Spotlight – ein exzellenter Film über Journalismus, Recherche, Professionalität und Unabhängigkeit
Spotlight ist ein Film über Journalisten und für Journalisten – der gerade den Oscar für den besten Film gewonnen hat. Erzählt wird die wahre Geschichte des Reporter-Teams „Spotlight“. Es recherchierte für den Boston Globe, dass Hunderte von katholischen Priestern Kinder missbraucht hatten mit Wissen des Kardinals.
Wer mit Begeisterung Journalist ist, sollte sich diesen Film ansehen aus vier Gründen:
- Spotlight zeigt, dass Recherche die Basis des Journalismus und der Demokratie ist: Nur so gelangen Nachrichten in die Öffentlichkeit, die von den Mächtigen unterdrückt werden. Die Demokratie lebt nicht nur von Pressemitteilungen aus den Zentralen, sondern von den Recherchen aus den Hinterzimmern der Macht. Für die Bürger sind diese Nachrichten oft wichtiger als die Verlautbarungen der Mächtigen.
Pressefreiheit, die unsere Verfassung garantiert, ist vor allem die Freiheit der Recherche – und daraus abgeleitet auch die Pflicht zur Recherche. - Spotlight zeigt, wie eine gute Recherche abläuft:
Erstens brauchen die Reporter Hartnäckigkeit, denn jede schwierige Recherche verrennt sich immer wieder in Sackgassen und scheint zu scheitern.
Zweitens braucht die Recherche ein Team, das aus unterschiedlichen Charakteren zusammengesetzt ist, das zusammen arbeitet, das sich gegenseitig hilft und beim Streit um die richtige Strategie nie das Ziel aus den Augen verliert. Der investigative Einzelgänger ist selten, er lebt vor allem in den Kriminalromanen von Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Recherchierende Reporter sind weder abgebrüht noch ausgekocht, sie brechen auch keine Regeln, sondern gehen – wenn ihnen Dokumente vorenthalten werden – auch mal vor Gericht und klagen die Herausgabe ein.
Drittens ist Recherche erst einmal Lesen in Akten, Lesen in Archivbänden, Lesen in Mails und Briefen von Lesern, auch von denen, die man als Querulanten abgestempelt hatte, Lesen in den eigenen Artikeln, die schon erschienen sind. Die Recherche in Spotlight kommt vom Fleck, als in der Bibliothek die Jahresbände des katholischen Bistums entdeckt werden mit Angaben sämtlicher Priester und der Gemeinden, in denen sie wirkten.
Dann folgt das Kombinieren, die Entdeckung der inneren Logik der Geschichte: Wo ist der rote Faden? Was hängt miteinander zusammen? Mit wem müssen wir sprechen? Wo sind die besten Informanten?
Schließlich braucht man die Gespräche mit Opfern, Anwälten und Tätern, und man braucht Geduld, nach der siebten zugeschlagenen Tür weiterzumachen, und man braucht die Gabe, trotz aller Distanz den Informanten Sicherheit und Vertrauen zu garantieren. Mindestens eine Frau braucht jedes Recherche-Team.
Auf eine Tiefgarage zu hoffen, in der hinter einem Pfeiler ein Informant wartet mit einem dicken Umschlag – das ist weltfremd. - Spotlight beleuchtet den Lokaljournalismus mit seinem Mix aus Nähe und Distanz: Den Anstoß zur Recherche gibt der neue Herausgeber Marty Baron – einem Chefredakteur bei uns vergleichbar -, gerade aus Florida nach Boston gekommen: Er liest in einer Kolumne vom Missbrauch und fragt in seiner ersten Ressortleiter-Konferenz, ob weiter recherchiert werde. Ein nassforscher Redakteur spöttelt: Das ist eine Kolumne, da wird nicht mehr recherchiert.
Es wird recherchiert – auch gegen den Unwillen von Spotlight-Chef Walter Robinson, der Hinweise unterdrückt hatte, um seiner Heimatstadt und der Kirche nicht zu schaden.
In einer Schlüsselszene des Films treffen sich Spotlight-Chef Robinson und ein Freund, der den Kardinal berät: „Das ist doch unsere Stadt. Hier leben Menschen, die die Kirche brauchen und deren Vertrauen zerstört wird. Und diese Priester sind doch nur Einzelfälle, wenige faule Äpfel.“
Dieses Gemeinschafts-Gefühl „Wir Kinder dieser Stadt müssen doch zusammenhalten“ schließt den Fremden aus: „Der neue Herausgeber kommt aus New York und Florida, für ihn ist Boston nur eine Zwischenstation in seiner Karriere. Bald geht er wieder.“
Argumentiert wird mit dem Wohl der Stadt: Doch die Mächtigen verwechseln – nicht nur in Boston – bisweilen ihr eigenes Wohl mit dem Wohl der Stadt. Das Wohl der Stadt ist das Wohl der Bürger, die alles Wichtige wissen müssen.
Eine gute Lokalredaktion braucht beide: Den Fremden mit seiner Distanz; er ist nicht Teil eines Netzes von Freunden, die man schon aus dem Kindergarten kennt. Und sie braucht den Einheimischen, der die Stadt und ihre Menschen kennt, der Kontakte hat und sie zu nutzen weiß (oder auch nicht). Beide zusammen sind unschlagbar.
- Spotlight beweist, wie wichtig Unabhängigkeit für eine Zeitung ist. Der Verleger möchte am liebsten Ruhe haben und setzt seine Ruhe gleich mit Ruhe in der Stadt. Die Reporter möchten auch Ruhe haben. Ein Unruhiger, der übrigens in sich ruht, ein Unruhiger wie der Chefredakteur an der Spitze reicht, um die Profis in der Redaktion an ihre Pflicht zu erinnern: Nutzt Eure Unabhängigkeit! Erfüllt Euren Auftrag, der lautet: Seid Sprachrohr der Bürger, nicht Sprachrohr der Mächtigen!
