Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. – Klartext-Verlag, 14.95 Euro
Fünfundzwanzig Jahre danach wundern sich die Deutschen im Westen, dass die Deutschen im Osten nicht so denken wie sie; und es wundern sich die Deutschen im Osten, dass die Deutschen im Westen sie nicht verstehen. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Westen und halten die im Osten für widerborstig und undankbar. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Osten und halten die im Westen für arrogant und geizig.
Noch schwieriger sind die, die das Sprechen über West und Ost verbieten wollen. Sie argumentieren: Wenn wir nicht mehr über die Trennung sprechen, bauen wir nicht weiter mehr an der unsichtbaren Mauer. Als ob die Wirklichkeit sich an solch gute Ratschläge hält.
Die innere Einheit ist bestenfalls eine fragile Angelegenheit, meint der Berliner Journalist Markus Decker, der sich selbst einen „Ostdeutschen mit westdeutschem Migrationshintergrund“ nennt. Er hat dreißig Westdeutsche interviewt, die in den Osten gezogen sind; selbst über alle, die sich im Osten heimisch fühlen, schreibt er: „Mühelos ist es eigentlich nie“.
Und was für Zahlen! Die Völkerwanderung innerhalb von Deutschland ist beeindruckend:
—— Fast vier Millionen kamen aus der DDR in den Westen; jeder Zehnte ging allerdings wieder zurück;
—— über vier Millionen wanderten nach der Einheit vom Osten in den Westen;
—— Aber auch in die andere Richtung setzte sich vor der Einheit eine halbe Million in Bewegung, meist um die Familie zusammenzuführen.
—— Weit über zwei Millionen wechselte nach 1989 vom Westen in den Osten.
So viele Millionen! Aber die Einheit wartet noch immer. „Merkwürdig, unnatürlich und entsetzlich“ findet ein Engländer den „sogenannten Ossi-Wessi-Konflikt“ und nennt ihn eine Verbitterung: Frederick Taylor kommt aus dem Mutterland der Demokratie, spricht deutsch und schrieb ein dickes Buch über die Mauer und ihre Geschichte. Er erzählt beispielhaft von einer Veranstaltung in Berlin, in der zwei „gebildete Individuen“ aneinander geraten waren:
„Ein Veteran der früheren ostdeutschen Medien behauptete lautstark und der Wahrheit keineswegs entsprechend, dass er noch nie einen Westdeutschen getroffen habe, der auch nur mit einem Cent zum Wiederaufbau des Ostens beigetragen hatte. Woraufhin ein noch bekannterer Medienmann mit einem Schwall von Beschimpfungen reagierte und seinerseits einige farbige Ansichten zum Besten gab über die östlichen Defizite im Umgang mit dem Westen.“
Als Taylor nachher einen deutschen Historiker fragte, der den Streit auch beobachtet hatte, antwortete dieser mit einem verlegenen Lächeln: Herr Taylor, Sie müssen sich wie ein Anthropologe vorgekommen sein beim Studium der Kämpfe primitiver Volksstämme.
Wann hat das angefangen, dieses Misstrauen, dieses Vorurteilen? Wenige Wochen nach den Revolutions-Feiern, dem Klopfen auf die Trabbis, dem Umarmen, dem Glück der Einheit stehe ich geduldig in der Schlange vor einer Eisenacher Metzgerei. Es ist Samstag, ein kalter Wintermorgen mit dem typischen Schwefelgeruch im Eisenacher Tal, der in Nase und Augen beißt, es ist noch DDR.
Ein Mann, knapp fünfzig, in einen Wintermantel mit Pelzkragen gehüllt, kommt in die Metzgerei. Er ist ein Westdeutscher: Jeder konnte damals den anderen an seiner Kleidung und seinem Gang identifizieren. Der Mann geht langsam an der Schlange vorbei zur Theke und legt zwei, drei Hundertmark-Scheine auf das Glas und sagt: „Alles!“ Die Verkäuferin sieht das westdeutsche Geld und packt dem Mann, einem Wirt aus dem nahen Herleshausen, wirklich alles ein. Die Auslagen sind leer geräumt, die Wartenden gehen nach Hause, ohne zu murren.
So hat es begonnen. Erst kam dieser Wirt, dann kamen die Versicherungs-Vertreter und die Verkäufer, die ihre alten Autos zu Neupreisen verkauften, dann die Treuhand und die Unternehmer, die viele arbeitslos nach Hause schickten.
Sicher gab es auch die anderen im Westen – wie den Lebkuchen-Unternehmer aus Bayern, an den sich Katrin Göring-Eckardt erinnert. Er schickte vor Weihnachten 1989 viele Kisten zu einer Kirchgemeinde im Osten. Es waren nicht allein die mit Lebkuchen gefüllten Dosen, die die Menschen rührten, es war die Geste. Göring-Eckardt erinnerte sich später: „Diese Dose gewinnt ihren Wert dadurch, das sich jemand im Westen die Frage gestellt hat: Wie können wir zeigen, dass wir zusammengehören? Man hatte einfach an uns gedacht, und das war schön. Ich weiß, dass viele diese Dose noch heute besitzen.“
Viele aus dem Westen kamen als Idealisten, als Freunde der Revolution in das Land, das immer noch DDR hieß. Viele – als Unternehmer oder in der Treuhand – mussten etwas tun, was unausweichlich war als Konsequenz eines beispiellos verfehlten Experiments, das man sozialistisch nannte. Aber wer urteilt schon gerecht, wenn er nach der Euphorie der Freiheit ohne Arbeit dasteht, mit wenig Geld und noch weniger Zukunft?
Nur – was ist schon normal in einer Revolution? Und erst recht danach?
