Herbert Kolbe ist tot: Der Pionier der lokalen Welt-Zeitung – aus Emden
Jede deutsche Zeitung vor dreißig Jahren war ein „Generalanzeiger“: Große Politik, große Wirtschaft, große Kultur und am Rande ein bisschen Lokales. Wer nicht mitleidig belächelt werden, wer etwas werden wollte, der sah zu, dass er so schnell wie möglich aus der Lokalredaktion in den „Mantel“ kam.
Die Revolution kam aus dem Norden, von einer kleinen Zeitung an der holländischen Grenze mit gerade mal neuntausend Abonnenten. Der Revolutionär hieß Herbert Kolbe, die Zeitung war die Emder Zeitung.
Herbert Kolbe wurde in Emden 1981 Chefredakteur: Er hatte eine Mission:
Durchdringung der ,großen‘ Nachrichten mit dem Lokalen, wobei ich es lieber umgekehrt formuliere: Durchdringung des Lokalen mit den ,großen‘ Nachrichten.“
Er hatte eine Mission, die er konsequent verwirklichte, aber er war kein Missionar. Er war Realist, der sich die Frage stellte: Ist die Zeitung im Stile eines Generalanzeigers noch zeitgemäß? Hat sie eine Zukunft?
Kolbe begann die Leser-Forschung bei seinem Verleger Edzard Gerhard, der Anfang der achtziger Jahre den Verlag von seinem Vater übernommen hatte: „Ich mochte die eigene Zeitung nicht mehr lesen“, bekannte der Verleger. So viel Ernüchterung war selten, wenn nicht einmalig vor 35 Jahren. Auch der neue Chefredakteur mochte seine Zeitung nicht – und war erstaunt, dass es seinen Lesern ähnlich ging.
Sie langweilten sich bei Meldungen wie „Außenminister Genscher wird morgen mit seinem Amtskollegen NN zusammentreffen und voraussichtlich die bilteralen Beziehungen erörtern…“ Kolbe beschloss das Ende der Langeweile, wollte nicht mehr die kostbare Zeit seiner Leser vergeuden – und verbannte „die zahllosen Handschüttel- und Bundestags-Stehpult-Bilder gnadenlos aus der Zeitung“. Er riß die Ressortgrenzen nieder, schuf eine vertikale Struktur in der Redaktion – also: Lokales und Welt auf Augenhöhe. „Rathaus und Bundeshaus in einem Team“, so arbeitete Kolbe in seiner Redaktion.
Kolbe war ein harter Chefredakteur, dem seine Leser wichtiger waren als seine Redakteure – die sich heftige Kritik gefallen lassen mussten:
> Mittelmäßiger bis schlechter Sprachstil,
> weitgehend ohne Kenntnis der journalistischen Stilmittel,
> dürftige optische Darbietung,
> ungeordnet und meist schlecht ausgebildet.
Diese Kritik übte er nicht nur an seiner Redaktion: „Das ist der Standard vergleichbarer Tageszeitungen (was ja nichts mit Auflagenhöhen zu tun hat)“.
Kolbe trennte sich vom Mantel aus Osnabrück und schuf eine Zeitung aus einem Guß. Auf der Titelseite standen gleichrangig Nachrichten aus Emden und der Welt – eben die wichtigsten des Tages aus der Perspektive der Leser. Nicht selten, wenn die Welt ruhte, standen allein Berichte und Fotos aus Emden auf der Titelseite.
Aber nicht „Local first“ wurde zum Prinzip, sondern stets: „Einordnung des lokales Sachverhalts in das Gesamtgeschehen des Tages“ – mit der Folge, die heute Online-Redakteure als von ihnen entdeckten Fortschritt preisen:
Erst in der Mischung aller bedeutenden Ereignisse eines Tages erhält das Lokale den richtigen Platz und angemessenen Stellenwert. Auch das könnte man wieder umgekehrt ausdrücken.
Das erste Buch wurde zum lokalen Buch, Politik und Meinung wanderten ins zweite Buch. Die Hausfarbe der Zeitung wechselte vom Blau zu Orange, der Blocksatz wurde vom Flattersatz abgelöst – ein bisschen und mehr sah dieEmder Zeitung aus wie USA Today. Die Auflage stieg, in manchem Jahr über vier Prozent.