Am Ende gibt die Zeitung den Opfern eine Stimme und rüttelt die wach, die der Kirche vertrauten, obwohl ihre Funktionäre das Vertrauen missbraucht hatten.
Als der neue Chefredakteur zum Antrittsbesuch beim Kardinal erscheint, lächelt der Mann Gottes: „Eine Stadt erblüht, wenn ihre großen Institutionen zusammenarbeiten.“ Marty Baron, der Chefredakteur, lächelt nicht zurück und antwortet trocken: „Eine Zeitung funktioniert am besten, wenn sie alleine arbeitet.“
Der Film zeigt den Wert der tiefen Recherche, und er zeigt ein Defizit des deutschen Journalismus: Nur in den Magazinen wie dem Spiegel und in den nationalen Zeitungen, vorbildlich in der Süddeutschen, wird systematisch recherchiert, in den Regional- und Lokalzeitungen selten oder gar nicht. Wir brauchen solche Recherche-Teams wie „Spotlight“: Vier Redakteure, drei Männer und eine Frau, sind es in Boston.
Eine Kosten-Nutzen-Rechnung ist schwierig: Wer an eine langen und schwierigen Recherche arbeitet, fällt für die Tagesproduktion aus. Ist er erfolgreich, stärkt er das Vertrauen der Leser – und das ist mittlerweile unbezahlbar.
Der Boston Globe druckte nach der ersten Reportage, die den Skandal enthüllte, noch sechshundert weitere. Da stimmte sogar die Kosten-Nutzen-Rechnung.
Auch in Deutschland gab es viele Missbrauchs-Fälle. Erst acht Jahre nach dem Skandal in Boston deckten auch deutsche Reporter systematisch auf, beginnend mit einer Recherche der Berliner Morgenpost im Canisius-Kolleg – die eine professionelle Qualität hatte wie die des Boston Globe.
Vorbildlich: Welt-Chef Aust begründet seinen Lesern, warum er einen Redakteur entlässt
Der Welt-Redakteur Günther Lachmann berichtet über die AfD, bot aber gleichzeitig der Partei seine Beratung an – ohne den Welt-Chefredakteur zu informieren und seine Nebentätigkeit genehmigen zu lassen; er wusste wohl, dass er diese Genehmigung nie bekommen würde; nicht belegt ist, ob er ein Honorar dafür verlangte, wie der AfD-Politiker und Europa-Abgeordnete Marcus Pretzell behauptet.
Mails des Welt-Redakteurs belegen allerdings, dass er seine Dienste angeboten hat; laut Aust räumte der Redakteur ein, Autor der Mails zu sein. Daraufhin trennte sich der Welt-Chefredakteur von seinem Redakteur mit der Begründung:
Glaubwürdigkeit ist das wichtigste Kapital des Journalismus. Wer diese aufs Spiel setzt, schadet nicht nur der Zeitung oder Zeitschrift, für die er arbeitet. Er schadet der gesamten Publizistik.
So hätten viele Chefredakteure entschieden, aber nur wenige hätten auch ihre Leser informiert. „Liebe Leserinnen, liebe Leser!“ begann Stefan Aust sein Editorial, in dem er unter anderem schreibt:
Die E-Mails allein sind grobe Verstöße gegen fundamentale journalistische Grundsätze. Ein Journalist, der sich als PR-Berater einer Partei andient, hat seine Unabhängigkeit verloren, seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel gesetzt – und damit seinen Job… Es ist nicht das erste Mal, dass Mitarbeiter eines Unternehmens, auch eines Presseunternehmens, gegen ihren Arbeitsvertrag, den generellen Presse-Kodex oder andere eigentlich selbstverständliche Grundsätze verstoßen. Das macht die Sache nicht besser.
Wir können aber nichts anderes tun, als den Fall lückenlos aufzuklären und die Vorgänge so offenzulegen, wie es arbeitsrechtlich irgend möglich ist. Dazu gehört auch, Herrn Lachmanns Berichterstattung über die AfD nachträglich kritisch zu hinterfragen. Ein Vorgang dieser Art wird weder geduldet noch vertuscht oder beschönigt. Das sind wir Ihnen, den Leserinnen und Lesern, den journalistischen Kollegen bei der „Welt“, das sind wir uns selbst schuldig.
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Quelle: Die Welt 15.2.2016 (Online: http://www.welt.de/politik/deutschland/article152256168/Warum-sich-die-Welt-von-Guenther-Lachmann-trennt.html)
Typologie von Chefredakteuren: Der Redaktions-Tyrann
Er (Augstein) ist ein politischer Faktor, großer Kampagnenführer, Redaktions-Tyrann. Aber er ist eben auch eine unendlich komplizierte, einsame, verletzliche Person.
So charakterisiert Claudia Tieschky den Spiegel-Chefredakteur und Herausgeber Rudolf Augstein (1923-2002) in einer Besprechung des Buchs „Der Herausgeber“ der Augstein-Vertrauten Irma Nelles. Der Redaktions-Tyrann wäre der neue, der siebte Fall in der Chefredakteur-Typologie im Handbuch des Journalismus.
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Quelle: SZ 14.2.2016 „Nachtschwester Irma“
Rabauken-Affäre in Mecklenburg: Auch Landgericht bestätigt Geldstrafe gegen Redakteur
Ein Jäger hängt ein totes Reh an die Anhänger-Kupplung, fährt damit über die Bundesstraße 100, wird zum Thema in den sozialen Netzwerken und schließlich vom Nordkurier-Redakteur Thomas Krause als „Rabauken-Jäger“ tituliert. Das Amtsgericht verurteilt den Redakteur zu 1000 Euro Strafe wegen Beleidigung, das Landgericht bestätigt heute das Urteil (Freitag, 5. Februar 2016)

Ja. Weil es am Ende jeden betrifft. Wenn sich unsere Leserinnen und Leser auf Facebook über einen Politiker aufregen und ihn dann vielleicht sogar „Schwachkopf“ nennen. Oder wenn uns jemand in einem Leserbrief schreibt, das Amt XY sei in seinen Augen „geistig minderbemittelt“. Die bekommen dann künftig alle Post vom Staatsanwalt, wenn dieses Urteil Bestand hätte.