Die Deutschen haben Erfahrungen mit großen Kriegen und schweren Niederlagen, aber sie haben keine Erfahrung mit Revolutionen. So glauben wir, im Osten wie im Westen, nach dem Knall kommt die neue Zeit, einfach so, vielleicht ein wenig holprig, aber sie kommt. Doch eine Revolution ist keine Bundesliga-Saison, in der nach zehn Monaten der Meister seinen Triumph feiert und der Absteiger seinen Trainer feuert. Revolutionen brauchen Zeit, viel Zeit, und ihr wahrer Erfolg kommt erst spät, für viele zu spät. Deshalb ist der Osten immer noch anders: Die Menschen in Erfurt und Neubrandenburg, in Görlitz und Magdeburg denken, handeln und träumen nicht wie die Menschen in Essen und Braunschweig, in Konstanz und Flensburg.
In diesem Buch „Die unvollendete Revolution“ werde ich die Geschichte der Revolution als eine lange deutsch-deutsche Geschichte erzählen, als meine Geschichte, als mein Erleben – angefangen von den Kerzen in den Fenstern, die ich als Kind für die Brüder und Schwestern in der Zone angezündet hatte. Es sind die Geschichten eines Westdeutschen, den die Zone, die DDR, die Revolution und die nachrevolutionären Wirren in den Bann geschlagen hatte.
Wann hatte ein Deutscher schon mal die Gelegenheit, all dies unmittelbar zu erleben? Die Tyrannei der Unfreiheit und den Rausch der Freiheit und den Kater danach und die Knospen in den blühenden Landschaften? Und dies alles in einem Leben.
Auch eine Revolution hat ihre Zeiten: Das Vorher und Nachher. Unsere Revolution hatte drei Epochen:
> Die erste Epoche war die DDR des Todesstreifens, etabliert als sozialistischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Bundesrepublik; beide deutschen Staaten waren entstanden aus dem Erbe des Nationalsozialismus, des Weltkriegs, des Völkermords, der zerstörten Städte, der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Es war die Zeit des Stacheldrahts zwischen der sowjetischen und den westlichen Zonen, dem der Mauer folgte, die erste, die wirkliche Mauer. Revolutionen fallen nicht vom Himmel, sondern durchleben eine lange Vorbereitung. Sie erlebte ich – als skeptischer Achtundsechziger – durch einen Freund, der als linker Pfarrer den Sozialismus in der DDR als das bessere Deutschland sah; als Chefredakteur der Oberhessischen Presse in Marburg, das mit Eisenach eine der ersten und durchaus funktionierenden Städtepartnerschaften schuf; als Korrespondent im Bezirk Erfurt, der vieles erlebte und wieder vergaß, aber nachher alles in seiner Stasi-Akte nachlesen konnte.
> Die zweite Epoche war die Revolution, in der sich rasend schnell die zweite Mauer, die unsichtbare, die Trauma-Mauer aufbaute: Verlust des gewohnten Alltags, in dem alles geregelt war; Verlust der gewohnten Arbeit, die planmäßig organisiert war; Verlust des fürsorglichen Staates, der dem treuen Bürger alle Entscheidungen abnahm – und stattdessen eine Dominanz der Westdeutschen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Ich erlebte sie als Chefredakteur der ersten deutsch-deutschen Zeitung, der Eisenacher Presse,
die erstmals am 18. Januar 1990 erschien, und in der Jahrtausendwende als Chefredakteur der Volksstimme in Magdeburg mit Fremdenhass, Töpfchen-Debatte und Menschen, die kollektiv und aggressiv um Haltung kämpften, um das Erbe der Revolution.
> Die dritte Epoche ist die aktuelle, in der sich die dritte Mauer der Resignation und der Ungeduld aufbaut: Den meisten Menschen geht die Angleichung an den Westen nicht schnell genug, sie beklagen das Desinteresse oder den Überdruss des Westens, weiter in den Osten zu investieren – und sehen den Westen als Fremden. Gleichzeitig brechen die Generationen im Osten auseinander, viel leiser als in den Zeiten der Achtundsechziger des Westens: Die Kinder ziehen fort und kommen erst einmal nicht wieder. Es stagniert die Zustimmung zur Demokratie, es wächst der Unmut, sich mit der Geschichte der Diktatur und der eigenen Geschichte zu befassen – im Gegensatz zu den Jungen, die fragen: Wie war das damals, Vater und Mutter, mit Euch in der DDR? Im Osten steigt, wenn auch langsam, die Abneigung gegenüber dem, was man „Politik“ nennt, und es nimmt die Verweigerung zu, sich zu engagieren.
Aber die dritte Mauer hat viele Durchgänge, sie trennt nicht mehr wirklich, sie bröckelt – und sie gefährdet keinen inneren Frieden. Ungefährlich ist sie trotzdem nicht: Die Demokratie im Osten ist weniger stabil als die Demokratie im Westen. Bis zur Revolution 1989 hat der Osten nur Kaiser und Diktatoren erlebt, unterbrochen von der fragilen Weimarer Demokratie. Der Osten hat zwar bereitwillig die äußeren Formen der Demokratie angenommen: Wahlen und Rechtsstaat, Kontrolle der Macht und Mächtigen sowie Freiheit für Presse, Vereine und Berufswahl, Schule ohne Ideologie und die Freiheit, überallhin reisen zu können.
