! (Friedhof der Wörter)
Nach dem „Krisenfrühstück“ kommt mit der „Kindertauschbörse“ das nächste zusammengesetzte Hauptwort auf den Seziertisch. Armin Burghardt, Lokalredakteur der Thüringer Allgemeine in Sömmerda, war es aufgefallen, als die Gemeinde Ostramondra zu solch einem Basar einlud.
In der „Guten Morgen“-Kolumne, der Lokalspitze, dachte er über die Tücken der deutschen Sprache nach: „Schon klar dass da keine Kinder getauscht werden sollen, können, dürfen. Dass es auf einem Kuchenbasar Backwerk gibt, versteht sich von selbst. Dass auf einem Babybasar dagegen kein Handel mit Neugeborenen betrieben wird, ist auch jedem klar. Nur der Begriff unterstellt anderes.“
Ach ja, wenn unsere Sprache immer logisch wäre! Gerade die Möglichkeit, Hauptwörter endlos zusammensetzen zu können, unterscheidet die deutsche Sprache von den meisten anderen und führt zu sinnvollen wie „Elterngeld“, umstrittenen wie „Unrechtsstaat“, widersprüchlichen wie „Jägerschnitzel“ und „Kalbsschnitzel“, praktischen wie „Hausschlüssel“, langen wie „Heuschreckenkapitalismus“, scherzhaften wie „Liebestöter“, schönen wie „Liebstöckel“ und zärtlichen wie „Lächelmund“, den Goethe erfunden hat.
Eindeutig ist keine Zusammensetzung, weder die „Kindertauschbörse“ noch das „Kindbett“, denn in dem liegt nicht das Kind, sondern die Mutter. Als jüngst in Dresden die witzigste Karikatur des Jahres gesucht wurde, zeigte eine den Arzt, der ein Haus abhorcht. Eine Frau fragt ihn: „Was machen Sie denn da?“ Er antwortet: „Ich bin der Hausarzt.“
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Thüringer Allgemeine Geplant für den 1. Dezember 2014, Kolumne „Friedhof der Wörter“ / nur in überarbeiteter Fassung Ende März 2015 erschienen
Redakteure Ost, die Dritte Generation, debattieren mit jungen Redakteuren West über die Einheit
Lars Haider, der Chefredakteur des Hamburger Abendblatt war verblüfft, nachdem er einer Mauerfall-Debatte der jungen Redaktions-Generation Ost und West zugehört hatte:
Die DDR selbst und ihr Ende ist bei der Delegation der Thüringer Allgemeine fast so präsent, als wären die Kollegen damals nicht acht, neun oder zehn, sondern mindestens volljährig gewesen. Andererseits registrierte man als (westdeutscher) Zuhörer erstaunt, dass die Wiedervereinigung bei den jungen Kollegen des Hamburger Abendblatt nicht mehr als die Erinnerung an Erzählungen der Eltern ist. Der 9. November ist für sie fast ein Tag wie jeder andere.
Mir hat die zweistündige Diskussion so deutlich wie selten gezeigt, dass es einen nach wie vor gigantischen deutsch-deutschen Unterschied gibt – nämlich in der Bewertung der Wiedervereinigung. Während man im Westen doch, vielleicht auch ohne es zuzugeben, relativ schnell wieder zur Tagesordnung übergegangen ist und die Bedeutung des 9. November von Jahr zu Jahr verblasste, hat dieses Datum und seine Folgen in Ostdeutschland auch 25 Jahre später vergleichsweise wenig von seiner Kraft und Gewalt verloren. Wer glaubt, spätestens für die dritte Generation hätten sich die Themen der Wendezeit erledigt, der irrt, und wie.
Vier Redakteure aus Thüringen und vier aus Hamburg hatten sich getroffen, um über die Einheit und die Unterschiede in Ost und West zu sprechen. Die Debatte ist in der Wochenend-Ausgabe der TA zu lesen ebenso wie der Kommentar des Hamburger Chefredakteurs:
Es war eindrucksvoll, die jungen Kollegen der Thüringer Allgemeine in Hamburg erleben zu können, mit ihrem Bewusstsein für die eigene Geschichte und ihrem Blick auf das neue Deutschland. Das war im besten Sinne Nachhilfeunterricht für einen Westdeutschen, der manchmal in die Versuchung gerät, die Wiedervereinigung nun endlich doch als Selbstverständlichkeit abzuhaken.
Was ist der Unterschied zwischen Meinungsfreiheit und Pressefreiheit?
Meinungsfreiheit ist das Recht eines jeden Bürgers, das er ausüben kann oder lassen.
Meinungsfreiheit liegt auch der Pressefreiheit zugrunde, sie ist aber auch eine Pflicht: Ein Journalist kann nicht selbst entscheiden, ob und wie er eine Nachricht bringt; er handelt im Auftrag der Verfassung, er ist Treuhänder des Bürgers, dem er alles, was für ihn wichtig ist, mitteilen muss.