> Wie das?
Naja, das sind alles Meinungsäußerungen. Vielleicht nicht so nette, aber eben doch Meinungen. Und die freie Meinungsäußerung wird von unserer Verfassung geschützt.
> Heißt das im Umkehrschluss, man darf alles sagen? Und insbesondere Journalisten? Stehen sie über dem Gesetz?
Nein, um Gottes Willen. Die Frage ist nur, wo hört eine Meinung auf und wird zur reinen Beleidigung.
> Und wann ist das so?
Das ist schwer zu sagen – am Ende oft eine Auslegungssache. Unser Verfassungsgericht urteilt aber seit Jahrzehnten, dass die Grenzen weit gesteckt sind. Das ist auch gut so, denn niemand sollte in Deutschland Angst haben, seine Meinung zu sagen.
> Kann ich also ungehindert Menschen in der Öffentlichkeit als Mörder, Kinderschänder oder Geisteskranke bezeichnen?
Nein! Die Grenze ist immer da erreicht, wo die Äußerung überhaupt nichts mehr mit der Sache zu tun hat, sondern nur noch die Person treffen möchte. Außerdem darf ich nicht unter dem Deckmantel einer Meinungsäußerung falsche Tatsachen verbreiten. Einen Mörder darf ich nur jemanden nennen, der auch als solcher verurteilt wurde.
Die Kölner Silvesternacht, die Medien und das Verschweigen: Die Wahrheit ist politisch korrekt
Was für ein Satz: „Die Wahrheit ist politisch korrekt“! Er beendet einen Kommentar von Chefredakteur Jost Lübben, am 7. Januar 2016 in der Westfalenpost veröffentlicht. Lübben antwortet einem Leser, der die Zeitung nach den Misshandlungen von Frauen in der Silvesternacht kritisiert: „zu spät, viel zu wenig und keine Hinweise auf die Täter“.
Jost Lübben antwortet in seiner Zeitung:
Es geht ums Grundsätzliche. Werden Journalisten gesteuert?Ich bin seit 30 Jahren in diesem Beruf, und in dieser langen Zeit hat noch kein Politiker oder Verleger ernsthaft versucht, mich von einer Berichterstattung abzuhalten oder zu einer bestimmten Tendenz zu drängen. Unser Produkt wird jeden Tag oder jeden Monat von Menschen bezahlt, denen unsere Arbeit etwas wert ist.Das schafft Unabhängigkeit, bringt aber auch Verantwortung mit sich. Von der Gefahr, Fehler zu machen, befreit es nicht. Einen solchen Fehler haben wir am Montag gemacht. Nicht weniger, aber auch nicht mehr.Die ganze Dimension der Ereignisse rund um die Kölner Domplatte war größer als zunächst eingeschätzt. In der gestrigen und der heutigen Ausgabe nimmt das Thema großen Raum ein und es wurde keineswegs verschwiegen, dass die mutmaßlichen Täter vor allem dem nordafrikanischen oder arabischen Raum zuzuordnen sind. Niemand hält uns davon ab.
Gerade aber, wenn viele Umstände ungeklärt sind, muss Sorgfalt vor Schnelligkeit gehen. Nur ein Beispiel: Ging es im Kern um sexuelle Übergriffe auf Frauen oder um widerliche Ablenkungsmanöver für dreiste Diebstähle von organisierten Banden? Die Antwort auf diese Frage ist für das künftige Handeln des Staates bedeutsam.Die Wahrheit bleibt auf jeden Fall politisch korrekt.
Lügenpresse (9) Meine Chronik des Jahres: Wie Regionalzeitungen reagieren

So schickte eine Leserin der Ruhr-Nachrichten eine Seite zurück, auf denen Fakten zu Flüchtlingen aufgelistet wurden
„Psychokrieg mit Todesanzeigen gegen Journalisten, die über Neonazis berichten“, so begann der erste von meinen neun Blogs zur Lügenpresse.
Peter Bandermann ist für mich der Journalist des Jahres: Der Reporter der Ruhr-Nachrichten musste im Internet seine eigene Todesanzeige lesen, von Neonazis ins Netz gestellt; der Spruch am Kopf der Anzeige endet mit der Zeile „Endlich einer weniger. Danke Oh Herr“. So will Pegida, so wollen die Neonazis mit dem „Herrn“ das Abendland retten. Peter Bandermanns Haus wurde mit Farbbeuteln beworfen, er macht trotzdem weiter.
Lügenpresse 2 – Chef der Wügida gibt der Main-Post kein Interview
Pegida ist kein ostdeutsches Phänomen, selbst im christlichen Würzburg rüsten die Neonazis auf gegen die Zeitung.
Lügenpresse 3 – Des Lesers Lust an der Verschwörung
Ein Leser schreibt: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit“ und belegt dies mit einer Verschwörungs-Theorie. Die Redaktion in Erfurt widerlegt sie – in der Zeitung
Lügenpresse 4 – Ein Chefredakteur zeigt Haltung
Der Chefredakteur ist Wolfram Kiwit von den Ruhr-Nachrichten, der eine komplette Seite mit Fakten zur Flüchtlings-Devbatte druckt. Eine Leserin schickte die Seite an die Chefredaktion zurück und schreibt quer drüber „Lügenpresse“. Kiwit reagiert in seinem Blog und erläutert die Haltung der Redaktion: „Versachlichen, gründlich recherchieren, Fakten sprechen lassen und nicht auf den Zug eines meist parteilichen Empörungs-Journalismus springen. Wir machen einfach weiter.“
Lügenpresse 5 – Wie sich Spiegel-Reporter von einem Diktator nicht korrumpieren ließen
So arbeitet also die deutsche „Lügenpresse“: Vom Diktator der Ex-Sowjet-Republik Kasachstan lässt sie sich nicht manipulieren, und von prominenten deutschen Ex-Politikern lässt sie sich auch nicht zur Beugung der Wahrheit verführen.