Doch die Ostdeutschen sind so verwirrt, dass vielen in der Rückschau die Diktatur wärmer, gar kuscheliger erscheint, dass der Zusammenhalt stärker war – ob wirklich oder eingebildet. Sie wundern sich: Die Demokratie ist kühl, sachlich und kennt keine Aufmärsche wie die Diktatur. Die Demokratie muss erst langsam die Seelen wärmen. Im Osten wärmt noch wenig. Denn dieses Feuer muss von den Bürgern selbst entfacht werden; das Holz dafür müssen die Politiker, die Regierungen besorgen. Beide Seiten, Bürger wie Politiker, sind noch überfordert: Ein bisschen weniger Adenauer, ein bisschen mehr Willy Brandt täte gut. Demokratie wagen – wäre dafür ein sinnvolles Motto.
Diese Demokratie-Defizite erlebe ich als Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, einer der großen Zeitungen im Osten. Die Beschreibung der drei Epochen wirkt wie ein Holzschnitt. Die Widersprüche und Details folgen in Buch „Die unvollendete Revolution“, sie sind Gegenstand der Erzählungen und Debatten.
**
Aus dem Editorial des Buchs „Die unvollendete Revolution“
„Wir feiern 25 Jahre Deutsche Einheit – doch das Land sieht wenig geeint aus. Warum wächst nicht richtig zusammen, was einem Bonmot nach zusammen gehört?“ Mit dieser Frage eröffnet Stefan Wirner ein
Interview für den Newsletter der Drehscheibe mit dem Autor dieses Blogs – “ über seinlokalesGrenzgängertum und seine Sicht auf das geeinte Deutschland“. Meine Antwort:
Das ist eine Frage, die im Westen gestellt wird: Warum, liebe Ostdeutsche, seid Ihr noch nicht wie wir? Diese Frage mögen Ostdeutsche nicht, weil ein Unterton mitschwingt: Wir haben Euch eine Billion Euro Entwicklungshilfe gegeben, so dass Eure Straßen besser sind als unsere; wir erwarten auch ein wenig Dank und wollen nicht mehr das ewige Genörgel hören!
Viele Westdeutsche vergessen: Es gab vor der Revolution keinen DDR-Bürger, der etwas anderes als Diktatur erfahren hatte – erst die Nazis, dann die sowjetischen Besatzer, dann die SED. Das steckt in der Seele, das können sie mit noch so viel Euros und Autobahnen nicht heilen. Und nach der Revolution mussten die Ostdeutschen komplett ihr Leben und ihren Alltag ändern, nichts, wirklich nichts blieb mehr, wie es vorher war. Und irgendwann konnten die Ostdeutschen all die guten Ratschläge aus dem Westen nicht mehr hören. Kurz: Sie vermissten und vermissen Respekt.
Gerade in der aktuellen Frage der Aufnahme von Flüchtlingen scheint das Land extrem gespalten: Während im sächsischen Heidenau ein Mob das Flüchtlingslager angreift, gehen die Bilder der Münchner um die Welt, die am Bahnhof Flüchtlinge willkommen heißen. Trügen diese Bidler? Oder woher kommen diese Unterschiede?
So extrem gespalten sind wir nicht. Die Angst vor den Fremden ist im Westen ähnlich verbreitet wie im Osten – und in anderen Ländern Europas übrigens noch stärker. Aber Sie bedienen mit Ihrer Frage ein typisch westdeutsches Vorurteil: Der Osten ist braun. Sie können München und Heidenau vergleichen, aber sie könnten auch Erfurt mit Weissach und Remchingen vergleichen: In Thüringen ein herzlicher Empfang und große Hilfe, im Südwesten brennende Asylbewerber-Heime. Aber das Aufrechnen bringt wenig: Wir haben ein gesamtdeutsches Problem und ein noch viel größeres europäisches.
Belegen nicht sämtliche Zahlen, dass die Fremdenfeindlichkeit im Osten um einiges höher ist als im Westen? In keiner westdeutschen Stadt gab es pogromartige Vorkommnisse wie in Hoyerswerda, Rostock oder zuletzt Heidenau.
Generalisierung ist in der Tat falsch. Die meisten Ostdeutschen sind nicht fremdenfeindlich, auch wenn korrekt ist: Es sind mehr als im Westen. Aber die schiefe Darstellung fängt schon in der „Tagesschau“ und in den Zeitungen an: Heidenau bekommt einen Spitzenplatz in den Nachrichten, während ein brennendes Flüchtlingsheim in Baden-Württemberg hinten im Meldungsblock zu finden ist. Auch Medien folgen ihren Vorurteilen und Vorlieben. Selbst der Bundespräsident sprach wieder von „Dunkeldeutschland“ – und suggerierte: Der Osten ist der dunkle Teil Deutschlands.
Teilen Sie die Ansicht, dass die Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern ein Erbe der DDR, des selbsternannten „besseren Deutschlands“ ist?
In der Tat wirkt im Osten die SED-Propaganda nach, die den Menschen suggerierte: Wir in der DDR haben aufgeräumt, wir sind die saubere, das nazifreie Deutschland.
Was ist daran korrekt? Im Adenauer-Deutschland wollte man schnell den Wohlstand, kümmerte sich kaum um die Nazi-Vergangenheit, berief Nazis sogar zum Generalbundesanwalt oder als Bundesminister; es gab mehr Nazis in hohen Ämtern als in der DDR, die allerdings in den Aufbau-Jahren auch auf Nazis nicht verzichtet hat.
Im Westen stellten die Achtundsechziger dann ihren Eltern unbarmherzig Fragen wie: Was habt Ihr gemacht, als die SS die Juden aus Eurer Nachbarschaft vertrieb? Diese Debatten haben die westliche Gesellschaft massiv verändert. In der DDR musste sich keiner die Fragen stellen, der Staat nahm die Antwort ab: Macht Euch keine Gedanken, wir haben alles richtig gemacht – im Gegensatz zum revanchistischen und kapitalistischen Westen! Gleichzeitig sperrte man die Gastarbeiter in Gettos, zwang Frauen aus Vietnam oder Angola, die schwanger wurden, zur Abtreibung oder zum Verlassen der DDR: Also keine Spur von Willkommenskultur in der DDR, sondern nur aufgesetzte Freundschafts-Parolen.
