Alle Artikel mit dem Schlagwort " Thüringer-Allgemeine"

Dürfen Chefredakteure beim Interview mit der Kanzlerin „entgleisen“?

Geschrieben am 23. August 2014 von Paul-Josef Raue.

„Fürchterliche und beleidigende Entgleisungen“ entdeckt ein 84 Jahre alter und nach eigener Auskunft parteiloser Leser der Thüringer Allgemeine in den Fragen der Chefredakteure beim Interview mit der Kanzlerin.  Das Interview hatten die Chefredakteure der drei Thüringer Tageszeitungen (TA, OTZ, TLZ) gemeinsam geführt und wortgleich veröffentlicht.

Vor allem eine Frage empfindet der Leser als „unerhört und falsch“ und erinnert ihn an Politiker in der alten BRD des kalten Kriegs:

Sehr wahrscheinlich werden stasibelastete Politiker für die Linke in den Thüringer Landtag einziehen. Nach Ansicht der Thüringer CDU ist die Linke ein Sammelbecken für Stalinisten, linke Gewalttäter und Stasi-Zuträger. Teilen Sie diese Meinung?

Unser Leser zweifelt sehr, „dass die Thüringer CDU so falsch geprägt ist, wie das in der Fragestellung behauptet wird“.

Chefredakteur antwortet:

Sehr geehrter Herr S., 

die Frage an die Kanzlerin nimmt das Zitat eines führenden CDU-Politikers in Thüringen auf. Der Fraktionsvorsitzende Mike Mohring sagte in einem Interview mit Bernd Hilder, dem Chef der TLZ:

Bodo Ramelow verstellt sich. Hinter der vermeintlich bürgerlichen Fassade des Fraktionsvorsitzenden der Thüringer Linken verbirgt sich eine Gruppe aus Stalinisten, aus Extremisten, aus Leuten, die beim Schwarzen Block aktiv sind, aus linken Gewalttätern und ehemaligen Stasi-Spitzeln.

< Hier werden wir Journalisten für eine "Entgleisung", so sie eine ist, in Haftung genommen, die wir lediglich zitieren - um zu erfahren, ob die Kanzlerin so denkt wie ihr Parteifreund in Thüringen. Wir sind nur die Boten, mehr nicht. Es ist auch nicht Aufgabe von Journalisten, Werbung für Politiker zu machen und die Floskeln ihrer Pressesprecher und Wahlkampf-Manager zu drucken. Es ist unsere Aufgabe, mit unbequemen, gar frechen Fragen dem Politiker die Wahrheit seines Denkens zu entlocken. Das schulden wir unseren Lesern und den Bürgern. Ist uns das mit dem Merkel-Interview gelungen? Im Gegensatz zu Ihnen fanden andere Leser das Interview als zu zahm. Ich gebe zu: Unerhört, falsch und entgleisend waren die Fragen  wohl nicht; im Gegenteil: Wir hätten schon ein bisschen bissiger sein können. Thüringer Allgemeine, Samstag-Kolumne „Leser fragen“ 23. August 2014

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Der Leserbrief in Auszügen, am 20. August 2014 auf der TA-Leserseite veröffentlicht:

Eine Stimme für die Linke

Frau Merkel wird gefragt: „Sehr wahrscheinlich werden stasibelastete Politiker für die Linke in den Thüringer Landtag einziehen. Nach Ansicht der Thüringer CDU ist die Linke ein Sammelbecken für Stalinisten, linke Gewalttäter und Stasi-Zuträger. Teilen Sie diese Meinung?“.

Hierzu antwortet ein 84-jähriger Bürger aus Erfurt, der in der DDR gelebt, ordentlich gearbeitet und seit 61 Jahren eine Familie mit einer Frau hat, seit 1989 parteilos ist und seit der Wende als Senior sehr aktiv ehrenamtlich tätig ist.

Die bereits erwähnte unerhörte, falsche Fragestellung von Chefredakteuren der drei Zeitungen in Thüringen zeigt eine Grundeinstellung dieser Chefs, die an den Kalten Krieg von vor 1989 erinnert, wie er von den Politikern und anderen klugen Leuten von der alten BRD öffentlich geführt wurde.

