In guten Zeiten gehen die Menschen in den Supermarkt und bekommen alles, was sie brauchen. In schlechten Zeiten legen sich die Menschen einen Vorrat an: Das ist klug, sagen wir, und hören den Geschichten unserer Groß- und Urgroßeltern zu, wenn sie aus den Jahren nach dem Krieg erzählen.
Wenn Politiker von Vorrats-Daten sprechen, die sie speichern, meinen sie nichts Gutes: Sie greifen nach der Freiheit der Bürger und vermuten, dass alle irgendwann etwas Böses tun. Würden sie das Gesetz aber ein Anti-Freiheitsgesetz nennen, spürten die Bürger genau das Ungemach.
„Infrastrukturabgabe“ ist auch ein Nebelwort. Politiker nennen so die Maut, also eine Steuer, die wir – früher oder später – für die Benutzung der Straßen zahlen müssen, die schon mit unserem Geld gebaut worden sind.
Vorratsdatenspeicherung und Infrastrukturabgabe sind zwei Beispiele für die Flucht in politische Sprachspiele. Von dieser Flucht sprach schon Helmut Kohl, als er vor dreißig Jahren die Frankfurter Buchmesse eröffnete: „Da werden Begriffe besetzt, umgedeutet, konstruiert, aufgebläht, demontiert.“ Diese Einsicht hinderte weder ihn noch seine Nachfolger, diese Spiele zu spielen.
Heiner Geißler, kein Freund Kohls, sondern nur ein Parteifreund, sprach vom „Blabla“ mancher Politiker – und schloss uns Journalisten gleich mit ein; er forderte: „Die Wahrheit muss deutlich gesagt werden.“
Nun ist das Gegenteil der politischen Wahrheit nicht die Lüge, sie ist selten. Wer lügt, den erwischen die Kollegen, richten einen Untersuchungsausschuss ein oder verlangen den Rücktritt. Das Gegenteil der politischen Wahrheit ist der Nebel, der uns an der freien Sicht auf die Wirklichkeit hindert.
Fordern wir also: Politiker, sprecht die Wahrheit! Ja, hören wir das Echo. Aber wenn es darauf ankommt, also bei Wahlen, Parteitagen und ähnlichen Wahrheits-Kongressen, gewinnt meist der, der im Nebel die beste Sicht hat – und Helmut Kohl folgt: „Der Kampf um Worte gerät zum Machtkampf.“
Im vergangenen Bundes-Wahlkampf war es Peer Steinbrück, der den Nebel mied, klare Positionen bezog – aber sprach, als fühle er sich im Kühlschrank wohl. Der Dresdner Sprachwissenschaftler Joachim Scharloth hat während des vergangenen Bundes-Wahlkampfs in einer detaillierten Analyse die Reden Merkels und Steinbrücks verglichen: Steinbrück verzichtete auf den Nebel, aber auch auf Emotionen; Merkel nutzte die Emotionen und den Nebel.
Wir schimpfen also auf den Nebel und lassen uns doch gern von ihm einlullen.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 22. Juni 2015; erweiterte Fassung
430 Leser von deutschen Zeitungen haben sich nach dem Absturz der Germanwings-Maschine an den Presserat gewandt und sich über die Berichterstattung beschwert. Eine Leserin der Thüringer Allgemeine hatte sich direkt an die Redaktion gewandt und kritisierte die „respektlose und pietätlose und vor allen Dingen lauthalse Berichterstattung über den Absturz der Unglücksmaschine“: Er sei „zutiefst menschenunwürdig und nur einem verachtungswürdigen Voyeurismus geschuldet“.
Ein anderer Leser wollte gleich den Staat einschalten, damit er Medien verbiete, „persönliche Daten in solchen Fällen zu veröffentlichen. Normalerweise müssten hier empfindliche Strafen ausgesprochen werden. Bis zum Berufsverbot. Allerdings, wie vereinbart sich das dann mit dem Grundgesetz?“
In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete der Chefredakteur:
Sehr geehrter Herr W.,
Sie fragen zu Recht: Wie vereinbaren sich Berufsverbote und harte Strafen für Journalisten mit dem Grundgesetz?