Der Gesellschaft im Osten fehlt die Erfahrung, die Fragen nach dem richtigen Leben in einer Diktatur, gleich welcher, zu stellen. Das war und ist eine Aufgabe für Politiker, Lehrer und Redakteure – auch wenn sie dabei niemals in begeisterte Gesichter schauen: Die Menschen wittern gleich Gefahr, wenn diese Debatte droht. Sie reagieren durchweg mit Abwehr: Ihr wollt unser Leben miesmachen, wollt Jahrzehnte unseres Lebens entwerten – übrigens ein Vorwurf, den Westdeutsche schnell zu hören bekommen, wenn sie mitreden wollen.
Die Reaktion ist verständlich: Was die Seele bedrückt, wird als Tabu in die Kulissen geschoben. Aber dieses Tabu taugt nicht in einer offenen Gesellschaft, schadet der Demokratie. So sieht der Magdeburger Psychoanalytiker Jörg Frommer auch ein „kleines 68“ im Osten, sieht die Jungen, die hellwach sind, aber nicht laut aufbegehren gegen die Älteren, sondern einfach aufbrechen – und machen.
ERSTAUSGABE TA nach der Wende – als Teil einer aktuellen Serie „25 Jahre Thüringen“ in der Thüringer Allgemeine
Thomas Schmid äußerte in der Welt die Befürchtung, dass bei den anstehenden Einheitsfeierlichkeiten diese Konflikte unter den Tisch gekehrt würden. Fehlt uns eine offene und ehrliche Diskussion über die Einheit?
Ja. Es geht dabei weniger um Offenheit und Ehrlichkeit, also um die Debatte überhaupt: Die meisten im Westen interessieren sich nicht für den Osten, und je weiter sie gen Westen oder Süden kommen, umso erschreckender ist das Unwissen, von Empathie ganz zu schweigen.
Andererseits ist die Diskussion auch nicht einfach zu führen: Die Älteren im Osten haben sich meist abgeschottet, empfinden die Westdeutschen als arrogant und besserwisserisch – und haben sich hinter einer unsichtbaren Mauer angenehm eingerichtet. Bisweilen glaube ich: In dem Leben der meisten Ostdeutschen ist so viel geschehen, dass sie müde geworden sind, dass sie meinen: Es reicht für ein Leben, nun soll es mir einfach nur mal gut gehen.
Sie haben ein Buch mit dem Titel „Die Unvollendete Revolution“ geschrieben. Darin sagen Sie aber auch, selten sei eine Revolution im Abendland so gelungen wie diese. Wie passt das zusammen?
Es ist ein realistischer Blick. Keine der Revolutionen nach Ende des Kalten Kriegs war erfolgreich: Schauen Sie nach Russland, in die Ukraine, in den Balkan, nach Nordafrika. Nur eine gelang wirklich; dabei hatten wir Deutschen keine Erfahrung mit Revolutionen, aber gleich die erste gelang. Und wir sollten stets bedenken: Diese erfolgreiche Revolution haben die DDR-Bürger hinbekommen, nicht die Westdeutschen; die schauten nur im Fernsehen zu.
Wir sind unbestritten ein Staat und in ein, zwei Generationen auch ein Volk. Es mag noch einige Unverbesserliche geben, die sich nach der DDR zurücksehnen, die überwältigende Mehrheit fühlt sich wohl in dem neuen Deutschland. Wir haben nicht die Probleme wie die Briten mit Schottland oder Spanien mit Katalonien.
Deutschland ist einfach reicher geworden, an Menschen, an Erfahrung, an Kultur (ein Drittel des deutschen Welterbes liegt im kleinen Osten), an Natur. Viele in Europa und der Welt beneiden uns.
Sie haben die Vereinigung journalistisch begleitet, ja sie journalistisch mitgestaltet. Sie waren Korrespondent in der DDR, gründeten als Chefredakteur der Oberhessischen Presse die Eisenacher Presse, waren Chefredakteur in Magdeburg und Braunschweig und schließlich bei der Thüringer Allgemeinen in Erfurt. Welchen Lokaljournalismus fanden Sie 1989/90 im Osten Deutschlands vor?
Einen ängstlichen – auch wenn die DDR-Redakteure im Lokalteil ein wenig mehr zwischen den Zeilen schreiben konnten als im politischen Teil. So war der Lokalteil der meistgelesene in den DDR-Zeitungen; das war auch der Grund für den Erfolg der gewendeten SED-Zeitungen, während die Neugründungen aus dem Westen durchweg scheiterten.
Die Lokalredakteure schrieben in der DDR vor allem über ihre Funktionäre und Helden der Arbeit, priesen den Sozialismus und waren, im heutigen Verständnis, Pressesprecher der Partei. Da viele DDR-Bürger zwar West-Fernsehen schauen konnten, aber keine West-Zeitungen lesen durften, war der Lokaljournalismus, vor allem der politische, völlig unbekannt – auch bei den Redakteuren.
Das Buch zu 25 Jahre Einheit ist im Klartext-Verlag erschienen.
Als Sie als Westdeutscher Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen wurden, der ersten Zeitung, die sich in der DDR für unabhängig erklärt hatte, gab es jede Menge ablehnende Leserzuschriften, wie man Ihrem Buch entnehmen kann. Was haben Sie da gedacht?