Lügenpresse 6 – Können wir Zeitung machen gegen die Vorurteile der Leser?
Was folgt aus den Vorwürfen der Leser für die Redaktion? Populismus? Nein, aber in Analysen, Kommentaren und Hintergrund-Geschichten soll sie die Erfahrungs-Welt der Leser aufnehmen und einordnen. Dazu gehört vor allem, die Meinungen der Leser ins Blatt zu heben, die Zeitung zum Forum zu machen, auch wenn es bisweilen wehtut.
Lügenpresse 7 – CSU-Friedrich als parlamentarische Pegida, eine rechte APO ahnend
Einfach nur ein Zitat aus Bayern: „Die veröffentlichte Meinung und die öffentliche Meinungen sind 180 Grad auseinander.“ Ein Politiker-Zitat.
Lügenpresse 8 – Wenn Leser lügen
Rund acht Prozent der Leser lobten vor zehn Jahren ein Heft des NZZ-Magazin „Folio“ zum Thema Katastrophen – das es nie gegeben hat.
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Am 30. September reagierte
Thomas Bärsch reagierte mit fünf Punkten in der Zeitung:
1. Unser oberster Anspruch heißt Wahrhaftigkeit
Wer jemanden der Lüge bezichtigt, der beschuldigt ihn, vorsätzlich wahrheitswidrig zu reden oder zu schreiben. Er nimmt zugleich für sich in Anspruch zu wissen, was die Wahrheit ist.Wir Journalisten erheben diesen Anspruch für uns nicht – vor allem aus der Erkenntnis heraus, dass es die eine objektive und unveränderliche Wahrheit oft nicht gibt. Stattdessen haben wir uns die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit zur Aufgabe gemacht.Wahrhaftigkeit heißt, nach der Wahrheit zu streben. Es heißt nicht, in ihrem vollständigen Besitz zu sein oder dies von sich zu behaupten. Wenn wir berichten, dann im Ergebnis von Recherchen, von Informationen aus verschiedenen Quellen und oft auch auf der Grundlage unserer Beobachtungen – zum Beispiel bei Demonstrationen.
2. Wir reklamieren für uns keine Vollständigkeit
Es gehört zur journalistischen Sorgfalt, dass wir unsere Leser erkennen lassen, was recherchierte Fakten, was Aussagen Dritter und was unsere eigenen Beobachtungen sind. Dabei vermeiden wir es, den Eindruck zu erwecken, der von uns gelieferte Bericht, das von uns gezeichnete Bild spiegele die Wirklichkeit bis ins letzte Detail wider. Vielmehr wählen wir oft aus einer Vielzahl von Fakten und Aussagen aus, die es den Lesern ermöglichen, sich ein möglichst ausgewogenes und umfassendes Bild zu machen und eine eigene Meinung zu entwickeln.Wichtig ist dabei für uns vor allem, dass wir keine Fakten weglassen, die entscheidend für das Verständnis eines Sachverhalts sind oder diesen sogar konterkarieren.
3. Weglassen ist keine Fälschung und keine Lüge
Immer wieder sehen wir uns mit dem Vorwurf konfrontiert, wir würden die Wirklichkeit verfälschen, indem wir Fakten oder auch einzelne Meinungsäußerungen nicht veröffentlichen. Dann ist das Wort „Lügenpresse“ schnell gesagt.Tatsache ist, dass wir Fakten und Aussagen nach ihrer Relevanz für die Beurteilung eines Sachverhalts wichten. Darüber, ob unsere jeweilige Entscheidung richtig ist, wird vor allem in der aktuellen Flüchtlingsdebatte oft gestritten – übrigens auch während der Entscheidungsfindung innerhalb der Redaktion.Entscheidend ist für uns, ob Informationen nachprüfbar oder glaubhaft sind. Wenn es etwa einen Polizeieinsatz in Flüchtlingsheimen gibt, berichten wir darüber.
4. Facebook & Co. sind nicht die Wirklichkeit
Wir berichten nicht über alles, was wir hören oder lesen. Das gilt vor allem dann, wenn es auf Gerüchten beruht, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten. Für uns gilt: dass eine Behauptung oft wiederholt wird, macht sie nicht wahr.Leider beobachten wir eine gewisse Neigung mancher Menschen, Gerüchten und Mutmaßungen zu glauben, dagegen aber von Journalisten recherchierte oder hinterfragte Informationen als Lüge abzustempeln. Stammen diese Informationen gar aus offiziellen Quellen – also zum Beispiel von Behörden –, lässt der Vorwurf der Staatsnähe meist nicht lange auf sich warten.
5. Meinungs- und Pressefreiheit sind zwei Dinge
Gern wird jetzt von diesen beiden Freiheiten gesprochen. Die erste ist ein Grundrecht, das den Bürgern garantiert, ihre Meinung frei und offen zu äußern – auch gegen den Staat. Der AfD-Fraktionschef Björn Höcke nutzt dieses Recht, wenn er etwa auf Demonstrationen spricht.Die Pressefreiheit dagegen ist das Recht der Presse auf freie Ausübung ihrer Tätigkeit – ohne staatliche Zensur oder jedwede andere Form der Einmischung von außen. Zu dieser Freiheit gehört für uns, dass wir selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang wir von der Aktuellen Stunde und der Demonstration am Mittwoch berichten. Schon jetzt können wir versprechen, dass wir dies ausführlich tun werden. Nicht versprechen können wir dagegen, dass unsere Berichterstattung allen passen wird.