Ich zweifle sehr, dass die „Thüringer CDU“ so falsch geprägt ist, wie das in der Fragestellung der Redakteure gesagt und behauptet wird.

Die Linke ist heute eine Partei, die besonders in den östlichen Bundesländern von zum Teil mehr Menschen vertrauensvoll angesehen und gewählt wird, da sie mit sauberen und demokratischen Mitteln für die Interessen der Menschen hier eintritt und dabei die soziale Gerechtigkeit und andere Grundinteressen der Menschen hoch angebunden vertritt.

Militärische Weichspül-Sprache: Von der Leyens nicht-letale Waffen (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 17. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Der finale Rettungsschuss hört sich harmlos an, ist aber in der Regel tödlich. Der Kollateralschaden hört sich harmlos an, ist aber auch in der Regel tödlich. 

Wenn Offiziere, ob beim Militär oder der  Polizei, tödliche Waffen einsetzen, erfinden sie gerne Wörter, die eher an ein Fußballspiel in der Verlängerung denken lassen oder an zerbrechende Kaffeetassen – als an Menschen, die sterben, ob schuldig oder unschuldig. 

In die Wörter-Sammlung der Verharmloser bittet in dieser Woche die „nichtletale Waffe“ um Aufnahme. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen will Nicht-Letales ins Kurdengebiet liefern, also Waffen, die nicht töten sollen – aber töten können. 

Nicht-letal ist beispielsweise Narkose-Gas, das in einen Raum gesprüht wird, um Menschen zu betäuben. Als Soldaten 2002 bei einer Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater eine zu hohe Dosis versprühten, starben 170 Menschen.

„Non-Lethal“ ist ein englisches Wort, das  mit „nicht-tödlich“ zu übersetzen ist. Aber Minister und Soldaten sprechen nicht gerne vom Tod. 
 
Das Fraunhofer Institut, eine angesehene Wissenschafts-Organisation, forscht nicht nur an neuen Waffen, sondern auch an der Sprache und schreibt auf seiner Internetseite: „Das Fraunhofer ICT sieht die aktuelle Aufgabe darin, die existierenden NLWs weiterzuentwickeln, zu verbessern und auszubauen.“

NLW sind nicht-letale Wirkstoffe, nur ein bisschen tödlich.

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 18. August 2014

Antisemitismus und Rechtsextremes im Leserbrief: Wie der Chefredakteur in der Zeitung antwortet

Geschrieben am 15. August 2014 von Paul-Josef Raue.

Wie können Sie behaupten, dass bei bis zu 100.000 Thüringern mit nationaler Gesinnung die NPD keine Chance hat?

So fragt ein Leser, nachdem er die Chefredakteurs-Kolumne „Leser fragen“ gelesen hatte, in der ein Offener Brief der NPD zu Wahlkampf in Thüringen und Pressefreiheit eine Antwort fand. Der Leser fährt fort:

Sie zeigen uns, dass Sie voll auf politisch gewollter Linie liegen und es eine Pressefreiheit in Deutschland zur Zeit nicht gibt!

Ich kann den Zweck Ihrer offensichtlichen Manipulationen schon verstehen. Die Thüringer gehören mehrheitlich der christlichen Religion an bzw. sind Atheisten! In Ihrer Zeitung ist seit Ihrem Amtsantritt eine andere Religionsgemeinschaft überproportional vertreten.

Glauben Sie nicht, dass die Leser das nicht bemerkt haben? Hinter vorgehaltener Hand wird schon nicht mehr von der Thüringer Allgemeinen sondern von der „Jüdischen Allgemeinen“ gesprochen!

Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:

Sehr geehrter Herr S.,

Sie haben recht: Sie zählen zu den rund 250.000 Thüringern – also deutlich mehr als Ihre vermuteten 100.000 – mit rechtsextremer Einstellung. Das fand der „Thüringer Monitor“ heraus, über den wir kurz vor Weihnachten berichtet hatten.