Wenig. Einsam war’s, und da besinnt man sich auf seine Professionalität und verlangt sie auch von den Mitarbeitern.
Sie haben bei der Braunschweiger Zeitung das Konzept Bürgerzeitung entwickelt – mit großem Erfolg. Wie wurde das Konzept später in Erfurt, als Sie bei der Thüringer Allgemeinen waren, angenommen?
Die Ostdeutschen diskutieren gerne. Das taten sie schon in der DDR reichlich, schrieben unentwegt Eingaben; das war auch möglich, wenn sie die Tabus beachteten. So nutzten die Leser der TA sehr schnell die Möglichkeiten, mit ihren Meinungen in die Zeitung zu kommen, auch die Querdenker, Nörgler und Besserwisser. Schon nach wenigen Wochen haben wir die tägliche „Leser-Seite“ eingeführt, auf der – gestaltet wie eine schöne redaktionelle Seite – nur unsere Leser zu Wort kommen. Den Redakteuren war das anfangs unheimlich, bei einigen ist das heute noch so.
Es blieb nicht bei der Leser-Seite, immer wieder beziehen wir unsere Leser mit ein, so dass die Thüringer Allgemeine mittlerweile eine exzellente Bürgerzeitung ist, das beweisen uns auch alle Leser-Untersuchungen: Die Menschen wollen nicht nur wissen, was Redakteure und Politiker meinen, sondern auch wie und was ihre Nachbarn denken und wie sie sich in der Gesellschaft engagieren.
Sie sprechen von einem „Demokratie-Defizit“, das Sie als Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen erlebt hätten. Inwiefern?
Die Redakteure waren nach der Revolution, die ja nicht die Revolution der Redakteure war, gleichwohl von der Freiheit begeistert, so wie sie in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Aber die meisten Redakteure schauten auf den ersten Satz, auf die Meinungsfreiheit. Endlich durften sie kommentieren, was die Druckerschwärze hergab.
Dass aber die Pressefreiheit nicht nur Sonderrechte bietet, sondern auch Pflichten, war weniger bekannt: Die Demokratie zu stärken, die Bürger zu beteiligen und ihnen eine Stimme zu geben, die Mächtigen zu kontrollieren und die Leser verständlich und umfassend zu informieren – vor allem in den Städten und Kreisen – und in die Hinterzimmer der Macht zu leuchten. Nur so lebt die Demokratie.
Die Menschen sind 1989 für Demokratie, die D-Mark, die Wiedervereinigung auf die Straße gegangen. Wie konnte das alles so schnell wieder in ein Ressentiment gegen Demokratie und Marktwirtschaft kippen? War der Westen zu wenig feinfühlig?
Feinfühligkeit war nicht die Stärke des Westens, aber sie war auch nicht vonnöten: Der Westen spielte in der Revolution nur eine Zuschauer-Rolle. Die Menschen im Osten waren die Akteure, die haben nicht für Bananen, die haben für die Freiheit gekämpft, alles andere war hübsches Beiwerk. Für eine Reise nach Mallorca riskiere ich nicht mein Leben, für die Freiheit, mein Leben selber planen zu können, riskiere ich es schon, wenn ich genügend Mitstreiter finde.
Und da ist auch nichts umgekippt: Nur eine Minderheit im Osten will zurück in die Diktatur; die Hälfte fühlt sich als Gewinner der Einheit, nur – oder immerhin – ein Viertel als Verlierer. Allerdings haben die Ostdeutschen, zum Teil schmerzhaft, die Kehrseite der Freiheit erleiden müssen: Die Demokratie, die sie bekamen, war nicht die des Werbe-Fernsehens, sondern die der „Tagesschau“, in der auch Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit ein Thema war.
Offenbar laufen Revolutionen nach dem Muster ab: Die Diktatur steigert die Sehnsucht nach Freiheit, die Revolution übersteigt sie, es folgt der Jammer. So war das auch nach der deutschen Revolution: Sanfte Träume und Utopien prallten gegen die harte Wand der Wirklichkeit. Die Ostdeutschen wollten Freiheit und bekamen Westdeutsche, die mit Buschzulage Verwaltung und Justiz einführten.
Ich zitiere in meinem Buch eine Reihe von Umfragen, die belegen: Es gibt so gut wie keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West, wenn es um die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben geht (sie ist hoch); geht es um die Zuversicht, ist sie im Osten sogar höher als im Westen, vor allem bei den 16- bis 29-Jährigen.
Wenn Sie heute in die Zukunft blicken: Was stimmt Sie dennoch hoffnungsfroh?
Kein „dennoch“! Für Revolutionen gibt es keine Generalproben, „Fehler“ entdeckt man erst im Nachhinein: Wer in rund neun Monaten eine Demokratie, Marktwirtschaft, freie Medien und einen Rechtstaat einführt, der müsste eigentlich scheitern. Deutschland ist nicht gescheitert, wir haben vieles richtig gemacht und können das, was nicht rund läuft, verbessern – und sollten es auch tun.
Thüringen zum Beispiel hat, relativ gesehen, weniger Arbeitslose als Nordrhein-Westfalen und auch weit mehr Menschen in Beschäftigung. Die Liste der Erfolge ist lang, die der Defizite ist allerdings auch nicht klein.
Wer uns große Hoffnung verspricht, sind die Jungen, die Dritte Generation Ost – das sind die zweieinhalb Millionen, die zur Wende noch in die Schule gingen. Die sind der Jammerei überdrüssig, sie sind hungrig, viel hungriger als die meisten im Westen, sie wollen raus in die Welt, wo immer sie einen Platz für sich sehen, aber sie schätzen ihre Heimat. Was für eine Chance für unser Land!