Gar nicht, so lautet die klare Antwort. Die Presse kontrolliert den Staat und nicht der Staat die Presse – so steht es in Artikel 5 des Grundgesetzes. „Eine Zensur findet nicht statt“ bedeutet: Keiner darf Journalisten zwingen, über eine Sache oder eine Person zu schreiben oder dies zu unterlassen. Die Presse ist frei.
Allerdings müssen auch Journalisten die Persönlichkeits-Rechte beachten und dürfen, falls sie dagegen verstoßen, bestraft werden; sie dürfen nicht beleidigen oder die Unwahrheit schreiben.
So läuft zurzeit ein umstrittenes Gerichtsverfahren in Mecklenburg: Ein Reporter muss 1000 Euro bezahlen, weil er einen Jäger „Rabauken“ genannt hat; der Jäger hatte ein totes Reh an seiner Anhänger-Kupplung befestigt und über die Landstraße gezogen. Der Nordkurier akzeptiert diese Strafe nicht und zieht in die nächste Instanz. Der Chefredakteur in Neubrandenburg spricht von einer Gefährdung der Pressefreiheit durch Staatsanwalt und Richterin:
„Dieses Land hat zwei Diktaturen hinter sich und leider auch eine entsprechend fürchterliche Justizgeschichte. Die beiden über die freie Presse herfallenden Juristen haben daraus nichts gelernt. Vielleicht wäre es ihnen genehm, wenn der Nordkurier seine Artikel künftig den Behörden vorab zur Begutachtung vorlegt – war doch früher auch schon so.“
Der Staatsanwalt hat Anzeige gegen den Chefredakteur gestellt.
Sehr geehrte Frau Z.,
der Presserat entscheidet, ob Journalisten gegen den Pressekodex, also die Moral der Medien, verstoßen haben. Er hat so über die Beschwerden gegen die Berichterstattung zum Flugzeug-Absturz entschieden:
1. Der Name des Piloten durfte genannt werden.
Nach der Pressekonferenz des französischen Staatsanwalts durften Journalisten davon ausgehen, dass Andreas Lubitz das Flugzeug absichtlich zum Absturz gebracht hatte. Der Sprachrekorder war ausgewertet und Ermittlungen der Luftfahrtbehörde lagen öffentlich vor. Von Vorverurteilung konnte keine Rede mehr sein.
Zwar war durch die Namensnennung auch die Identifizierung der Eltern möglich, aber das öffentliche Interesse wog stärker als das Verschweigen des Nachnamens bei dieser außergewöhnlich schweren Tat, die in ihrer Art und Dimension einzigartig ist.
Eine besondere Zurückhaltung, die bei Selbstmorden geboten wäre, tritt mit dem Blick auf 149 Todesopfer zurück.
2. Bilder von den Opfern durften nicht veröffentlicht werden.
Opfer und ihre Angehörigen dürfen im Bild nur gezeigt werden, wenn es sich um berühmte Persönlichkeiten handelt oder eine ausdrückliche Zustimmung vorliegt. Also durften Fotos der Angehörigen, aufgenommen an den Flughäfen in Düsseldorf und Barcelona, nicht gedruckt werden.
Die TA hatte ein solches Foto gedruckt; wir haben dafür um Entschuldigung gebeten.
3. Die Partnerin des Co-Piloten durfte nicht erkennbar sein.
Eine Zeitung hatte zwar nicht den vollständigen Namen genannt, jedoch waren in dem Text so viele persönliche Details enthalten, dass die Partnerin des Co-Piloten identifizierbar war. Das verstößt gegen den Pressekodex und ist zu rügen, entschied der Presserat.
Auch die Berufe der Eltern des Co-Piloten zu erwähnen und ihr Wohnhaus nebst Umgebung zu zeigen, verletzt den Persönlichkeitsschutz.