Kolbe nannte seine Revolution selber den „Urschrei“ und machte sich ein wenig lustig über andere, also die meisten Zeitungen, die Alarmzeichen nicht sehen wollten. Der Rest der Chefredakteure machte sich allerdings lustig über den Provinzler von der Küste. Wer das Lokale so hoch schätzte wie Kolbe musste sich Urteile wie „Das Ende des Qualitätsjournalismus“ gefallen lassen.
Nur wenige sahen die Zeichen: Der Wiener Publizistik-Professor Wolfgang Langenbucher geißelte die Mißachtung des Lesers und die Hofberichterstattung in den meisten Zeitungen. Schon in den achtziger Jahren hielt er die wachsenden Reichweiten-Verluste bei den jungen Leuten für eine Gefahr – für die Zeitung wie für Gesellschaft und Demokratie. Die Frage, ob die Zeitung ein Integrationsmedium bleiben kann, hielt Langenbucher für eine „Schicksalsfrage der Gesellschaft“.
Ebenfalls in der achtziger Jahren schuf Dieter Golombek das „Lokaljournalistenprogramm“ – in einer Behörde, der Bundeszentrale für politische Bildung. Kaum ein Programm hat den Journalismus in Deutschland stärker verändert. 1980 vergab Golombek erstmals den „Deutschen Lokaljournalistenpreis“, der zum bedeutendsten Zeitungs-Preis in Deutschland wurde, der Trends erkannte und setzte. 1980 – das war auch das Jahr, in dem Emden aufbrach in die neue Zeitungszeit.
Die Emder Zeitung hat, wenn ich es recht überblicke, nie den Lokaljournalisten-Preis gewonnen. Das ist einer der wenigen Irrtümer der Jury. Kolbe hätte für seine Pioniertat und sein Lebenswerk den Preis verdient gehabt – ebenso wie den Theodor-Wolff-Preis, den aber bis heute vor allen Leitartikler und Helden des Generalanzeigers für ihr Lebenswerk bekommen.
Kolbes Konzept ist seltsam modern: Die meisten Debatten um die Zukunft der Zeitung und die Gegenwart des Digitalen kreisen um Themen und Ideen, die er schon früh erkannt und formuliert hatte. Am 6. April 2014 ist Herbert Kolbe gestorben, 72 Jahre alt.
Ich habe viel von ihm gelernt. Parallel zur Emder Zeitung entwickelte ich mit meiner Redaktion in der Oberhessischen Presse eine moderne Lokalzeitung im Marburg der achtziger Jahre, belächelt von den meisten in der Zunft, aber geachtet von den Lesern in der Universitätsstadt; auch in Marburg stieg die Auflage kontinuierlich, als das Lokale auf die Titelseite und ins erste Buch kam.
Der Chefredakteur der Oberhessischen Presse berief sich übrigens auf ein noch älteres Konzept, das der US-Presse-Offizier Shepard Stone 1945 bei der Lizenzvergabe so formuliert hatte:
Die Zeitung muss sich durch die Art ihrer Berichterstattung das Vertrauen der Leser erwerben: Der Lokalberichterstattung muss die stärkste Beachtung geschenkt werden und damit den vordringlichsten Lebensnotwendigkeiten des deutschen Volks.
*
Quelle für Kolbe- und Langenbucher-Zitate:
> Bernd-Jürgen Martini „Journalisten-Jahrbuch 1989“, darin:
> Herbert Kolbe „Das Beispiel Emden: Wie man Erfolg hat“
> Wolfgang Langenbucher „Noch immer wird der Leser mißachtet!“
Die SZ fragt: Darf ein Chefredakteur Kapuzenpullis tragen? Und dazu noch selbstbewusst auftreten?
Die Süddeutsche streitet offenbar darüber, ob der Chef der Online-Redaktion in die Chefredaktion aufsteigen darf. Alina Fichter listet in der Zeit sechs Schwächen auf, die gegen Online-Chef Stefan Plöchinger als Chefredakteur sprechen:
1. Fehlendes schreiberisches Profil;
2. fehlende begnadete Schreibe;
3. kein Intellektueller;
4. zu wenig Demut;
5 extrem selbstbewusstes Auftreten;
6. Kapuzenpulli-Träger.
Für ihn spricht laut Zeit nur: Er ist ein sehr guter Redaktions-Manager.