Offenbar wählen die Rechtsextremen aber nur zum geringen Teil die NPD, wie die Umfragen und die Wahlen der vergangenen Jahre zeigen. Thüringen ist das ostdeutsche Bundesland, in dem noch nie ein Rechtsradikaler in den Landtag gewählt worden ist.

Eine Redaktion, die Freiheit und Demokratie schätzt, wird sich bemühen, dass dies so bleibt. Lenin wird der Satz zugeschrieben: „Die Kapitalisten werden uns noch den Strick verkaufen, mit dem wir sie aufknüpfen.“ Die Rechtsextremen mögen ähnlich denken, wenn sie von den Demokraten und der Pressefreiheit sprechen – und sie werden sich ebenso irren, wie es Lenin tat.

Wir schätzen keine Diktaturen, wir verachten den Faschismus. Damit wir nie wieder erleben, wie Deutsche ein Volk ermorden, darum erinnern wir immer wieder an den braunen Terror – aber debattieren auch über die Irrtümer in der Geschichte der Christen, wenn wir beispielsweise Luthers Judenhass zum Thema machen.

Wir wollen erreichen, dass der Antisemitismus in Thüringen keine Zukunft hat. Und Sie haben wieder Recht: Die Zahl der Rechtsextremen hat sich in den vergangenen Jahren halbiert – und das können sie bitte verbreiten ohne vorgehaltene Hand.

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Thüringer Allgemeine, 16. August 2014

Antwortet eine Redaktion auf den offenen Brief der NPD zur Pressefreiheit? Und wenn ja: Wie?

Geschrieben am 10. August 2014 von Paul-Josef Raue.

NPD-Landesvorsitzender Patrick Wieschke schreibt als „Leser und Demokrat“ einen offenen Brief an den Chefredakteur der Thüringer Allgemeine über die Pressefreiheit. Unter anderem ist zu lesen:

Mit Sorge beobachte ich, daß die Pressefreiheit zunehmend mißbräuchlich verwendet wird. Durch das Grundgesetz ist nicht nur die Freiheit der Presse garantiert, sondern eben auch das Grundrecht auf Information (Art. 5) für alle Staatsbürger und das Recht auf freie Wahlen (Artikel 28 Abs. 1 Satz 2 sowie Artikel 38 Abs. 1).

Dieses wird meines Erachtens dadurch unterlaufen, indem Journalisten nach rein subjektiven Einschätzungen und vielleicht auch privaten politischen Meinungen ihre Berichterstattung vornehmen.

Im laufenden Landtagswahlkampf gipfelt die Beeinträchtigung oben genannter Grundrechte darin, daß die von Ihnen verantwortete Thüringer Allgemeine eine eigene Einschätzung dergestalt vornimmt, welche Parteien „wichtig“ sind und folglich welche nicht.

Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet in seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“:

Sehr geehrter Herr Wieschke,

unsere Zeitung stellt alle Parteien vor. Ausführlich werden Parteien mit ihren Programmen verglichen nach folgenden Kriterien:

> Mitglieder des aktuellen Landtags (CDU, Linke, SPD, FDP und Grüne)
> und die AfD als Partei, die nach den Umfragen gute Chancen hat, in den Landtag einzuziehen. Die anderen sechs Parteien, darunter die NPD, haben offensichtlich kaum Chancen.

Gleichwohl können sich unsere Leser auch ausführlich in allen Partei-Programmen informieren. Der Wahl-O-Mat wird bald auf unserer Internet-Seite wieder Tausenden von Lesern die Chance geben, ihre eigenen politischen Anschauungen mit denen der Parteien in Thüringen – also auch der NPD – zu vergleichen.

Mit Verwunderung habe ich Ihre Belehrung zu Pressefreiheit gelesen. Pressefreiheit in einer Demokratie erlaubt, ja fordert und fördert sogar subjektive Einschätzungen.

Wenn Sie subjektive und private politische Meinungen als „Beeinträchtigung“ ansehen, wollen Sie faktisch die Pressefreiheit abschaffen. So verfahren Sie auch: Die NPD verhindert immer wieder Berichterstattung von ihren Parteitagen.