Thüringer Allgemeine, 13. Juni 2015, Kolumne „Leser fragen“
Dieser Brief einer Leserin stand in der TA (Thüringer Allgemeine):
Auch meine Großeltern kamen mit meinen Eltern aus dem damaligen Züllichau als Flüchtlinge nach Deutschland. Man sollte aber hier nicht unerwähnt lassen, dass diese Menschen alles zurück lassen mussten (die Betonung liegt auf mussten), weil der Krieg vor der Tür stand. Die heutigen Asylanten kommen zu 90 Prozent in ein angebliches Schlaraffenland.
Hier ist unsere Regierung gefordert, endlich mal konkrete Gesetze zu schaffen und ein bisschen genauer zu schauen, wer hier bleiben darf. Und auch wenn es vielleicht rassistisch rüberkommt, damals kamen Deutsche zu Deutschen und das Volk wurde nicht mit fremden Kulturen vermischt, welche noch dazu nicht bereit sind, sich unserem Leben anzupassen.
Unsere Eltern waren froh und dankbar für ein Dach über dem Kopf, ein Stück Brot und Wasser zum Trinken. Und heute? Asylanten ziehen vor die Behörden und demonstrieren, beschweren sich über dies und jenes, führen Prozesse, ob Kopftuch oder nicht. Dies in einem Land, wo sie eigentlich vorerst nur Gast sind. Wenn diese Menschen sich mehr einordnen würden, wären sie sicher auch hier willkommen.
> Darauf reagierte ein Leser:
Sehr geehrte Redakteure, da ist ihnen wohl wieder einmal etwas durchgerutscht? Könnte man, wenn man so etwas veröffentlicht, nicht wenigstens ein paar erläuternde Sätze der Redaktion hinzufügen? Die Presse wird ihrer Verantwortung nicht gerecht.
> Das ist die Antwort des Chefredakteurs in einem Brief an den Leser:
Ich schicke voraus: Die Meinung der Leserin ist nicht meine Meinung, und sie bewegt sich am Rand dessen, was man als diskussionswürdig erachten kann. Aber sie beleidigt nicht, verletzt keine Gesetze.
Warum drucken wir ab und an auch solche Briefe? Die Meinungen von Menschen verschwinden nicht dadurch, dass man sie nicht zur Kenntnis nimmt. Am Ende kommt sonst Pegida oder Ähnliches heraus, und alle sind überrascht, irritiert und fordern, man sollte unbedingt mit den Menschen reden, die so denken. Wir halten es für zweckmäßiger, immer mit den Menschen zu reden, sie so zu nehmen, wie sie sind, und nicht auszugrenzen. Wir folgen Kant: Der Mensch aus so krummen Holz geschnitzt, dass nicht gerade wachsen kann.
Deshalb sind wir überzeugte Demokraten: Wir machen uns den Menschen nicht besser, als er ist. In einer Demokratie leben auch keine besseren Menschen, aber wir passen auf, dass sich das Böse und der Böse nicht unkontrolliert austoben kann,
Warum fügen wir nicht ein paar erläuternde Sätze hinzu? Die Meinung der Redaktion zu Flüchtlingen ist hinlänglich bekannt durch Leitartikel, Kommentare, Aktionen, Diskussionen usw. Es dürfte nicht möglich sein, unsere liberale Sicht auf die Flüchtlings-Debatte zu ignorieren. Wir erläutern also unentwegt – und sind bisweilen erstaunt, welche Meinungen Leser haben, die seit Jahren unsere Zeitung lesen (wobei wir auch die Briefe lesen müssen, die nicht gedruckt werden können).
Die Leser-Seite ist nun – aus gutem Grund – die Seite der Leser, in der eben nicht alles von der Redaktion kommentiert wird. Bisweilen entstehen jedoch Debatten unter Lesern auf dieser Seite: Davon hätten wir gerne mehr.
Kurzum: Unsere Leser-Seite ist vergleichbar der Hyde-Park-Corner in London, im Mutterland der Demokratie. Da stehen auch die guten Menschen nicht in der Nähe und kommentieren alle und jeden. Die einzige Ausnahme in der TA ist das „Leser fragen“ am Sonnabend, in dem der Chefredakteur auf Fragen und auf Kritik von Lesern antwortet. Fast jedes Mal bekomme ich Briefe und Mails, in denen mir oberlehrerhaftes Verhalten vorgeworfen wird. Die meisten Erwachsenen mögen das nicht, was sie als „Belehrung“ empfinden.