Muss jetzt auch Heribert Prantl in der SZ-Chefredaktion um seine Position bangen? Er trägt zwar Anzüge, aber ist nicht bekannt als demütiger und zurückhaltender Journalist.
Was in dem Zeit-Artikel auffällt:
> Plöchinger sehen wir auf dem Foto nicht mit Kapuzenpulli, sondern mit weißem Hemd und dunklem Jackett: Er kann also auch seriös.
> Für die Demütigung Plöchingers, also die Sechser-Liste, gibt es keine Zeugen: Alle bleiben anonym. Warum ist der Medien-Journalismus so oft eine recherchefreie Zone? Gerüchte werden feil geboten wie im Ein-Euro-Laden.
> In der SZ-Chefredaktion, so die Zeit, werden Kommentare umgeschrieben. Muss man sich die Chefredaktion als Fälscher-Werkstatt vorstellen: Aus einem schwarzen Kommentar wird ein roter? Aus einem Ja ein Nein? Aus einer Vermutung eine Tatsache? Oder ist schlicht „Redigieren“ gemeint?
> Ein wohlfeiler Rat für alternde Chefredakteure ist auch enthalten: Wer als Freund des Internets in Erscheinung treten will, der zeige „seinen iPad“ in der Konferenz. Kurt Kister soll ihn schon zeigen. Aber der Mann ist wirklich ein begnadeter, demütiger Schreiber ohne übertriebenes Selbstbewusstsein. Dafür stehe ich mit meinem Namen ein.
Quelle: Die Zeit 20. März 2014
FACEBOOK-Kommentar von Harald Klipp (21.3.2014)
Wir wissen doch alle, dass es auf die inneren Werte ankommt. Das wesentliche Kriterium sollte sein, dass er seine Mitarbeiter akzeptiert, mitnimmt und führt und dabei auch der Zeitung eine Perspektive gibt. Selbstbewusstsein ist gut, wenn er es auch für die gesamte Redaktion gegenüber der wirtschaftlichen Unternehmensführung ausstrahlt. Das wären meine frommen Wünsche…
Die Weihnachts-Wanderung auf den Brocken – oder: Wo müssen sich Chefredakteure und Lokalchefs sehen lassen?
„Unsere Zeitung ist wieder nicht gekommen!“, wettert der Brockenwirt auf dem höchsten Berg im Norden. „Die kommen nur noch, wenn es Skandale gibt und irgendwas Aufregendes.“ Für eine Minute ist die festliche Stimmung verflogen. Die meisten reiben sich die Ohren: So erregt hat noch keiner den Brockenwirt erlebt.
Der Freitag vor Weihnachten gehört im Harz traditionell der großen Wanderung auf den Brocken mit Ministern, Sparkassendirektoren, Bürgermeistern, Abgeordneten, Journalisten – eben mit allen, die wichtig sind oder wichtig sein wollen in der Provinz. Etwa 200 kommen, wandern zwei Stunden durch den Schnee (wenn er liegt: dieses Jahr nur fleckenweise), singen unterwegs „Oh Tannenbaum“, essen eine Bratwurst, trinken einen „Schierker Feuerstein“ oder zwei und setzen sich am Ende im Goethesaal auf dem Brocken zu Bier und Erbsensuppe zusammen. Es ist ein Netzwerk- und Wiedersehen-Tag, mit Stiefeln, Mütze und dicken Pullovern statt Krawatte und steifen Hemden.
Da ärgert sich der Brockenwirt, wenn „seine Zeitung“ nicht dabei ist und den Plastik-Eiskratzer als Weihnachtsgabe mitnimmt: Weder Chefredakteur noch der lokale Chef noch irgendeiner.
Chefredakteure und Lokalchefs kennen die Not: Wieviel Repräsentation ist nötig? Wieviel ist möglich?
Was ist nötig? Wenn viele Leute, die wichtig sind oder wichtig klingen, zusammenkommen, erst recht in geselliger Runde, sollte man sie nicht alleine Bier trinken und reden lassen: Wer mit wem? Und wer duzt sich schon? Und wer ist nicht dabei – und warum? So nebenbei lässt sich beim Aufstieg durch die vereiste Bob-Bahn ein Vier-Augen-Gespräch mit dem Kulturminister führen, der sonst nur zögert und zaudert.