Sie bemühen als Feind unserer Verfassung die Pressefreiheit, um sie abzuschaffen – so wie sie es mit den meisten unserer Grundrechten tun wollen. Jeder Redakteur der TA dagegen schätzt und schützt unsere Verfassung. Wir werden nicht untätig zusehen, dass Sie dies verhindern wollen.

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Thüringer Allgemeine 9. August 2014

Wenn Dämme brechen und Leute ihr Haustier heiraten (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 25. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

In Deutschland gibt es vergleichsweise wenige Dämme. Sie schützen Mensch und Schaf gerade mal an großen Flüssen und am Meer. Dennoch ist ein Sprachbild, besonders bei Politikern, sehr beliebt: Der Dammbruch. „Wir sind ein Volk von Deichbeauftragten“, macht sich der Mainzer Verfassungsrichter Friedhelm Hufen über den Deich in der öffentlichen Diskussion lustig.

Aber das Bild ärgert ihn auch, zu Recht. Wer vor dem Dammbruch warnt, will nicht mehr diskutieren und begründen: Er malt den Weltuntergang an die Wand, wenn es um Designer-Babys, Einwanderung oder Homo-Ehe geht – und unterstellt, dass der Mensch nicht mehr eingreifen kann wie bei einer unbeherrschbaren Sturmflut.

„Der drohende Dammbruch gehört zum Lieblingsritual pseudointellektueller Gruselrunden“, urteilt der Jura-Professor und argwöhnt, dass Risiken dramatisch überzeichnet und Chancen von vornherein negiert würden. Diese „Pseudo-Intellektuellen“ seien selbsternannten Vormünder, die die Vernunft des Einzelnen durch ihre eigene Entscheidung ersetzen wollen: „Gegenüber Dammbruch und Katastrophe wird dann der vorsichtige Hinweis auf individuelle Freiheiten und die Begründungsbedürftigkeit von Freiheitseinschränkungen zum Verstummen gebracht.“

Der Blogger Michael Hohner zitiert in Ratio Blog ein blödes, aber offenbar verbreitetes Dammbruch-Argument: „Wenn Schwule heiraten dürfen, dann müssen wir auch Leute ihre Haustiere heiraten lassen oder ihr Auto, und dann bricht die Gesellschaft zusammen.“ Für ihn sind Dammbruch-Argumente ein „Fehlschluss“, von denen er 32 aufzählt.

In der englischen Sprache spricht man von der schiefen Ebene, dem „Slippery Slope“; andere deutsche Bilder sind der Domino- und Lawinen-Effekt und die „Spirale der Gewalt“.

Beerdigen wir also die „schiefen Ebenen“ und zuerst den „Dammbruch“ und lassen Immanuel Kant zu Wort kommen, den Philosophen des mündigen Bürgers – den auch der Verfassungsrichter zitiert:

Es ist so bequem, unmündig zu sein. Habe ich ein Buch, das für mich Verstand hat, einen Seelsorger, der für mich Gewissen hat, einen Arzt, der für mich die Diät beurteilt, so brauche ich mich ja selbst nicht zu bemühen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Juli 2014 (hier erweiterte Fassung)

Vom Elend der Synonyme: Unsere Weltmeister und die Gauchos – Und dann macht es Bumm (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 19. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.
2 Kommentare / Geschrieben am 19. Juli 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, D 13 Synonyme, Friedhof der Wörter.

Was für eine Aufregung! Da singen einige Fußballer, die fürs Balltreten bezahlt werden, vor Millionen Zuschauern: „So gehn die Gauchos“ – und laufen gebückt über den Laufsteg; dann singen sie „So gehn die Deutschen“ und strecken ihre WM-Gestalten in den blauen Berliner Himmel.

„Peinlich“, gar „rassistisch“ – so kommentieren Journalisten. Dabei sind unsere Fußballer nur Opfer der unseligen Synonym-Marotte geworden. Da unsere Weltmeister unbedingt ein zweisilbriges Wort brauchten, das zum zweisilbrigen die „Deutschen“ passt, kam ihnen Gauchos in den Sinn.

„So gehn die Argentinier“ passt eben nicht, also nahmen sie „Gauchos“ als Synonym.
Und so brach das Unheil über den Unsinn herein!