In der Hoffnung, dass Sie sich nicht dazu zählen, verbleibe ich mit freundlichen Grüßen
Ein Leser aus Erfurt beklagt sich bei der Thüringer Allgemeine über das Foto auf der Titelseite, das die Zeitung am Tag nach dem Absturz der German-Wings-Flugzeugs veröffentlichte:
Als wenig rücksichtsvoll, ja pietätlos, empfinde ich die Veröffentlichung eines von Alejandro Garcia angebotenen Fotos. Es gehört sich nicht, das Foto trauernder Menschen nach einem solchen Unglück sowie nach dem Verlust eines Angehörigen in der Zeitung zu präsentieren. Sie bewegen sich damit auf der Ebene von Boulevardjournalismus. Das muss zukünftig unterbleiben.
Der Leser fragt:
War Ihre Zeitung überhaupt autorisiert, dieses Foto zu veröffentlichen? Wo bleibt die Selbstkontrolle der Journalisten? Wo bleibt der Schutz des persönlichen Bilds? Oder gilt das nicht, weil die abgebildeten Personen aus Spanien sind und sich gegen die Veröffentlichung in Thüringen kaum wehren können?
Der Chefredakteur antwortet:
Sehr geehrter Herr K.,
Sie haben Recht! Wir haben gegen unsere eigenen Grundsätze verstoßen, von denen einer lautet: Wir zeigen keine Familienangehörige oder Freunde im Bild, die nach einer Katastrophe trauern, einem Unglück, einem Mord oder Attentat.
Für diesen Regelverstoß bitten wir um Entschuldigung.
Ich möchte Ihre Fragen beantworten und erklären, wie es zu unserer Entscheidung kam – an einem Tag, der uns alle verwirrt hat.
Das Foto stammt von der seriösen spanischen Nachrichten-Agentur Efe, die in 110 Ländern mit 3000 Mitarbeitern vertreten ist. Wir müssen feststellen: Die moralischen Maßstäbe sind offenbar im vereinten Europa recht unterschiedlich. Außerhalb Deutschlands ist es in vielen Ländern üblich und weder ethisch noch rechtlich umstritten, dass Agenturen und seriöse Zeitungen Opfer von Unfällen oder Verbrechen sowie deren Angehörige abbilden. Das gilt auch für Spanien.
So schickte die Agentur eine Serie von Bildern von Angehörigen aus Barcelona – ohne jegliche Bedenken. Dazu kam: Einige Bilder aus dem Flughafen wurden mit verpixelten Gesichtern gesendet, andere gar nicht. So sind wir davon ausgegangen, dass die Trauernden ihre Zustimmung zum Druck gegeben haben.
Dies Verfahren ist nicht ungewöhnlich: So hat beispielsweise die Opern-Sängerin Maria Radner im Stern über Karen Cargill geschrieben, mit der sie zusammen auf der Bühne gestanden hat – und dabei wie selbstverständlich ein Archiv-Foto des Absturz-Opfers veröffentlicht.
Dies ist eine Erklärung und ein Blick in das Innenleben einer Redaktion an einem ungewöhnlichen Tag – aber kein Wegreden der Entschuldigung. Wir hätten trotz allem richtig entscheiden müssen.
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 11. April 2015
Ein Leser greift die „Lügenpresse“ auf, den Ruf der Pegida-Demonstranten: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit.“ Er nennt ein Beispiel:
„Ein Reporter befragt 100 Leute über das Freihandelsabkommen mit den USA. 80 Leute sind dagegen, 20 sind dafür. In der Presse werden die Meinungen der 20 Befürworter bekannt gegeben. Zwei Kommentare der Gegner. Es erweckt nun den Anschein, dass die Meistbefragten dem Abkommen zustimmen. Die Presse hat somit nicht gelogen. Sie hat nur nicht die Wahrheit berichtet.“
Der TA-Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Vor gut zwei Jahrtausenden stritten sich in Griechenland die Philosophen darüber: Was ist die Wahrheit? Die einen, Sophisten genannt, schätzten die schöne Rede, die ironische Wendung, die List und die Tücke – um den eigenen Standpunkt zu stärken und Macht zu bekommen; die Wahrheit dürfe so lange gebogen werden, bis sich die eigenen, die guten Interessen durchgesetzt haben.