Sie sagen, Ihr Buch sei kein Geschichtsbuch, eher aber ein Geschichtenbuch. Ich finde, es ist auch ein Erinnerungsbuch. Welche Rolle wird die Erinnerung zukünftig in einer Welt von Facebook, Google und Smartphones spielen?
Erinnerung ist das halbe Leben oder noch mehr. Da spielt es keine Rolle, ob sie die Geschichten am Lagerfeuer erzählen, in Moritaten, Büchern, Zeitungen oder auf Smartphones. Und die jungen Leute, die Smartphone-Generation, sind geradezu begehrlich, wenn es um die Erfahrungen der Alten geht. Wenn Sie mit Ostdeutschen sprechen, hören sie von den Älteren oft das Argument: „Macht ein Ende mit der Rückschau, mit den Stasi- und Opfern-Geschichten! Die wollen die jungen Leute einfach nicht hören.“ Aber das Gegenteil ist der Fall, die Jungen wollen wissen, wie das Leben in der Diktatur war – nicht als Vorlage für eine Anklage, sondern als Erfahrung, von der sie lernen wollen in der Freiheit, die sie genießen.
**
Quelle: Drehscheibe „Die Ostdeutschen vermissen Respekt“
Wer über die Einwanderung von amerikanischen Wörtern stöhnt, sucht gerne Trost bei unseren Klassikern. Goethe kam zwar nur bis Italien, aber er schwärmte von der neuen Welt:
Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.
Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.
Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.
Doch war die Sprache in Goethes Zeit nicht geprägt von Anglizismen, sondern von französischen Wörtern. Goethe kommt selten ohne ein französisches Wort daher. Am 14. November 1776 lästert er über das „Flick- und Lappenwerk“ eines Autors, möchte diesem einen Streich spielen und schreibt an Schiller:
Wenn der Spaß Ihren Beifall hat, so führe ich ihn aus; er ist, wie mich dünkt, sans replique.
Wie leicht hätte Goethe einen deutschen Begriff finden können: Ohne Widerrede! In Goethes Brief taucht auch das französische Wort „formidabel“ auf, mit dem sich ein Leser in Erfurt beschäftigt. Er las in seiner Zeitung vom Lutherjahr 2017 als „formidablem Jubiläum“ und fragt:
Hat der Autor den aus „dem Lateinischen entlehnten Begriff, der ,schrecklich‘ bedeutet, vielleicht im falschen Sinnzusammenhang oder als Beispiel ,klassischer Wortwahl‘ verwendet“?
Wörter verwandeln sich gerne, wenn sie nur weit genug von der Quelle entfernt sind. Dem Lateinischen, der Priester- und Fürstensprache des Mittelalters, verdanken wir viele Wörter, einige kamen aber erst über die französische in die deutsche Sprache.
„Formidare“ nutzte Caesar, der Feldherr, wenn er von besonders großem Schrecken berichtete. Die lateinische Bedeutung hielten die Franzosen und nutzen „formidable“ für alles, was grausig und schrecklich ist. Wir übernehmen in die deutsche Sprache fremde Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn – um sie dann gerne zu verwandeln.Erst im späten 17. Jahrhundert wanderte „formidabel“ in unsere Sprache ein. In der „Herrschaft der Männer“, einem Buch von 1705, lesen wir:
In den Moluccischen Inseln haben sich die Weiber so formidabel gemacht, dass sie das recht absolut im Hause zu befehlen haben.
Moluccische Inseln sind offenbar die Falkland-Inseln vor Argentinien.
In Carl Lucaes „Europäischen Helicon“ von 1711 ist von einem Lehrer zu lesen:
Ehemals docierte ein solcher Schmeisser in einer Schule von mönströser Gestalt und war den Knaben höchst formidabel.
„Formidabel“ gebrauchte der preußische Generalfeldmarschall Blücher 1813 noch im alten lateinischen Sinne: „Die Armee war sehr formidabel“, als Goethe schon den Sinn in „beeindruckend“ verwandelt hatte. Der Autor eines Buchs will sich „seinem eigenem Helden formidabel machen“, schreibt er Schiller im Weimarer Herbst 1776.
Preußens berühmtester Gärtner war der Weltreisende Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau; er schrieb 1834 in seiner „Landschaftsgärtnerei“:
Man baut in formidablem Bogen über das bescheidene Wässerchen eine Riesenbrücke.
Da hatte sich formidabel als „beeindruckend“ durchgesetzt. Im Goetheschen Sinn nutzen wir „formidabel“ noch heute; wer es im alten lateinischen Sinne verwendete, würde missverstanden.. Der Schrecken ist längst verschwunden.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. September 2015 (hier in erweiterter Fassung)
Was ist richtig: Das Dorf an der Grenze wurde geschleift? Oder: Das Dorf wurde geschliffen? Fügen wir diese Frage einem Test hinzu, den man sinnvoll zum Trauer-Jubiläum der Rechtschreibreform veröffentlichen könnte.
Leser beschweren sich gerne über Schludrigkeiten in unserer Zeitung, die in der Eile des journalistischen Geschäfts geschehen und die auch der Gegenleser in der Fülle der Wörter überliest. Freuen wir uns über jeden Leser, der wirklich schwere Fehler entdeckt – wie den Weimarer Professor Siegfried Freitag. Er fragt in einem Brief an die Thüringer Allgemeine: „Ist hier Sprachgefühl ein wenig verloren gegangen?“, und meint schwere Fehler in meiner Serie „Die Grenze“.