Doch solch Aufstieg und Konversation mag nicht jeder Chefredakteur und Lokalchef. Im 46. Kapitel des Handbuchs haben wir sechs Typen von Chefredakteuren beschrieben. Da steht vorne der Blattmacher, der gleichzeitig Innenminister ist: Er verlässt nur selten die geschützten Räume der Redaktion, ist Herr des Newsrooms – auf den der Großraum zugeschnitten ist und in dem er thront wie ein feudaler Herrscher. Auch der selten gewordene Leitartikler mag keine Aufstiege in Winterjacke und Pelzstiefeln.
Glücklich ist die Redaktion zu schätzen, die einen Außenminister hat ohne Karriere-Ambitionen: Wenn sich der neue Chef und sein Vorgänger, der die Rente genießt, gut verstehen, dann geht der alte Chef auf all die Termine, die der neue nicht mag. Der Alte ist bekannt, meist beliebt; er hört zu, wie das Gras wächst, und spielt in die Redaktion das zurück, was Anlass gibt für Recherchen; und auf die allfälligen Beschwerden, die bei solchen Anlässen zu hören sind, kann er gelassen reagieren.
Und wenn der Chefredakteur gerne die Redaktion verlässt wie ein Nest-Flüchter, aber die Provinz und die Provinz-Herrscher nicht mag? Dann kann schon die Frage erlaubt sein, ob dieser Chef für die Leser und für die Redaktion der rechte ist. Ein von mir geschätzter Verleger stellt gern die entscheidende Frage, am besten schon im Bewerbungsgespräch
Wohin gehen Sie am Abend, wenn Sie sich zwischen zwei Terminen entscheiden müssen: Ein Hintergrund-Gespräch mit der Kanzlerin in Berlin, zu dem dreißig Kollegen kommen – oder die Laudatio auf das Ehrenamt des Jahres in der Stadthalle, wo die Großmutter geehrt wird, die krebskranken Kinder vorliest?
Erfolgreiche Bezahlschranke, aber weniger tiefe Recherche
„Wir zahlen nichts“, sagten die Leser der Online-Seiten von Haaretz. „Sie haben gelogen“, sagt Lior Kodner, der Online-Chef der israelischen Zeitung. In einem Land, in dem es mehr Smartphones gibt als Bürger, scheint es zu gelingen: Die Online-Leser zahlen für guten Journalismus.
Es gibt keine eigene Online-Redaktion. Die dreihundert Redakteure sitzen in einem Newsroom, schreiben für die gedruckte Zeitung wie für Online – auch wenn das viele noch üben müssen. Nach dem Wochenende sitzen die Redakteure in der Sonntags-Konferenz zusammen und sprechen über die am meisten gelesenen Artikel der Online-Seiten der vergangenen Woche und des Sabbats.
Was alle noch verstehen müssen: „Wie schreiben wir eine Geschichte in der digitalen Welt?“ Dazu gehören, so Lior Kodner, auch Töne – wenn beispielsweise eine Lokomotive in der Story vorkommt – oder auch kleine Filme. So weit wie Haaretz ist offenbar noch keine große Zeitung in Israel. Der Markt für hebräische Online-Seiten ist auch klein: Gerade mal sieben Millionen potentielle Nutzer in Israel; zwei Millionen davon gehen im Monat auf die Haaretz-Seiten. Weil die Konflikte in Israel und den Nahen Ost auch außerhalb von Israel interessieren, bietet Haaretz nicht nur eine gedruckte Ausgabe in englischer Sprache an, sondern auch eine englische Online-Version, die – je nach Konfliktlage – zwischen zwei und drei Millionen Leser anzieht.
Haaretz musste experimentieren und online gehen, weil die Einnahmen immer mehr zurückgehen – wie nahezu überall in der westlichen Welt. Doch der Journalismus verliert Kraft, „power“, beobachtet Hanoch Marmori, der zehn Jahre lang Chefredakteur von Haaretz war: Weniger investigative Recherche, weniger Bohren in der Tiefe. Der Grund? Die Redakteure wollen das Management nicht aufschrecken, sie wollen keine Risiken eingehen und schauen zu, nur noch Geschichten zu bringen, die die Leute lesen wollen.