Sokrates war der Gegenspieler der Sophisten, ein Liebhaber der Wahrheit, der lehrte: Ein guter, ein moralischer Mensch verdreht nicht die Wörter, bis sie ihm passen; er verführt nicht die Menschen mit falschen, aber schön anzuhörenden Geschichten.
Es gab offenbar zu allen Zeiten eine Lust an Verschwörungs-Theorien, die meist gründen in der Vorstellung: Es gibt die Bösen, und es gibt die Guten, zu denen ich gehöre.
Die Wirklichkeit ist dagegen eher grau, mal ein wenig heller, mal ein wenig dunkler. Diese Wirklichkeit ist die Welt der seriösen Medien, sie macht Mühe, und sie fordert die Kunst der Unterscheidung.
Die Wahrheit ist stets die Suche nach der Wahrheit.
Die Geschichte von dem Reporter, der eine Umfrage manipuliert – und das wäre eine Lüge -, ist schön erzählt und wäre in mancher Runde von beifälligem Kopfnicken begleitet. Nur – woher hat der Erzähler das Beispiel?
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Thüringer Allgemeine, Leser fragen, 28. März 2015
Eine Leserin der Thüringer Allgemeine (TA) schreibt im Internet zur Berichterstattung über den Absturz der German-Wings-Maschine in den französischen Alpen:
Die TA bewegt sich immer mehr zum Bild-Zeitungs-Niveau.
Ein weiterer Leser findet – ebenfalls auf unseren Internet-Seiten – die Berichterstattung zu dem Fall unmöglich:
Der volle Name wird mit Bild veröffentlicht. Am besten gleich noch die volle Anschrift.
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Was ist Boulevard-Niveau? Der Bestseller-Autor Martin Suter lässt in seinem aktuellen Roman „Montecristo“ einen Redakteur den „Boulevard“ charakterisieren:
„Straßenjournalismus sollte es heißen. Gossenjournalismus! Er zielt auf die niedrigen Instinkte der Leser.“
In der Tat neigt der Boulevard dazu, mit der Wahrheit ebenso zu spielen wie mit der Menschenwürde; er schätzt die Sensation, auch wenn er eine Sache aufbauschen muss, und er mag keine langen Erklärungen, sondern schnelle Urteile. Vor allem zielt er auf die Gefühle der Menschen.
Das unterscheidet den Boulevard von seriösen Zeitungen. Doch der offenbar mutwillig provozierte Absturz eines Flugzeugs und der Tod von 150 Menschen wühlt jeden auf – selbst wenn eine Zeitung noch so distanziert berichtet.
Auch unsere Zeitung konnte über den Absturz nicht berichten wie über eine normale Landtags-Sitzung. Aber wir haben nicht mit der Würde der Opfer und ihrer Angehörigen gespielt, wir haben keine Angehörigen belästigt oder belagert, auch nichts aufgebauscht – es sei denn man wolle uns vorwerfen, überhaupt so ausführlich über den Absturz berichtet zu haben.
In der TA haben wir weder den vollen Namen noch das Porträt des Co-Piloten veröffentlicht.
Viele seriöse Zeitungen wie die „Süddeutsche“ oder die FAZ, aber auch unser Online-Auftritt, haben den Namen ausgeschrieben, nachdem ihn der französische Staatsanwalt in einer Pressekonferenz genannt hatte.
Unter Journalisten ist zur Namens-Frage eine heftige Debatte ausgebrochen:
Muss man die Angehörigen des Co-Piloten schützen? Dann darf man weder den Namen noch sein Gesicht zeigen.
Oder ist der Co-Pilot als ein Massenmörder zu einer Person der Zeitgeschichte geworden? Dann könnte man Namen wie Gesicht zeigen.
Wie würden Sie entscheiden?