Was sind Gauchos? Dass Fußballer wie Messi zu den „Gauchos“ zählen, dürfte sehr unwahrscheinlich sein. Gauchos sind Cowboys – aber nicht nur in Argentinien, sondern auch in Brasilien, Uruguay und Paraguay. Ursprünglich bedeutet „Gaucho“ vermutlich „Bandit“ oder „armer Mann“; die spanischen Kolonialherren verstanden unter dem Gaucho einen „Vagabunden“.

Dass unsere Weltmeister so intensiv über die „Gauchos“ nachgedacht haben, dürfte ebenfalls unwahrscheinlich sein. Sie brauchten einfach ein Synonym – und das geht oft schief, nicht nur bei jungen Männern in kurzen Hosen, die für schöne Tore bezahlt werden und nicht für schöne Lieder.

Ältere Weltmeister sangen auch nicht schöner: Franz Beckenbauer trällerte „1:0 für die Liebe“ und Gerd Müller „Dann macht es Bumm“. Nicht zu vergessen ist Petar Radenkovid, der „Bin i Radi, bin i König“ sang. Aber der war auch kein Weltmeister.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 21. Juli 2014

WM, Fußball und die deutsche Sprache: Der Refuri pfiff viele Penaltys (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 13. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Wenn Deutschland um die Weltmeisterschaft spielt, sind die Straßen leer gefegt – wenn nicht gerade Tausende gemeinsam unterm trüben oder schwülen Himmel jubeln. Kein „Tatort“ und kein „Wetten dass“, auch nicht zu besten Gottschalk-Zeiten, kommen da mit: Im TV-Film mit der höchsten Einschaltquote aller Zeiten fielen acht Tore in Brasilien  – und wahrscheinlich wird die Quote vom Endspiel gegen Argentinien noch übertroffen.

Wie ist die Faszination des Fußballs zu erklären? Ich wage die These: Es ist ein Spiel, das nahezu ohne Anglizismen auskommt. Dabei ist das Spiel in England erfunden worden. Aber ein Lehrer im nahen Braunschweig erfand – vor gut hundert Jahren – die Fußballsprache.

Englische Worte verwandelte er in deutsche, das gab es wirklich einmal. Das „goal“ wurde zum Tor, das „offside“ zum Abseits, „half“ zur Halbzeit, der „free kick“ zum Freistoß, den „referee“ zum Schiedsrichter, der „coach“  zum Trainer und der „header“ zum Kopfball.

Heute verwandeln wir in die andere Richtung: Die „Champions League“ ist die Meister-Liga oder die Europa-Liga, aber wir reden der Uefa jeden englischen Unsinn nach, selbst wenn das deutsche Wort schöner und verständlicher klingt.

Ohne den Braunschweiger Lehrer Konrad Koch hieß der Elfmeter „Penalty“ – wie heute noch in der Schweiz. Allerdings sprechen die Schweizer den „Penalty“ so hübsch aus in ihrem Schwiizertüütsch, dass sie ihn nicht auf ihrem Friedhof der Wörter begraben sollten – ebenso wenig wie die Japaner, die den Schiedsrichter „refuri“ nennen.

Wenn der Refuri in Brasilien ein ums andere Mal nicht das sah, was Millionen Refuris in der Welt sahen, dann rufen wir weiter vor dem Bildschirm,: „Schiri, bist Du blind?“ Diesenalten Ruf, erfunden auf den Kreisklassen-Plätzen überall in Thüringen, sollten wir allerdings modernisieren: „Schiri ans Telefon:  Dein Handy klingelt.“

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 14. Juli 2014

Soll man Umfragen, die Leser nicht mögen, einfach unterdrücken? (Leser fragen)

Geschrieben am 12. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Mehrere Leser, darunter der Leser S. empören sich über die Schlagzeile „Im Osten wird häufiger gemogelt“, die am 7. Juli der Titelseite der Thüringer Allgemeine zu lesen war: „Haltloser, die Ostdeutschen pauschal verunglimpfender und beleidigender Quatsch!“ Herr S. fragt: „Wo soll auch sonst häufiger gemogelt werden? All diese wissenschaftlichen Untersuchungen – kommen immer woher?“

In seiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der TA-Chefredakteur:

Sehr geehrter Herr S., in Ihrer Empörung schwingen drei Vermutungen mit:

Erstens – eine wissenschaftliche Untersuchung werde beeinflusst durch die Herkunft des Wissenschaftlers. Das ist unwahrscheinlich: Solide arbeitende Forscher, ob West oder Ost, beschreiben exakt ein Experiment und legen nachprüfbar die Ergebnisse vor. Nur stehen bei Umfragen am Ende Zahlen, nichts als Zahlen, nackte, nüchterne Zahlen.

Wie sie interpretiert werden, darüber lässt sich trefflich diskutieren. Zum Beispiel: Warum ist es verunglimpfend zu sagen: Menschen, die in einer Diktatur lebten, können besser mogeln? Jeder mag den braven Soldaten Schweijk, dessen Mogeln wir List nennen und rühmen – weil er die Richtigen vorführte. Viele Ostdeutsche stehen in der Schweijkschen Tradition, vor allem wenn sie den Mächtigen und dem Staat misstrauen – aus Erfahrung.

Zweitens, Herr S. – die Ostdeutschen seien stets die Verlierer, und so sei es überflüssig, gar beleidigend, Studien zu veröffentlichen, die für Ostdeutsche scheinbar negativ sind. Richtig ist: In den meisten Studien schneiden Ostdeutsche – ohne zu mogeln – besser ab als Westdeutsche, beispielsweise in den Pisa-Studien, in Studien über die Zahl der Depressionen, Kitas oder Impfungen gegen Grippe.

Zudem verschwinden Umfragen nicht, wenn wir sie verschweigen. So stand die Mogel-Studie auf der Titelseite der größten nationalen Zeitung, der „Süddeutschen“, dem Zentralorgan des intellektuellen Westdeutschen.

Drittens – die Ostdeutschen würden von den Westdeutschen immer noch, 25 Jahre danach, untergebuttert. Wie wäre es mit Selbstbewusstsein? Drei Gründe dafür: Die Ostdeutschen haben erfolgreich eine Revolution erkämpft; sie haben eine Diktatur in eine Demokratie verwandelt; sie haben dem schönsten Teil Deutschlands mit Stolz, Mühe und Schweijkschen Strategien seinen alten Glanz zurückgegeben – und noch ein bisschen mehr.

Es wird Zeit, stolz und selbstbewusst zu sein. Wen stört da ein bisschen Mogeln?

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Thüringer Allgemeine, 12. Juli 2014

Erdbeeren! Diffamierung! Rufmord! Was ist eine gute Recherche?

Geschrieben am 5. Juli 2014 von Paul-Josef Raue.

Was ist das für eine Zeitung? Was ist die Autorin für eine Journalistin, dass sie nicht mitbekommt, dass sich die Zeitung auf das Niveau einer offensichtlichen Fehde herablässt. Hier soll gezielt durch eine Person und aus privaten Gründen ein Betrieb diskreditiert und Rufmord über die Medien versendet werden… Wir machen schnell erst einmal eine Diffamierung – das kommt beim Leser gut an – um dann zu schreiben: Das war aber eine Luftnummer!

So empört sich eine Leserin der Thüringer Allgemeine über eine Berichterstattung über einen Erdbeerhof: „Abgekippte Erdbeeren und eine Anzeige gegen Unbekannt“. Weiter schreibt die Leserin:

Wenn Ihre redaktionelle Mitarbeiterin einen guten und damit auch wertneutralen Journalismus betreiben würde, hätte sie längst mitbekommen, dass sie zum Spielball einer Person instrumentalisiert wurde… Zur Auflagensteigerung rate ich Ihnen zu 2 x wöchentlich barbusigen Damen auf der vorletzten Seite, das macht die ,große Schwester‘ auch.