Nur auf die Online-Liste der meistgelesenen Artikel zu schauen, sei falsch, meint der Online-Chef Lior Kodner. Man dürfe die gedruckte Zeitung nicht allein nach den Einschaltquoten von Online ausrichten. Man solle sie zur Kenntnis nehmen und berücksichtigen, aber die Zeitung habe schon ein eigenes Gewicht.
Arabische Journalisten schreiben kaum für die israelische Zeitung. Das beklagt auch der frühere Chefredakteur: Es gibt einen arabischen Kolumnisten, der sehr populär ist, aber sonst keine, auch nicht in den anderen Zeitungen. „Sie wollen nicht“, sagt Hanoch Marmari, und fügt leise an: „Vielleicht schaffen sie es auch nicht.“
Die Israelis scheinen Journalismus bei der Armee zu lernen, guten, unabhängigen Journalismus, wie fast alle versichern. „Die Armee ist die einzige wichtige Journalismus-Schule“, sagt Marmari, und alle nicken, weil auch alle drei Jahre in der Armee dienen (Frauen zwei Jahre) und jedes Jahr zu Reserve-Übungen eingezogen werden: Die Armee als Schule der Nation.
Quelle:
Diskussion am 27. Oktober 2013 im „Israel Democracy Institute“, zusammen mit der Adenauer-Stiftung und der Bundeszentrale für politische Bildung (anläßlich von 50 Jahre Israel-Reisen #bpb50israel)
Die FAZ druckt einen Text, den die taz nicht drucken wollte
„Und wer kontrolliert die Zeitungen?“ Es gibt kaum eine Diskussion mit Politikern und nicht selten auch mit Leser, in der nicht diese Frage gestellt wird. Die Antwort ist einfach: Die Medien kontrollieren die Medien.
Ein gutes Beispiel lieferte die Sonntagszeitung der FAZ: Sie druckte auf der zweiten und dritten Seite einen Beitrag, den die taz-Chefredakteurin Ines Pohl nicht drucken wollte. Thema von Christian Füllers „Die große Legende“ ist die Förderung von Kindesmissbrauch und Pädophile durch die Grünen in ihren Anfangsjahren.
Die FAS kündigte den Beitrag auf der Titelseite an: „Die taz-Chefin wollte den Text nicht drucken. Genannt wurden dafür alle möglichen Gründe, auch in der Redaktionskonferenz.“ Die Gründe waren: Falsche Tatsachen, falsche Kausalketten, handwerkliche Schwächen. Der Hauptgrund war wohl der Wahlkampf und die schädliche Wirkung des Artikels auf die Grünen, die der taz nahestehen.
Füllers Artikel endet:
Der grüne Moralist ist nackt – und alle können es sehen.
Am Rande sei eine Pikanterie erwähnt: Die taz-Chefredakteurin beschwerte sich in der Redaktionskonferenz, dass der Streit öffentlich wurde. Der Autor dieses Blogs erinnert sich gut daran, wie genüsslich die taz Diskussionen anderer Redaktionen in ihrem Blatt ausbreitet – in der Regel ohne die Angegriffenen zu befragen.
FAS 15. September 2013
Kommentar von Anton Sahlender via Facebook
Da gibt es durchaus noch etwas mehr Kontrolle: Gesetze, Presserat, Leser und da und dort Ombudsleute
Wie viele Leser verstehen „Leasing“ in der Überschrift?
„Leasing“ steht in der Überschrift auf der Wirtschaftsseite. „Das Wort verstehen viele Leser nicht“, sagt der Chefredakteur in der Abendrunde.
„Das kennt doch mittlerweile jeder“, erwidert der Wirtschaftschef.
„Aber Leasing ist doch nur etwas für Manager mit Dienstwagen, der normale Mensch holt sich einen Kredit“, lässt der Chefredakteur nicht locker.
„Nein, nein“, stöhnt der Wirtschaftschef und legt sein Gesicht ob solch großer Weltfremdheit in Falten, „Leasing ist auch unter Privatkunden schon das Normale.“ Also – bleibt Leasing in der Überschrift stehen.