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THÜRINGER ALLGEMEINE, 4. April 2015, Leser fragen
Ein Flugzeug stürzt ab, dabei sind viele Opfer aus Deutschland. Wie reagiert der Bundespräsident: „Mit größter Bestürzung habe ich von dem schweren Flugzeugunglück erfahren. Meine Gedanken sind bei den Familienangehörigen und Freunden der vielen Opfer. Ihnen gilt meine tief empfundene Anteilnahme.“
Es sind Worte aus dem Floskel-Repertoire: Bestürzung und Anteilnahme, alles stets groß oder größer und tief empfunden; es fehlt nur das Allerweltswort „Betroffenheit“. So oder ähnlich reagieren fast alle Politiker: Unser Vorrat an Worten für Trauer und Tod ist endlich und mittlerweile aufgebraucht. Unsere Sprache hat auch ihre Grenzen.
Offenbar meinen Politiker und Funktionäre, dass die Öffentlichkeit von ihnen Bestürzung und Betroffenheit erwartet. Dank Facebook und Twitter ahmen Tausende mittlerweile die sprachliche Hilflosigkeit unserer Politiker nach:
Gabi schreibt in Großbuchstaben: „FASSUNGSLOSIGKEIT. TRAUER“. Matthias Opdenhövel ist auch „fassungslos“ und Andy wünscht „Good night. Unsere Gedanken sind bei den Betroffenen des Flugs“ und fügt an „traurig, nur traurig“.
Wer braucht diese tausendfache Betroffenheit? Wer die Fassung verloren hat, sollte besser schweigen und – so er es kann – beten.
Es melden sich allerdings auch die Zyniker der Betroffenheit. Ines Pohl, die Chefredakteurin der taz twittert:
fast scheint es, als könnte Deutschland endlich die dringende Sehnsucht erfüllen, auch mal eine Katastrophe für sich zu beanspruchen.
Und ein Verwirrter verschwört sich schon: „Warum gibt man nicht zu, dass es ein missglücktes Manöver der US-Streitkräfte war???“ Und ein Pegidianer, der gern über die Lügenpresse schimpft, weiß, dass der Kopilot vorher zum Islam konvertiert ist.
Da bleibe ich doch lieber bei unserem bestürzten Bundespräsidenten.
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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 7. April 2015
Mario Schattney per Facebook am 7. April um 16:04
Die Grenzen der Sprache sind die Grenzen unserer Welt(erfahrung)? Ludwig Wittgensteins Postulat: Wovon man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen!
Ein Leser der Thüringer Allgemeine hatte sich beim Presserat über den Bericht in einer Lokalausgabe beschwert; darin hatte ein freier Mitarbeiter in einer Serie über ein griechisches Restaurant und seinen Inhaber berichtet und den Inhaber mit Namen und Foto vorgestellt.
Ein Leser beschwerte sich beim Presserat über die fehlerhafte Recherche: Der Name des abgebildeten Mannes sei falsch; zudem sei der Wirt kein Grieche, sondern komme aus dem Kaukasus.
Der TA-Chefredakteur Paul-Josef Raue berichtete in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Warum soll ein Journalist einem Menschen, der als Wirt öffentlich bekannt ist, misstrauen, wenn er seinen Namen nennt? In einer harmlosen Recherche können und dürfen wir nicht die Vorlage eines Ausweises verlangen.
Als der Artikel erschienen war, rief eine Frau anonym an und wies auf den angeblich falschen Namen hin. Wir recherchierten und konnten die Behauptung nicht bestätigt finden. Uns drängte sich der Verdacht auf, ein missliebiger Konkurrent solle denunziert werden.
So sah es auch der Presserat, der die Beschwerde für unbegründet erklärte:
„Der Autor des Beitrages konnte dem Wirt des Restaurants Glauben schenken. Es bestand keinerlei Anlass, daran zu zweifeln bzw. die Identität zu hinterfragen. Eine Verletzung der Sorgfaltspflicht seitens der Redaktion kann daher nicht festgestellt werden.