Aus einem Leitartikel zur Thüringenwahl „Das Elend der Politik – und die AfD“ entstand auf Facebook eine kleine Debatte um die Pressefreiheit, die hier in Auszügen dokumentiert ist:
Mario Schattney
Das Elend der Politik wäre vielleicht auch das Elend einer mit der Politik symbiotisch verstrickten Medienklasse? Muss sich der Bürger in krisenhaften Zeiten wie diesen am Ende von beiden verschaukelt fühlen? Erstaunlich und bemerkenswert ist doch, wieviel politisch-mediale Häme und Geringschätzung in unserer vorgeblich demokratischen Kultur der AfD entgegen bläst …
Raue:
Sicher sind die Medien mit der Politik verbunden. Wir haben die Mächtigen zu kontrollieren und – wie das Verfassungsgericht bestimmte – Diskussionen in Gang zu halten, um als orientierende Kraft zu wirken. Die kritische Nähe von Medien und Politik ist also ein Verfassungsauftrag: Die Presse als Verbindung zwischen Volk und Politik. Die Frage heute ist: Reicht das? Müssen wir nicht selber aktiv werden, Konzepte entwickeln? Dann bewegen wir uns aber in vermintes Gebiet und könnten selber zum Akteur von Politik werden. Dürfen wir das? Müssen wir das tun?
Wolfgang Kretschmer:
Selbstverständlich ist die verfassungsmäßig aus guten Gründen unklar definierte Schnittmenge von Politik und Medien ein „vermintes Gebiet“. Diesen Begriff hätte ich derzeit allerdings nicht gewählt.
Medien und Politik, Medien und Wirtschaft, diese Verhältnisse sind Hochspannungssektoren in der Meinungsbildung demokratischer Gesellschaften, die auch wegen allerlei irrlichtender Gestalten unter „Strom“ Stehenden einiges ethisch aushalten müssen, weil sie jeweils teils einig in der Meinung teils kontrovers sind, aber auch von einander lernen, jedenfalls im besten Falle.
Journalistenjob ist es nun, abgesehen von Meinungsumfragen, herauszufinden, wo sind die Abstimmungshochburgen der AfD und dort vor Ort herumzuforschen. Je nach gutem Journalismus wird dies dann für „Volk und Politik“ aufschlussreich sein. Kurz und gut, wir sind irgendwie immer „Mitakteure“, im Sinne der aus der Ethnologie und aus anderen Disziplinen bekannt problematischen wissenschaftlichen Figur der „teilnehmenden Beobachtung“. Und wenn wir unsere Meinung sagen wollen, tun wir dies in einem fundiert furiosen Kommentar, der das Blatt fürs Publikum interessant macht. Pressefreiheit ist Meinungsfreiheit.
Raue:
Einverstanden, aber Pressefreiheit ist mehr als Meinungsfreiheit, ist Verantwortung für die Demokratie und die Gesellschaft, ist Verantwortung für die Freiheit.
Wolfgang Kretschmer
Pressefreiheit ist in einer Demokratie Meinungsfreiheit (Kommentieren, das begann mal mit Flugbättern), das Recht, möglichst ungehindert investigativ zu recherchieren, Aktenzugang zu haben, im Gespräch mit Menschen die Hintergründe von bedeutenden Ereignissen zu eruieren oder durch journalistische Arbeit zunächst Unbedeutendes als wichtig ins öffentliche Bewusstsein zu transportieren. Insofern nehmen wir Verantwortung für Demokratie, Gesellschaft und Freiheit wahr, sind daher auch politische Akteure und Beförderer demokratischer Prozesse.
Um mal im Bild zu bleiben: Andere haben ein Interesse daran, ihr Terrain zu verminen, wiederum andere aus unserer Branche legen Minen. Das geneigte Lesepublikum macht sich ja auch selber so seine Gedanken, ob per Paper oder zunehmend online. Die sind auch mitunter schlauer als unsereins. Wir sind doch gar nicht weit auseinander. Oder?
Harald Klipp
Die Verantwortung für die Grundwerte darf aber nicht dazu führen, dass wir selbst mitmischen. Ich bin nach wie vor der Meinung, dass ein Journalist mit Parteibuch seiner Rolle als Journalist nicht mehr gerecht werden kann. Das Beispiel Susanne Gaschke zeigt, dass es ein Riesenunterschied ist, ob man als Journalist beobachtet, bewertet und kommentiert oder selbst zum politischen Akteur wird. Wenn es beim HSV in der Fußball-Bundesliga nicht läuft, biete ich mich ja auch nicht als Trainer oder Torwart an. Und das ist gut so.
Paul-Josef Raue
Zu Wolfgang Kretschmer: Meinungsfreiheit und Pressefreiheit sind zwar in einem Artikel des Grundgesetzes erwähnt, aber unterscheiden sich: Jeder, der eine Meinung hat, darf sie äußern – es ist ein Recht, das nur an den Rändern eingeschränkt ist (z.B. Beleidigung, üble Nachrede, Leugnung des Holocaust); die Meinungsfreiheit ist keine Pflicht: Wer seine Meinung nicht äußern will, kann nicht dazu gezwungen werden.