Redaktionen machen Zeitungen für ihre Kunden, ihre Leser: Sie sollen und müssen alles verstehen. Auto-Konzerne verkaufen Autos an ihre Kunden: Sie sollen und müssen alles verstehen.
„Allein der Name Leasing schrecke viele bislang doch ab“, sagt Anthony Bandmann, Sprecher der Volkswagen-Bank, heute in der Welt (16. September); zudem sei Leasing für Privatleute eher ein Nischenthema.
Via Facebook:
Sebastian Lange hat geschrieben:
Ja, man könnte auch Mietkauf sagen. Doch ob man es goutiert (!) oder nicht: Manche fremdsprachigen Begriffe haben nun einmal Einzug in den deutschen Sprachgebrauch gefunden. Beim Leasing sind die Aufnahme in den Duden und das BGB Indizien dafür. Und ich werde auch künftig Jeans und T-Shirt ablegen, nur die Schwimmshorts anbehalten und vorher noch schnell das Smartphone beiseitelegen, bevor ich in den Swimmingpool springe.
Ok, ich würde definitiv auch ins Schwimmbecken springen und die Badehose anziehen, aber nicht die Baumwollhose und das Baumwoll-Leibchen ablegen. Und mein Multifunktions-Mobiltelefon beiseitelegen? Ich weiß nicht. Weil das Bemühen, verständlich zu schreiben, aber wirklich wichtig ist, und weil Sie es sind, lieber Herr Raue, kommt hier noch ein „Lächelgesichtchen“: 🙂
Wie Christian Nienhaus einen guten Chefredakteur definiert: Klar, direkt, oft ruppig – aber immer nah bei den Menschen
Wie muss ein guter Chefredakteur sein? Christian Nienhaus, Geschäftsführer der Funke-Mediengruppe, definiert ihn so:
Ein guter Chefredakteur
> hat einen Hang zur Kompromisslosigkeit, gerade auch bei der Wahrheitssuche, und zur Unnachgiebigkeit;
> ist ein führendes Mitglied des „Clubs der offenen Aussprache“: Klar, direkt, sicherlich oft auch ruppig. Aber zielgerichtet und letztlich auch fair;
> hat kein Interesse an Hierarchien: Viel wichtiger ist für ihn das „Machen“, das Gestalten und Bewegen;
> ist ein politischer Journalist: Nicht nur Realität abbilden, sondern auch Realität mitgestalten! Nicht nur berichten über Regierungen und Parteien, über Wirtschaft und Gesellschaft – nein, Entscheidungen und Entwicklungen mitprägen, mitgestalten;
> macht Meinung und mischt sich in den „Meinungskampf“ ein;
> weiß sehr genau um seine Meinungsmacht als Publizist;
> kümmert sich nicht um die Parteien-Zugehörigkeit: Entscheidend ist ausschließlich die Frage, ob der Politiker im Sinne der Kommune oder des Landes gute Politik macht;
> bringt Aktionen auf den Weg ;
> macht seine Zeitung zum selbstbewusstesten, ja wichtigsten Sprachrohr der freiheitlich-demokratischen Grundordnung;
> ist nah bei den Menschen, den wirklichen, nicht den postulierten: Das ist ein wichtiger Faktor für erfolgreichen Lokal- und Regionaljournalismus;
> ist ein Lokalpatriot, er identifiziert sich mit seiner Region;
> entwickelt seine Zeitung weiter;
> gibt dem Regionaljournalismus eine Zukunft, wenn er sich einmischt im Sinne des regionalen Gemeinwohls.
Diese Tugenden eines Chefredakteurs zählte Christian Nienhaus auf in seiner Festrede auf Hans Hoffmeister, den scheidenden Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung, den er als Vorbild pries.
Nienhaus vergass aber nicht zwei Zusätze; der erste:
„Das sind Eigenschaften, die vielleicht das tägliche Miteinander nicht unbedingt einfach und bequem machen. Es sind aber Eigenschaften, die einen guten Journalisten auszeichnen.“
Der zweite: „Es muss nicht immer alles so kantig und eckig sein, vielleicht auch nicht immer so polarisierend.“
Doch gehöre es zum verlegerischen Verständnis der Mediengruppe: „Der Chefredakteur ist frei in der Gestaltung der Inhalte und kann sich unabhängig von Interessengruppen um journalistische Qualität kümmern.