Woher der Wirt komme, ist zudem für die Berichterstattung nicht so entscheidend, dass die Redaktion allein auf einen anonymen Hinweis hin im Nachhinein eine aufwendige Recherche zur Herkunft des Wirts hätte anstellen müssen.
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Thüringer Allgemeine 21. März 2015
Nach welchen Kriterien erfolgt die Auswahl der Informationen, die Platzierung auf den Seiten und die Größe der Artikel?
So fragt ein Leser der Thüringer Allgemeine (TA) Als Beispiel nennt der Leser aus Weimar den einspaltigen Artikel „AfD klagt gegen Abschiebestopp“ am 5. März; über das Thema hatte die nationale Zeitung „Die Welt“ ausführlicher berichtet. Dagegen berichtete die TA groß über den Fehltritt von Altkanzler Helmut Schmidt: „Liebe, Macht und Seitensprünge“. Der Leser stellt fest: „Auf einer Seite eine auf das Nötigste reduzierte Information und auf der anderen Seite eine übergewichtige Boulevardglosse. Ändert sich das Genre von Information auf Klatsch?“
Und der Leser fragt abschließend: „Warum erläutern sie nicht genau so wortreich den Hintergrund der Verfassungsklage? Und warum lesen wir darüber keinen Kommentar?“
Der Chefredakteur antwortet in seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“:
Wir wählen die Informationen aus, die wichtig sind für die Wähler in Thüringen, die das Leben und den Alltag unserer Leser in Thüringen beeinflussen und die zum Gespräch zu Hause oder bei der Arbeit taugen. Wir erklären das, was schwer zu verstehen ist, und wir kommentieren es, um unsere Leser zu Widerspruch oder Zustimmung zu reizen.
Über das Gutachten von Professor Schachtschneider, das die AfD zum Abschiebestopp bestellt hatte, berichteten wir ausführlich schon am 24. Februar, also zwei Wochen vor der „Welt“. Dass die AfD mit dem Gutachten vors Verfassungsgericht ziehen will, war deshalb nur eine Meldung; den Hintergrund hatten wir schon ausgeleuchtet.
Unser Reporter Martin Debes kommentierte ausführlich das Gutachten, die Klage und die Position der Regierung in seinem „Zwischenruf: Auf der rhetorischen Wippe“.
Die Enthüllungen der Liebesaffäre von Helmut Schmidt ist nur vordergründig Klatsch. Es geht vor allem um die Inszenierung und die Doppelmoral von Politikern: Schmidt zeigte der Öffentlichkeit das Bild einer guten, gar vorbildlichen Ehe. Wenn sich herausstellt, dass er seine Wähler getäuscht hatte, sprechen wir schon über eine wichtige Information.
Der Journalist Klaus Harpprecht schrieb in seinen Memoiren, die Ende vergangenen Jahres erschienen sind, von Schmidts Doppelmoral, der stets „schrecklich moralisierend“ dem Parteifreund Willy Brandt dessen offenkundige Liebschaften vorwarf. So etwas muss der Bürger erfahren, es wäre fahrlässig, wenn wir diese Nachricht unterdrückt hätten – gleich ob wir Helmut Schmidt mögen oder nicht.
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Thüringer Allgemeine, 14. März 2015, Leser fragen
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Die Kolumne „Zwischenruf“ von Martin Debes zum Thema
Auf der rhetorischen Wippe
Der AfD in Thüringen hätte nichts Besseres passieren können als diese Koalition. Neulich zum Beispiel, bei der von der neuen Fraktion beantragten Landtagsdebatte zum Winterabschiebestopp, ließ sich dieses fast schon symbiotische Verhältnis gut beobachten.
Mit Lust hüpfte Rot-Rot-Grün auf die rhetorische Wippe, die von der AfD aufgebaut worden war. Hoch und runter ging es, immerzu. Vor allem Linke und Grüne waren sich einig: Die Gegnerschaft der AfD zum Abschiebestopp sei mindestens rassistisch, wenn nicht gar nazistisch.
Allerdings fiel bei all der Empörung den Beteiligten nicht auf, dass, wenn man dieser Logik bis zu ihrem überaus schlichten Ende folgt, auch der Bundesinnenminister, die Mehrheit des Bundestages und der Länder irgendwie rassistisch sein müssen. Schließlich finden auch die den Abschiebestopp falsch oder haben ihn zumindest nicht eingeführt.