Dort habe ich Dörfer „geschliffen“ statt „geschleift“. Aber richtig ist: Diamant werden geschliffen, Dörfer werden geschleift. Selbst der Duden achtet noch auf den Unterschied, obwohl er sich bei anderen Wörtern schon beugt wie bei „gewinkt“ (richtig) und „gewunken“.
Dörfer, die geschliffen wurden, wären nicht vom Boden der DDR verschwunden, sondern hätten den Wettbewerb zum schönsten Dorf gewonnen: Solch feinen, aber gewichtigen Unterschied nennt Professor Freitag zu Recht „Sprachgefühl“.
Brigitte Grunert schreibt die Sprach-Kolumne des Berliner „Tagesspiegel“. Sie entdeckte, wie die Grünen-Politikerin Claudia Roth im Wahlkampf auch übers Schleifen stolperte – und das Gegenteil von dem sagte, was sie sagen wollte. Als sie sich über den Plan der FDP aufregte, Steuern zu senken, meinte sie:
„Wenn es eine Entlastung der Besserverdienenden geben soll, dann kann das nur heißen, dass der Sozialstaat geschliffen werden soll.“
Das bedeutete: Der Sozialstaat wird leuchten wie ein geschliffener Diamant, wenn Politiker die Steuern senken. Das Gegenteil wollte sie sagen.
Wahrscheinlich werden ihre Anhänger „geschleift“ verstanden haben. Gleichwohl stimmt, was die Berliner Sprachexpertin Grunert schreibt: „Ach, geschliffenes Deutsch ist rar, aber es lohnt sich, die Bemühungen darum nicht schleifen zu lassen.“
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 24. August 2015
„Faruuazzit“ heißt verflucht, „tuncli“ die Dunkelheit, „samftmoat“ sanftmütig und „friuntscaffi“ die Freundschaft. So steht es im ersten Wörterbuch der deutschen Sprache mit dem Titel „Abrogans“. Das lateinische Wort für „demütig“ ist das erste Wort im Buch und gab ihm den Titel.
Wir verstehen kaum die ersten deutschen Wörter, die wir althochdeutsch nennen, aber sie haben einen Wert bis in unsere Zeit hinein: Sie übersetzen eine Sprache, die nur wenige verstehen, in eine Sprache, die alle verstehen. Das Lateinische war im achten Jahrhundert, als Mönche aus Freising das Wörterbuch schrieben, die Sprache der Mächtigen und der Priester.
Was Mönchen vor vielen Jahrhunderten gelang, ist auch heute – erst recht in unserer Demokratie – eine Aufgabe von Wert: Schreib so und sprich so, dass dich die Menschen verstehen! Nicht die Kirche ist noch der Verursacher der Unverständlichkeit, sondern alle, die ihren Jargon sprechen, um ihre Absichten zu verschleiern oder sich abzugrenzen oder einfach – wie die Liebhaber der Anglizismen – modern zu wirken.
„Abrogans“ zählt zu den Sternstunden deutscher Sprache, ist eine von 107, die in dem Buch „Edelsteine“ beschrieben werden: Von den Merseburger Zaubersprüchen über Luthers Übersetzung der Bibel und Bachs „Matthäus-Passion“ zu Kants „Was ist Aufklärung?“ und Goethes „Faust“.
Wie oft ist die Gegenwart zu nah, um schon ein klares Urteil zu fassen. Dennoch ist die Auswahl der „Sternstunden“ zeitgenössischer Texte sinnvoll: Das Grundgesetz beispielsweise oder Erwin Strittmatters „Notstandsliebe aus der Zeit der Bomben“, die Micky-Maus-Übersetzungen von Erika Fuchs („dem Ingenör ist nichts zu schwör“), aber auch die Herbert Zimmermanns Reportage vom WM-Endspiel in Bern 1954 – auch oder gerade weil der Kommentator in den letzten Minuten komplett die Fassung verlor: „Logik, Grammatik und Aussprache gingen ganz eigene Wege, die aber genau den irrationalen Windungen folgten, in denen sich die Gefühle der Zuhörer bewegten.“ Ergänzt sei: Man muss es hören, nicht lesen.
Andere „Sternstunden“ sind historische, aber keine sprachlichen – wie der Beipack-Zettel zur ersten Antibaby-Pille in Deutschland: Zwar „eine Revolution der Sozialgeschichte“, aber wegen der ungelenk formulierten Lüge auf dem Zettel keine Sternstunde der Sprache ebenso wenig wie der „2+4-Vertrag“; die Präambel besteht aus einem Satz mit über 400 Wörtern, „der das Verständnis mehr erschwert als fördert“.
So wird, ähnlich wie mit Gaucks Rede auf der Westerplatte 2014, der Sprachliebhaber zum Historiker: „Wie wichtig diese Worte sind“, begründet Walter Krämer die Wahl der Gauck-Rede. Aber da schreiben sie schon ein anderes Buch, das mit der Sprache nur am Rande zu tun hat.
Max Behland, Walter Krämer, Reiner Pogarell (Hg): Edelsteine – 107 Sternstunden deutscher Sprache. IFB-Verlag, 672 Seiten, 25 Euro
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 10. August 2015, erweiterte Fassung
Einem Leser missfällt, wenn Menschen, die an der DDR-Grenze gelebt und gelitten haben, zu Wort kommen – und „in die Rolle eines Opfers der DDR gerückt werden“. Seit einigen Wochen ist in der Thüringer Allgemeine die Serie „Die Grenze“ zu lesen, eine politische Wanderung entlang der kompletten innerdeutschen Grenze.