Am Ende ist nur entscheidend, ob es den Lesern gefalle. „Denn auch hier gilt das Credo erfolgreicher Verleger: Wenn man predigen will, muss man dafür sorgen, dass die Kirche voll ist.“
Erste Wahl! Was auf den neuen dpa-Chefredakteur zukommt
So prominent war der Chefredakteur der dpa noch nie besetzt: Sven Gösmann führt mit der Rheinischen Post eine der größten Regionalzeitungen Deutschlands, die – im Vergleich zu anderen – wenig Auflage verliert: Wir dürfen ihn einen sehr erfolgreichen Chefredakteur nennen.
Er weiß genau, wie wichtig ein Lokalteil ist; er weiß genau, wie man die Ausgaben zuschneiden muss, um die Bedürfnisse der Leser zu befriedigen; er weiß genau, wie man in einem großen Verbreitungsgebiet die Wünsche der Städter wie in Düsseldorf und der Kleinstädter und Dörfler wie am Niederrhein unter einen Mantel bringt. Gösmann hat ein Gespür für Themen, gerade auch für regionale Themen, wie kaum ein anderer in Deutschland. Man kann die Idee für einen Aufmacher mindestens ein, zwei Mal in der Woche von ihm borgen.
Man spürt seine Sozialisation bei Bild, wo er Diekmanns Stellvertreter in der Chefredaktion war (der immer noch voll des Lobes ist, wenn er von Gösmann spricht). Man spürt auch seine Lehr- und ersten Herrenjahre im Lokalen und Regionalen bei der Braunschweiger Zeitung.
Fast bin ich geneigt zu sagen: Der Mann ist zu schade für dpa, wo er sein Themengespür nicht mehr voll entfalten kann. Aber er weiß mit Wünschen von Lesern umzugehen: Gut eine Million in Düsseldorf, rund zehn Millionen bei Bild und bald ein paar tausend Redakteure, die täglich in die News bei dpa schauen.
Gösmann hat selber erlebt, was es bedeutet, bei einer großen Zeitung ohne dpa-Texte und Bilder auskommen zu müssen. Er weiß also, wie er seine Kunden bedienen muss. Sein Vorgänger hat die Agentur, die zum Beamtenhaften neigt, heftig durchgeschüttelt und neu organisiert, was ihm nicht nur Freunde eingebracht hat; die Kämpfe, die Büchner beim Spiegel erleidet, kennt er schon von dpa – allerdings ohne die öffentliche Begleitung und Häme der schreibenden Kollegen.
Büchner, nach dem Vorbild von Spiegel Online, schuf „dpa News“, eine grandiose Hilfe für jeden Desk. Er war der große Organisator, da muss Gösmann nicht mehr viel anpacken. Er wird Ideen entwickeln müssen auf einem Gebiet, auf dem Büchner wenig Erfahrung hatte: Das Lokale und Regionale.
Was kann eine Agentur diesen Zeitungen – auch fürs Online-Geschäft – anbieten? Die ersten Versuche mit der „Drehscheibe“ sind dürftig und weitgehend unbeachtet. Die Landesdienste könnte eine Neuausrichtung gebrauchen – nur wohin?
Ich freue mich jedenfalls auf den neuen Chefredakteur, der sicher auch die eine oder andere Geschäftsidee für die Agentur hat jenseits des Mediengeschäfts, das ja zunehmend schrumpft.
Zunächst einmal: Herzlichen Glückwunsch, Sven Gösmann. Der Aufsichtsrat hat die beste Entscheidung getroffen.
Diekmann erfindet ein neues Wort: „Dünnsinn“ – und wundert sich, was so in „unseren Blättern“ steht
Auch in unseren Blättern steht mitunter eine Menge Dünnsinn…
twittert der Bild-Chef. @KaiDiekmann zum ersten: Er erfindet ein neues Wort – „Dünnsinn“. Erfunden hat er es für Kai-Hinrich Renner, der in der Welt raunt:
„Wenn irgendwann in ferner Zukunft die Mediengeschichte der Bundesrepublik Deutschland geschrieben werden sollte“, dann könnten die beiden letzten Augustwochen 2013 „das Vorspiel zu einer existenzbedrohenden Krise des Spiegel sein.