Gewiss, man muss sich der von der AfD propagierten Meinung nicht anschließen: Aber man sollte sie ernst nehmen. Nicht nur, weil sich dies in einem demokratischen Land gehört, sondern auch, weil es klug wäre.
Es ist doch so: Rot-Rot-Grün hat mit dem Winterabschiebestopp, den sie als ihren ersten Regierungsakt geradezu zelebrierten, bewusst Symbolpolitik veranstaltet.
In der Realität handelt es sich nurmehr um einen temporären Erlass, der an dem Dasein der meisten Flüchtlinge nichts grundhaft ändert. Das Justizministerium, das jetzt vor allem Migrationsministerium heißen will, kann keine genauen Zahlen mitteilen. Aber es sind bislang wohl nur etwas mehr als 100 Menschen, die aufgrund des Abschiebestopps in Thüringen bleiben durften.
Doch die AfD kümmern die Fakten genauso wenig wie die Koalition. Sie bekämpft Symbolpolitik mit Symbolpolitik. Erst das Rechtsgutachten, dann die Debatte im Landtag, nun die Klage beim Verfassungsgericht: Die Partei reitet, so wie die Koalition, ein Prinzip – nur eben das gegenteilige.
Dass der Abschiebestopp so gut wie nichts damit zu tun hat, dass immer mehr Asylbewerber im Land unterkommen müssen, ja, dass die Maßnahme demnächst ausläuft – das interessiert weder die eine noch die andere Seite. Jeder bewegt sich ausschließlich in seinem politischen Universum und bedient jeweils die eigene Klientel.
Insgeheim beginnen die Koalitionsfraktionen zu ahnen, dass ihre Reflexe die AfD nur aufwerten. Tatsächlich hat sich die Partei in dem halben Jahr ihrer parlamentarischer Existenz durchaus professionalisiert. Die Mischung aus Provokation, Populismus und normalen Politikansätzen könnte funktionieren, vor allem dann, wenn den anderen nicht mehr einfällt, als wahlweise munter drauf zu hauen, auszugrenzen oder gar mal eben eine Veranstaltung zu zerstören. In all dem Getöse fällt es nicht weiter auf, dass die AfD zum großen Teil gar nicht weiß, was sie will, außer vielleicht ausrangierte Positionen von Union und FDP einzunehmen – zumal sie unterhalb der Fraktionsebene wenige arbeitsfähige Strukturen besitzt.
Das einzige echte eigene Thema, die Europapolitik, wird bei Landeswahlen kaum mehr ziehen – zumal keiner vorhersehen kann, was aus der Gesamtpartei wird. Eine neoliberal-konservative Lucke-Partei oder ein rechtsäußeres Ideologieprojekt? Wer weiß.
Natürlich, es stimmt ja: Dort, wo die Argumente fehlen, arbeitet die AfD mit Vorurteilen, schürt Ängste und bedient sich bei Sprüchen, die so auch bei der extremen Rechten Verwendung finden. Die Rhetorik des Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke grenzt oft genug ans Völkische. Er selbst besitzt dabei die unangenehme Anmutung eines Missionars, auf den Deutschland gerade noch gewartet hat, derweil sein Fraktionsvize Stephan Brandner den parlamentarischen Dauerrüpel gibt.
Doch wie Rot-Rot-Grün darauf reagiert, ist falsch. Wer meint, dass es ausreiche, die AfD pauschal in die Nazi-Ecke zu stellen, handelt intellektuell unredlich und politisch dumm. Man sollte wenigstens registrieren, dass die AfD schlau genug ist, Leute auszuschließen, die offen rassistisch argumentieren und zu versuchen, zwischen Asylrecht und Zuwanderung zu differenzieren.
Richtig, hierbei handelt es sich, genauso wie beim Angebot Höckes, seine Abgeordnetenwohnung an Flüchtlinge zu geben, insbesondere um Taktik. Aber wenigstens scheint die AfD so etwas zu besitzen.