„Leider, ich weiß nicht aus welchen Gründen auch immer, kommen Ihre Darstellungen nicht ohne das Bedienen von Ressentiments aus“, schreibt der Leser. Er habe andere Erfahrungen gemacht, so hatte er beispielsweise „jahrelang permanent unmittelbar (in wenigen Meter Abstand) an der Grenze zu tun und durfte dies auch, ohne auch nur hundertprozentig zu sein, denn ich war weder Genosse und auch kein IM“.
Er schließt seine freundliche Mail: „Es kommt mir manchmal so vor, dass ähnlich wie zu DDR-Zeiten, wo kaum ein Fachvortrag ohne die Erwähnung des x-ten Parteitages der SED begann, auch heute in vielen Artikeln in mindestens einer Passage auf die permanente Unterdrückung und Unfreiheit hingewiesen werden muss, sei es auch mit Un- oder Halbwahrheiten. Vielleicht lassen sich auch solche nicht unbedingt relevanten Aussagen auf ihren objektiven Wahrheitsgehalt vor einer Veröffentlichung überprüfen.“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Es ist kaum möglich, an der Grenze jene links liegenzulassen, die von Schikanen, Vertreibungen und Unfreiheit, von Tod, Verstümmelung und unbewältigten Träumen berichten. Es dürfte auch schwer möglich sein, diese Geschichten als unwichtig zu erachten, wenn wir die Wahrheit der Geschichte erkunden.
Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Bruders, der immer noch unter der Enthauptung seines Bruders leidet? Was ist der „objektive Wahrheitsgehalt“ der Aussage eines Menschen, den heute noch die Blicke der Arbeiter verfolgen, wenn er als junger Häftling in einen Betrieb einmarschierte?
Wie sollen wir ein Trauma, eine tiefe Verletzung überprüfen? Und – wer hat das Recht, diesen Menschen ihre Erfahrungen zu nehmen? Sicher sind das subjektive Erfahrungen, aber auch diese Erfahrungen gehören zur Geschichte.
Wo es möglich ist, haben wir in Dokumenten geforscht, haben Briefe und Urkunden gesichtet – und zitieren eifrig daraus. Wenn die Wahrheit im grauen Nebel verschwindet – wie beim Tod des Grenzers Rudi Arnstadt oder den Schüssen auf Wahlhausen -, dann schreiben wir auch das.
Aber den Opfern ihr Opfer zu bestreiten, käme einer zweiten Erniedrigung gleich. Es zu verschweigen, wäre zumindest unwahrhaftig.
**
Thüringer Allgemeine, 8. August 2015, Leser fragen
Kommentare von Lesern online:
- raue verkauft dir auch Schmirgelpapier als toilettenpapier
- Und worin liegt der objektive Wahrheitsgehalt in den Aussagen eines Wessis, der die DDR nie selbst erlebt hat und sie nur vom Hörensagen kennt, Herr Raue?
Eine „treue Leserin“, die ihren Namen verschweigt, schickt an den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine eineTrauerkarte, wie man sie zu einem Todesfall versendet, packt dazu einen Bericht über den Zschäpe-Prozess und fragt: „Wie lange werden noch Seiten von Ihrer Zeitung damit gefüllt?“Sie ergänzt die Frage mit diesen Kommentaren: „Das Geld könnte wirklich an anderen Stellen nötiger gebraucht werden. Die Dame spielt doch mit der Justiz.“
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Werte treue Leserin,Sie haben Recht: Beate Zschäpe spielt mit Richtern, Opfern, Nebenklägern und mit ihren Verteidigern – und sie spielt mit unserem Rechtsstaat. Sie hasst offenbar unsere Demokratie, sie zählt sich zu einer Bande, die mit Menschen, die sie zu Opfern erklären, kurzen Prozess machen; wahrscheinlich verachtet sie auch uns, die mit ihr im Gerichtssaal und in der Öffentlichkeit fair umgehen.
Wenn Zschäpe und ihre Mitstreiter, wenn Neonazis und Terroristen die Macht hätten, dann bekämen wir eine Justiz der kurzen Prozesse. Wir wissen von den Diktaturen in Deutschland, wie ein Staat das Recht beugt: Die Urteile stehen schon vorher fest, sie werden von oben den Richtern diktiert; es geht nicht um die Wahrheit, es geht um Exempel, die statuiert werden, es geht um das Schüren von Angst. Solch einen Unrechtsstaat wollen wir nicht mehr.
Es würde Beate Zschäpe so passen, wenn wir nichts mehr berichteten, wenn der Prozess platzte, wenn wir einfach zur Tagesordnung übergingen. Doch wir bleiben dabei, wir hören aufmerksam zu. Der Prozess macht an nahezu jedem Tag deutlich: Es geht nicht nur um eine Frau, die uns nicht in die Augen blicken will, sondern um einen großen Kreis von Sympathisanten, der eine beispiellose Mordserie ermöglicht hat.
Wir schauen in den Untergrund unserer Gesellschaft, der noch lebendig ist. Das ist ein Grund, warum wir weiter berichten müssen: Dieser Hass auf unsere Gesellschaft verschwindet ja nicht, wenn wir ihn nicht mehr wahrnehmen – im Gegenteil: Er wuchert noch schneller.
Der zweite Grund ist unser Rechtsstaat: Wir zeigen, dass sich unsere Demokratie nicht von ihren Feinden verbiegen lässt. Und wir, als unabhängige Journalisten, und Sie als wache Leser und Bürger, achten darauf, dass die Wahrheit ans Licht kommt.
Wir stellen zudem Öffentlichkeit her, damit die Unbelehrbaren sehen, wie fair wir mit denen umgehen, die unseren Staat zerstören wollen.
Sicher kostet das Geld. Aber Recht ist am Ende viel preiswerter als Unrecht.
**
Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 1. August 2015