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Zum guten Schluss für alle Chefredakteure, die 2015 wenig zu lachen hatten. Thomas Bärsch ist amtierender Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, der das Schmunzeln nicht verlernt hat; er schrieb am 13. Dezember diesen Tweet
Ist das laute Abspielen von Heino eigentlich noch Ruhestörung oder schon Landfriedensbruch?
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Im Dezember ist dieser Blog zum Tausender geworden: Über tausend Blog sind seit der Gründung 2012 von 160.000 Besuchern gelesen worden. Es ist ein kleiner Blog geblieben, bewusst auf eine kleine feine Leserschaft von Journalisten konzentriert und auf Leser, die Journalismus als Garanten der Demokratie verstehen.
Ich wünsche allen Lesern, Kommentatoren und Kritikern meines Blogs ein gutes Jahr 2016, in dem sie das Lachen und Lächeln nicht verlernen sollten.
Wer ist Uwe Vetterick – der Chefredakteur des Jahres 2015?
Bei der Wahl der „Journalisten des Jahres“ werden die beachtet, die aus dem Fernsehen bekannt sind wie Anja Reschke oder Oliver Welke. Sie haben die Auszeichnung zu Recht erhalten – ebenso wie Hans Leyendecker von der Süddeutschen, der bescheidene Star unter den investigativen Rechercheuren, für sein Lebenswerk. Aber da ist auch noch Uwe Vetterick, Sächsische Zeitung, der Chefredakteur des Jahres bei den regionalen Tageszeitungen. Diese Ehrung wird überregional wohl wieder untergehen:
Wer ist Uwe Vetterick? In der Tat wohl der beste deutsche Chefredakteur, dessen Laufbahn so faszinierend ist wie die Zeitung, die er macht und die dank seiner Strategien und Ideen zu einer großen wurde – nicht nur im Osten Deutschlands.
Uwe Vetterick ist Ostdeutscher und begann seine Karriere als Zwanzigjähriger in der Wende: Eine beneidenswerte Startposition!
Ich bin Journalist geworden, weil mich ein Verleger und ein Chefredakteur im Frühjahr 1990 zu einem Praktikum überredet haben
schreibt er, in der ihm eigenen Bescheidenheit, im Online-Portal der Sächsischen Zeitung
Er begann bei dem in der Wende neu gegründeten Greifswälder Tageblatt, für das Unternehmer aus dem Oldenburger Münsterland ihr Geld gegeben hatten. Es war eine phantastische Wende-Zeitung, die 1990 als erste ostdeutsche den Deutschen Lokaljournalismus-Preis bekam – in dem Jahr, als Vetterick als Volontär begonnen hat.
Der Preis begleitete Vetterick: Als Chefredakteur der Sächsischen Zeitung holte er ihn 2013 nach Dresden für den „SZ-Famlienkompass“, für eine Serie mit 400 Artikeln: Wie glücklich sind die Familien in den sächsischen Städten? Was ist gut? Was fehlt?
Vetterick wird wohl ein Abonnent dieses Preises werden. Seine erste Zeitung überlebte den Preis und die ersten Jahre nicht: Die erst gelungene, dann schreckliche Geschichte des Greifswälder Tageblatts lohnt, einmal aufgeschrieben zu werden.
Für Vetterick war sie ein guter Start, wie übrigens auch für Frank Pergande, der bei der FAZ eine beeindruckende Karriere gemacht hat.
Vetterick stieg steil auf, wurde stellvertretender Chefredakteur bei Bild und verantwortlich für den Osten (in dem Bild nie Fuß fassen konnte), ging für ein Jahr als Vize-Chefredakteur zum Tagesanzeiger in die Schweiz – als einer der ersten Deutschen; heute leitet mit Wolfgang Büchner, dem Ex-Spiegel– und dpa-Chef, ein Deutscher die Blick-Gruppe, der sich mit Michael Ludewig von dpa eine Art Super-Deskchef geholt hat.
Stellvertretende Chefredakteure von Bild werden gute Chefredakteure bei Regionalzeitungen: Es gibt einige Beispiele, die herausragenden sind Uwe Vetterick und Sven Goesmann, der die Rheinische Post wieder in Schwung gebracht hatte und nun bei dpa reüssiert, nicht nur weil er gerade drei Frauen in die Chefredaktion berufen hat.
Wie kam Vetterick aus der Schweiz zur Sächsischen Zeitung:
Ein Anruf des damaligen Geschäftsführers, zwei gemeinsame Essen (einmal Frühstück, einmal Brunch), ein ungewöhnliches Gespräch. Das war’s.
In Dresden spielt Uwe Vetterick seine entscheidende Stärke aus: Er ist Stratege, der Kopf der Redaktion, der mehr Ideen hat als der Verlag je umsetzen kann, der aber auch Ideen seiner Redakteure zulässt, der ermutigt, vorantreibt und bei Flops nicht die Peitsche schwingt, sondern gleich das nächste Projekt aus den Ruinen des alten auferstehen lässt. So nahm zwar vor wenigen Wochen der Verlag die Wochenzeitung AuSZeit nach einem Jahr vom Markt, weil nur tausend Exemplare verkauft wurden, aber Neues aus der Vetterick-Werkstatt wird sicher folgen.
Er besitzt das Vertrauen von Julia Jäckel, der Chefin von Gruner+Jahr, die weiß, dass Vetterick die SZ zu einer Zeitung gemacht hat, die man nicht mehr verkaufen will – und auch nicht verkaufen muss, weil Erfolg das beste Argument ist.