Die Pressefreiheit wird von Journalisten wahrgenommen; ihnen gilt der Schutz vor Eingriffen des Staates wie Zensur, Beugehaft o.ä. Die Pressefreiheit ist nicht nur ein Recht, sondern auch eine Pflicht. Wir handeln im Auftrag der Bürger – das ist eben der Verfassungsauftrag – und wir besorgen den Bürgern alle wichtigen Informationen, wahrheitsgemäß und unverzüglich. Das müssen wir tun.
Auch beschränken wir freiwillig, dem Verfassungsauftrag folgend, unsere Meinungsfreiheit: Der Pressekodex ist über weite Strecken eine solche Einschränkung. Jeder darf sagen: Metzger Schweinebrust hat die besten Schnitzel und nirgends gibt es bessere; wir dürfen es nicht schreiben usw.
Wolfgang Kretschmer
Meinungs- und Pressefreiheit sind im Grundgesetz nicht erwähnt, sondern hammerhart festgeschrieben.Grauzonen gibt es im alltäglichen Schreibgeschäft. Ich sehe gar nicht, wo wir auseinander sind! Unsere Texte zum Thema dienen eher einer notwendigen reflektierenden Selbstvergewisserung. Unser langsam dahinschwindener Beruf genießt ja nicht den allerbesten Ruf. Und as ist auch gut so.
Ich bleibe dabei: Wir sollten zu den AfD-Hochburgen gehen und nachschauen, was die Menschen bewegt und in ihren Köpfen haben. Darüber kann man ganz sanft und viele Aspekte betrachtend und beobachtend schreiben. Selbst dann, wenn man was von Habermas und Luhmann gelesen hat. Wir müssen als Redakteure und Journalisten manches auch verständlich machen und überraschende Varianten und Widersprüche aufdecken. Das gibt interessanten Lesestoff und ändert vielleicht gängige Meinungen. Womöglich könnte unsereins auch mal darüber nachdenken, dass wir in unserem Job auch in sich ebenso seelisch wie seelig hin- und hergerissene Figuren sind (Kir Royal, Heidemann etc etc.)..
Schnitzel: Meine Recherchen etwa zur Südtiroler Speckproduktion oder meine Meinung zum geplanten Seilbahnprojekt in Brixen bringe ich jeweils anderswo unter (Textsorten). Und immer ist selbst dabei klar ersichtlich, dass ich ein spezielles forschendes Erkentnisinteresse habe. Und wenn Metzger Schweinebrust bei seiner Werbung für die besten Schnitzel pfuscht,, dann haue ich den selbst als Kunden einer Tageszeitung in die Pfanne. Dies wird dann im Verlag durchgestanden
Das Elend der Politik (Kommentar zur Landtagswahl in Thüringen)
Wer, um alles in der Welt, wählt eigentlich die AfD? Wer dort sein Kreuz malte, der wusste: Die Partei wird mit hoher Wahrscheinlichkeit in keiner Koalition mitregieren. Eine Stimme für die AfD ist also – wenn es um die Macht geht – eine verlorene Stimme.
Trotzdem stimmte jeder zehnte Thüringer, der sich zum Wählen entschlossen hatte, für eine nahezu unbekannte Truppe, die zerstritten war und kein klares Konzept hat. Nehmen wir die Thüringer hinzu, die bei dem trüben Wetter lieber zu Hause blieben, dann kommen wir auf die stärkste Fraktion überhaupt: Die Bürger, die es nicht so recht interessiert, wer über ihre Zukunft bestimmt.
Selten ist das große Problem unserer Demokratie so klar geworden wie gestern in Thüringen: Den Mächtigen läuft das Volk davon. Die beiden größten Parteien haben zwar Prozentpunkte gewonnen, aber wahrscheinlich Wähler verloren. Der Jubel bei CDU und Linke in Thüringen, die sich beide wie Sieger fühlen, wird nur ein paar Tage anhalten, dann wird Katzenjammer einsetzen und hoffentlich das Nachdenken: Wieviel Desinteresse kann eine Demokratie aushalten? Wird sich das Problem auswachsen?
Nein, im Gegenteil: Schauen wir auf die Wahlanalysen, dann wird die Lage noch dramatischer: Die Wähler der AfD sind gerade die jungen Wähler. Wer jünger ist als 29, der machte öfter bei der AfD sein Kreuz als bei der SPD und fast so oft wie bei der Linken.
Wer zynisch das Ergebnis interpretiert, der könnte sagen: Wenn es den Bürgern schlechter geht, wird sich schnell wieder alles richten. In der Tat sind fast zwei Drittel so zufrieden wie nie zuvor. Doch auf schlechte Zeiten zu hoffen, ist ebenso töricht wie gefährlich.
Politiker müssen endlich klar machen, dass sich die Bürger mit Verdrossenheit und Verweigerung selber schaden. Wir brauchen mehr Politiker, die Vertrauen und Kompetenz zeigen. Es ist Zeit!
PS. Und was ist der Auftrag an uns Journalisten? Dürfen wir nur zuschauen? Oder müssen wir selber Konzepte und Lösungen finden?
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Thüringer Allgemeine 15.9.2014 (hier erweiterte Fassung)
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