Kai Diekmann zum zweiten: So viel Selbstkritik, zumal ins Nachbarhaus, ist selten. Angefügt hat Diekmann nicht den Kurzlink des Artikels aus der Welt, er macht kurzen Prozeß und schießt mit seinem Smartphone einen Schnappschuss, auf dem der Artikel-Anfang zu lesen ist und deutlich der Name des Autors.
Ich bin eines Ihrer Opfer! – Wie Weimars Oberbürgermeister einen Chefredakteur verabschiedet
Beim Abschied keine tadelnden, gar bösen Worte? Weimars Oberbürgermeister begann seine Rede für den scheidenden TLZ-Chefredakteur Hans Hoffmeister so:
Fast ganz Thüringen ist hier heute zu Ihrem Abschied versammelt – ich vermisse nur eine Gruppe: Ihre Opfer – deshalb fühle ich mich hier heute auch ein wenig einsam.
Stefan Wolf, SPD, wurde 2006 zum Oberbürgermeister Weimar gewählt und 2012 in einer Stichwahl wiedergewählt; Hans Hoffmeister war 22 Jahre Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung, in Wolfs Worten „leidenschaftlich, cholerisch, erzählfreudig“ und oft Wolfs härtester Kritiker.
Der Oberbürgermeister lobte und tadelte in seiner Rede. Er lobte das gemeinsame leidenschaftliche Engagement gegen den Rechtsextremismus und manche Unterstützung etwa bei der Öffnung der Kulturstadt für die klassische Moderne, für das Bauhaus und die Weimarer Republik.
Der Oberbürgermeister erinnert an die „Theaterkämpfe“ – was für ein Wort! – und vor allem an den vierten:
Manche dieser Kämpfe schienen mir damals und scheinen mir auch heute noch in ihrer Vehemenz überzogen gewesen zu sein. In Ihrem vierten Theaterkampf stand ja nicht zuletzt ich in Ihrem Visier. Das waren Medien-Erfahrungen, die ich auch meinen politischen Gegnern nicht unbedingt wünsche. Vor allem aber hätte ich sie meinen Mitarbeitern damals gern erspart.
Mussten diese Verletzungen sein? Erst kürzlich hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt: Ja, das muss so sein. Politiker, Verwaltungsmitarbeiter stehen als Inhaber der staatlichen Machtfülle in der Pflicht, sich ein dickes Fell anzulegen und auch unfaire öffentliche Kritik, persönliche Verletzungen zu ertragen.
Dann widmet sich der Oberbürgermeister den journalistischen Regeln:
Kampagnenjournalismus, lieber Hans Hoffmeister, ist nicht jedermanns Sache, denn er kann auch (sehr faustisch) Gutes wollen und Böses bewirken. Eine Zeitung soll und muss eine Meinung haben, deshalb gibt’s neben dem Bericht z.B. den Leitartikel (ein leider verschwindender Klassiker des Journalismus) oder den Kommentar.
Hans Hoffmeisters Schreibe kennt aber auch seine Mischformen ganz gut und weiß, wie man sie richtig platziert. Erst letztes Wochenende haben Sie noch einmal gezeigt, dass Sie – wenn’s um eine pointierte Meinungsäußerung geht – weder Freunde noch Verwandte kennen, von Bekannten, Politikern oder Kulturschaffenden ganz zu schweigen.
Dieses Kampfblatt TLZ wurde geliebt und geschmäht, und es war und ist ohne die Instanz des Chefredakteurs Hans Hoffmeister nicht wirklich vorstellbar…
Sie haben stets (oder doch fast immer?) geglaubt, was Sie geschrieben haben. Das hat nicht jedem gefallen, doch wenn es Gegenwind gab, z.B. aus der Politik, war Ihnen das – ich zitiere: „scheißegal“, wenn nicht gar das Salz in der Suppe. Das ehrt Sie außerordentlich! Sie haben kämpferisch, emotional, mit Herzblut geschrieben. Manchmal skurril, immer engagiert. Sie haben es sich und uns nicht einfach gemacht.
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