Vetterick nutzt intensiv die eigene Leser-Forschung: „Lesewert“: Er weiß genau, was seine Leser wirklich lesen und richtet nach den Bedürfnissen der Leser seine Zeitung aus – wohl wissend, dass selbst eine kontinuierliche Leserforschung nur das messen kann, was in der Zeitung steht. Für das Neue, das Experiment, das Überraschende ist er verantwortlich. So antwortet er auch auf die Frage, was er an seinem Job mag: „Geschichten erzählen, Blattmachen, Menschen überraschen.“
Und da ein Chefredakteur kaum mehr zu eigenen Recherchen und großen Geschichten eine Zeit findet, geht die Antwort auf die Frage nach seiner besten Story in die Greifswälder Zeit zurück:
Sie ging kurz erzählt so. Ein Mann, Mitte 50, verliert durch Krankheit seine geliebte Frau. Eine Frau, Mitte 50, verliert durch Krankheit ihren geliebten Mann. Durch Zufall werden beide nebeneinander begraben. Zufällig auch treffen sich bei der Grabpflege Witwe und Witwer und verlieben sich ineinander. Die Geschichte erschien zu einem Totensonntag. Selbst aus großem Leid kann neues Glück wachsen.
Pegida ist für Dresden ein Unglück, für Vetterick bringt sie die Auszeichnung als Journalist des Jahres. Er hätte sie auch ohne Pegida verdient gehabt – aber wer schaut schon genau in die Provinz hinein?
So bezieht sich die Jury-Begründung auch auf die Pegida-Berichterstattung:
Uwe Vetterick und seine Redaktion erleben vor Ort Tag für Tag, was es heißt, wenn die Stimmung im Land kippt. Seit Ende 2014 werden jeden Montag ,Lügenpresse‘- Parolen direkt vor der Dresdner Verlagstür skandiert. Die Berichterstattung über die politische Stimmung und Spaltung ist eine permanente Gratwanderung. Er muss seine angefeindete Redaktion auf Kurs halten und motivieren. ,Rückendeckung von oben‘ ist täglich nötig und wird von Vetterick gegeben. Zugleich treibt er redaktionelle Innovationen voran (z. B. das Onlineportal Schul-Navigator). Bester Lokaljournalismus unter widrigsten Bedingungen: Das verdient hohe Anerkennung.
Auch den SZ-Reporter Ulrich Wolf ehrt die Jury:
2015 war das Jahr, in dem Dresden nicht mehr als Elbflorenz glänzte, sondern zur Pegida-Stadt wurde. Ulrich Wolf hat Recherche dagegen gesetzt – und u.a. Lutz Bachmanns kriminelle Machenschaften aufgedeckt. Und er hat sich jeden Montag aufs Neue zwischen die Demonstranten gestellt – trotz unmittelbarer Drohungen gegen ihn persönlich. Er ist der Journalist Deutschlands, der sich am längsten und intensivsten mit dem Thema Pegida beschäftigt und von dessen Recherchen viele nationale Medien profitieren.
Wer fragt, wie ein Chefredakteur das alles leisten kann, der schaue auf die Online-Seiten der SZ, wo Vetterick seinen typischen Arbeitstag beschreibt – mit gerade mal dreißig Minuten Pause zwischen 8.30 und 21 Uhr:
08.30 – 10.30 Uhr Zeitungslektüre, Agenturen checken, Kaffee trinken
10.30 – 11.00 Uhr Konferenz mit den newsgetriebenen Ressorts und Onlinern
11.00 – 12.00 Uhr Verwaltungskram
12.00 – 13.00 Uhr große Redaktionskonferenz
13.00 – 13.30 Uhr Lunch
13.30 – 14.30 Uhr neue Redaktionsprojekte besprechen und entwickeln
14.30 – 21.00 Uhr Blattmachen
Herzlichen Glückwunsch, Uwe Vetterick!
Christoph Dieckmann in der ZEIT über Raue als Aufbauhelfer Ost – und über Bräutigam und Ludewig
Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. – Klartext-Verlag, 14.95 Euro
Raue weiß: Gefühle sind Fakten.
Der Satz hat mir gefallen im Porträt von Christoph Dieckmann zu meinem Buch „Die unvollendete Revolution“ – erschienen in der Zeit im Osten.
Drei westdeutsche „Aufbauhelfer der Nachwendezeit“, die ein Buch über ihre Ost-Zeit geschrieben haben, porträtiert Christoph Dieckmann in der Ost-Regionalausgabe der Zeit, in der oft gute Geschichten zu lesen sind – und man sich fragt: Warum werden die den westdeutschen Lesern nicht zugemutet? Für die Zeit-Leser gibt es immer noch eine Mauer.
Das sind die drei Aufbauhelfer, die Dieckmann porträtiert:
- Der Politiker Hans Otto Bräutigam: Er war in Ostberlin Leiter der Ständigen Vertretung und nach der Wende Justizminister in Stolpes Brandenburger Kabinett
- Der „Wirtschaftsdirigent“ Johannes Ludewig: Er koordinierte für Kohl die Treuhand
- Der Chefredakteur Paul-Josef Raue – der Autor dieses Blogs -, der in Eisenach, Magdeburg und Erfurt Zeitung machte.
Anlass für den Artikel des Ostdeutschen Dieckmann sind „drei merkwürdige Erinnerungsbücher“:
Drei Westdeutsche verfassten ostdeutsche Memoiren… Ich las ihre Geschichten meines Landes mit Eifersucht. Beschrieb je ein Ostler die westdeutsche Übergangsgesellschaft? Gab es die überhaupt nach 1990?
Im Porträt geht Christoph Dieckmann ausführlich auf den spektakulären Wechsel in der Erfurter Chefredaktion 2009 ein: Ein Westdeutscher löst den Ostdeutschen Lochthofen ab, den Dieckmann als „orientales Organ“ und „unbotmäßigen Ossi“ ehrt.
Es war in der Tat „ein Donnerschlag“:
Unvergesslich bleibt Raue, wie er sich 2009 der TA -Redaktion als Lochthofens Nachfolger vorstellte. Er blickte in 120 Augenpaare und sah Hass. Ähnlich wütend hätten die Leser reagiert.
Die Leser haben in der Tat wütend reagiert. Eine Auswahl der Leserbriefe kann jeder in meinem Buch zu Dieckmanns Porträt lesen: Die unvollendete Revolution. Dem Hass in den Augen der Redakteure widerspricht ein anonymer Kommentator, offenbar vor sechs Jahren in der Redaktion dabei:
Ich für meinen Teil habe nicht hasserfüllt geschaut, als sich Paul-Josef Raue vorgestellt hat. Dazu hatte sich viel zu viel Frust über das unumschränkt totalitäre Kalifat seines Vorgängers angesammelt. Es ist ein schier unausrottbares Märchen, dass sich *alle* TA-Journalisten bis 2009 wie Nibelungen (oder Stockholm-Effekt-Betroffene) vor ihren Meister geworfen haben/hätten. (Spielbergtor)
Lob liest jeder Autor gerne, und Christoph Dieckmann ist eine ostdeutsche Autorität:
Raues Buch Die unvollendete Revolution liest sich als kundiges Kompendium ostdeutscher Übergangsdebatten. Raue weiß: Gefühle sind Fakten. Sozialpsychologisch spürsam schreibt er über Neonazismus und den Nährboden des NSU, über Besser-Wessis und die heimattreue Abwehr des Fremden, über die Töpfchen-Debatte und die erheblichen Generationsunterschiede Ost. Die Thüringer Allgemeine habe er zum Leserforum gemacht. Seine Überzeugung laute: Keine Tagesschau auf Seite 1!
„Raue weiß: Gefühle sind Fakten.“ Das ist ein schöner, aber ungewöhnlicher Satz für Journalisten, die auf Fakten schauen, auf Nachrichten und Informationen pur. Aber: Zwar müssen die Nachrichten stimmen, aber du musst als Journalist auch die menschliche Seele kennen, um die Menschen wirklich zu erreichen. Du musst die Menschen respektieren.
Das Ende des Porträts ist ein Potpourri: Stichworte auf Stichworte aus einem vierstündigen Gespräch. Es ist in der Tat eine Tortur, aus einem solch langen Gespräch einen roten Faden zu stricken.
Auf dem Platz im Erfurter „Willy B.“, auf dem Dieckmann beim Interview gesessen hatte, saß vor einigen Jahren Steffen Grimberg als taz-Redakteur. Nach einem offenen Brief, den 80 Redakteure unterschrieben hatte, wollte er herausfinden, wie ich auf das Misstrauen der Redaktion reagiere. Das war schon ein Fortschritt: Als ich in Erfurt als Chefredakteur begann, schrieb er über mich, ohne auch nur einmal mit mir zu sprechen. Da verwandelte Grimberg die Medienseite der taz in eine recherchefreie Zone, wohl wissend: Recherche ist bisweilen hinderlich, wenn man eine Mission hat.
Steffen Grimberg sprach im Willy B. lange mit mir, charmant, offen – und schrieb ein Interview, das mit unserem Gespräch wenig gemein hatte. Wir hatten Autorisierung vereinbart, ich schrieb das Interview um, und er druckte es nach einigen Tagen des Zögerns mit dem Hinweis:
Das Interview ist von ihm (Raue) noch überarbeitet und verdichtet worden. Das ist nicht unüblich, geht aber in diesem Fall über das übliche Maß hinaus.
Das war okay.
Grimbergs Thema war die Regionalisierung der Zeitung. Es ist abschließend auch ein Thema für Dieckmann:
Regionalität als Tugend? Nicht als enge Welt? Die Menschen leben, wo sie leben. Putsch in Indonesien? Du hast das Land nie gesehen. Raue kommt soeben aus Simbabwe. Demnächst will er nach Eritrea. Seit Sommer 2015 ist er Unruheständler. Große Vorhaben: Stiftungen…
Das Porträt endet mit einer Art Raueschem Credo:
Der Grundauftrag des Journalismus, erklärt Raue, ist Kontrolle der Macht…Der Leser, der Bürger müsse begreifen, dass er selbst Träger der Demokratie ist. Viele Ostler fühlten sich nicht als Gesamtdeutsche, dabei sei der Osten Deutschlands stärkerer Teil. Hier bewältige man Veränderungen, wie sie der Westen nicht ertrüge.
Ich hätte gerne mehr gelesen, aber das ist vermessen.
Meine ostdeutschen Freunde und Kollegen können mit dem Porträt nichts anfangen: Was ist nur Dieckmanns Botschaft?, fragen sie. Eine typisch ostdeutsche Frage?
Meinen westdeutschen gefällt es, einer schrieb:
Lochthofen wird als “unbotmäßiger Ossi” geadelt. Naja, bisschen komplizierter war es wohl doch. Dabei fällt mir der Bedeutungswandel auf, den das Wort “unbotmäßig” durchgemacht hat: bis weit in die 60er Jahre hinein war es eindeutig negativ besetzt. Jetzt aber darf sich rühmen, wer als “unbotmäßig” klassifiziert wird.
Was macht eine Zeitung erfolgreich? Ein Standpunkt, nicht Nachrichten (Zitate der Woche)
Die Wahrnehmung der Richtlinienkompetenz ist für einen Chefredaktor zentral. Das ist in jeder erfolgreichen Zeitung so.
Eric Gujer (53) ist Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung. Dies sind die schönsten Sätze aus einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung:
> Im Internetzeitalter sind Nachrichten Commodities. Gratisware. Was zählt ist ein Standpunkt.
> Wie die „Zeit“ den großstädtischen deutschen Studienrat abholt, das ist hohe Kunst.
> Wir haben einen sehr gepflegten Sprachstil. Wir formulieren vielleicht nicht so umgangssprachlich wie die Blätter in Deutschland. (Zur Frage, warum auffallend oft Stilblüten in der NNZ stehen wie „Bäume wachsen nicht in den Himmel“)
Quelle: Süddeutsche Zeitung, 12. Dezember 2015
„Geh zu den Quellen! Geh den Dingen auf den Grund!“ – Der Fragebogen des „Medium Magazin“
„Ein guter Journalist macht sich nicht gemein mit einer Partei, auch nicht mit der seiner Wahl“, antworte ich auf die Frage, warum ich keiner Partei angehöre: Zu lesen im Fragebogen des aktuellen Medium Magazin auf der letzten Seite – als Rausschmeißer aus dem Heft (September 2015). Hier die Fragen und Antworten:
- Warum sind Sie Journalist geworden?
Ich wollte zuerst die Welt verändern – und dann Wolf Schneider. Das war zäher als erwartet. Zum Glück habe ich mich überzeugen lassen: Es reicht, die Mächtigen zu kontrollieren und den Menschen eine gute Zeitung zu geben
- Wie kamen Sie an Ihren ersten Beitrag – und was war das Thema ?
Ein ellenlanges Interview in Castrop-Rauxel mit dem Wissenschaftsminister Gerhard Stoltenberg, das wir Wort für Wort in der Schülerzeitung gedruckt haben. Es hat mir viel Ehre gebracht, aber keine Leser
- Ihre Vorbilder im Journalismus ?
Wolf Schneider, der Sprache zum Leben erweckt; Kurt Kister, der Deutschlands bester Chefredakteur ist; Dieter Golombek, der die Qualität in den Lokaljournalismus brachte
- Ein Journalist ist ein guter Journalist…
wenn er, die Macht im Visier, seine Furcht besiegen kann; wenn er nicht geliebt, aber respektiert werden will; wenn er unbestechlich ist, aber trotzdem freundlich
- Charakterisieren Sie bitte die Herausforderung des Journalismus als Tweet in140 Zeichen.
Liebt Eure Leser mehr als Euch selbst! Verwöhnt sie mit Geschichten, die ihre Seelen streicheln oder zerwühlen! Seid demütig! Das reicht
- Wie wichtig ist Klatsch?
Der Mensch braucht ihn, er gehört zu unserem Leben. Aber er muss die Würde des Menschen achten. In Redaktionen, die Klatsch voll Abscheu meiden, wird am meisten geklatscht
- Mit welchem Ihrer Merkmale würde man Sie am treffendsten karikieren oder parodieren?
Die Redaktion schenkte mir zum Geburtstag eine Karikatur, die mich als Freiheitsstatue zeigt mit der TA und dem Duden in den Händen
- Wo haben es Frauen im Journalismus schwerer und was sollte man dagegen tun?
In die Chefredaktionen dringen zu wenige vor, aber offenbar drängeln auch zu wenige. Also: Frauen, drängt Euch auf!
- Ihre persönlichen Stärken und Schwächen?
Stärke und Schwäche liegen so nah beieinander: viele Ideen, aber wenig Geduld. Meine größte Schwäche: Ich mag keine Verlags-Manager, für die Zeitungen eine Ware ist wie Klopapier oder Schmierseife
10. Was macht Sie wütend oder ungeduldig?
Wütend, oder genauer: traurig, machen mich Menschen, die Vertrauen verspielen; ungeduldig machen mich Redakteure, die wie Beamte denken und arbeiten
11. Welche sozialen Medien und/oder Netzwerke nutzen Sie und wofür?
Alle, und ich bleibe bei denen, die zum Denken und Staunen animieren
12. Mit wem würden Sie gerne mal einen Tag die Rolle tauschen?
Mit dem Vorsitzenden Richter im NSU-Prozess
13. Auf welchen Beitrag sind Sie besonders stolz?
Die Aufklärung der VW-Affäre in der Braunschweiger Zeitung, in der es vor gut zehn um Betriebsrat, Vorstand, Bestechung, Macht und Sex ging. Der erste Artikel hätte mich beinahe meinen Job gekostet
14. Welcher ist Ihnen peinlich?
Mir fällt keiner ein
15. Ihre drei Lieblinge unter den Zeitungen, Sendungen und Websites?
Die Sächsische Zeitung, eine der besten Regionalzeitungen; Jürgen Wiebickes „Philosophisches Radio“ in WDR 5; „Fünf vor 8:00“ bei Zeit-Online (kluge Köpfe eröffnen den Tag mit einem Staunen)
16.Ihre Lieblings-(Fremd-)App?
Der Blitzer-Warner
17. Wie und womit entspannen Sie sich?
Beim Wandern löse ich Probleme und tagträume mich in Projekte hinein; beim Lesen und Schauen von Krimis bewundere ich die Recherche guter Ermittler, vor allem ihren Umgang mit Fehlern und Pannen
18. Sind Sie Mitglied einer Partei? Wenn ja: warum? Wenn nein: warum nicht?
Nein. Wenn ich eine Redaktion verlasse, weiß keiner, welcher Partei ich zuneige. Denn ein guter Journalist macht sich nicht gemein mit einer Partei, auch nicht mit der seiner Wahl
19. Welcher Rat (und von wem) hat Ihnen auf Ihrem beruflichem Weg besonders geholfen?
Der Rat meines Philosophie-Lehrers Kurt Flasch: Geh immer zu den Quellen! Geh den Dingen auf den Grund! Halte Dich nicht lange bei den Epigonen auf! Und bleib skeptisch, immer!
20. Was sollte Ihnen später einmal nachgesagt werden?
Er ging respektvoll mit den Menschen um. Er war fair. Und er machte nicht so viel Gedöns
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