Der Chefredakteur antwortet der Leserin in seiner Samstag-Kolumne auf der Leser-Seite:

Es gibt Regeln für einen guten Journalismus oder, um in Ihren Worten zu bleiben, für eine wertneutrale Recherche:

1. Frage alle, die zum Thema etwas Wesentliches zu sagen haben!
Unsere Redakteurin fragte:
> Einen zweiten Ostbau-Betrieb: Wie gehen Sie mit Früchten um, die Sie nicht verkaufen können?
> Das Landratsamt, bei dem die Anzeige eingegangen ist.
> Den Landesverband Gartenbau.

2. Frage vor allem den, der angegriffen wird!
Schon in der Unterzeile der Überschrift steht: „Geschäftsführung vermutet Kampagne gegen das Familienunternehmen.“ Gleich in den ersten Absätzen kommt der Geschäftsführer ausführlich zu Wort.

3. Bleibe sachlich, vermische nicht Nachricht und Kommentar!
Im gesamten, etwa 120 Zeilen langen Artikel finden Sie nicht eine kommentierende Zeile, keine wertenden Adjektive. Die Redakteurin überlässt dem Leser das Urteil.

4. Mach Dir selber ein Bild!
Unsere Redakteurin reagierte auf den Vorwurf eines Lesers, die Arbeiter verrichteten ihre Notdurft im Freien: Sie sah zwei Toilettenhäuschen direkt und in ausreichender Entfernung zum Feld.

Die Recherche hält sich also vorbildlich an die Regeln: Es kommt jeder zu Wort!

Eine andere Frage ist: War die Kompostierung der Erdbeeren überhaupt ein Thema für die Zeitung? Darüber lässt sich stets streiten. Doch wenn mehr als ein Dutzend Anrufe und Mails zu einem Thema in der Redaktion eingeht, dürfen wir von einem allgemeinen Interesse ausgehen.

Ein Artikel ist dann auch im Interesse des Geschäftsführers, über dessen Arbeit Gerüchte wabern: Er kann für Klarstellung sorgen!

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Thüringer Allgemeine 5. Juli 2014

Was antwortet man einem Leser, der die Zeitung wegen „grottenschlechter Leserbriefe“ abbestellt

Geschrieben am 29. Juni 2014 von Paul-Josef Raue.

Mir gefallen die Leitartikel auf der Titelseite, aber ich möchte die Zeitung nicht länger lesen – weil mir die Kommentare anderer Leser ärgern: „Oft grottenschlecht unter dem Stammtischniveau.“ So schreibt ein Leser der Thüringer Allgemeine, und so antwortet der Chefredakteur:

Es wäre blamabel für uns Redakteure, wenn wir unsere Kommentare nicht gut formulieren, logisch begründen und pointiert zuspitzen könnten. Das ist unser Handwerk.

Die meisten Leser haben anderes zu tun, als sich den gesamten Tag über mit den kleinen Wirren im Thüringer Kabinett und den großen Wirren der  Welt zu beschäftigen. Aber sie bilden sich eine Meinung dazu, und diese Meinung hat in einer Demokratie einen Wert – unabhängig ob einer Redakteur ist oder Professor, Angestellter oder Arbeitsloser.

In feudalen Zeiten, ob im Kaiserreich oder unter roten Zaren, haben die Mächtigen bestimmt, was das Volk zu denken hatte – und Journalisten, als Propagandisten der Macht, gaben das vorbestimmte Denken weiter. In einer Demokratie gibt es keinen, der das Denken vorschreiben kann.

Zu SED-Zeiten hieß unsere Zeitung „Das Volk“, aber das Volk kam nicht zu Wort. So haben wir vor fünf Jahren, zum 20. Jahrestag der neuen „Thüringer Allgemeine“, die Leser-Seite eingeführt.  Denn eines der großen Anliegen der Revolution war: Wir lassen uns den Mund nicht verbieten! Wir wollen wissen, wie die anderen denken – auch wenn sie anders denken!

Aufgabe von Redakteuren ist auch, eine Auswahl zu treffen und das Gespräch der Leser zu moderieren. Deshalb prüfen wir schon, welche Briefe auf dieser Seite erscheinen – nach diesen Regeln:

> Wir wählen die Briefe nicht nach unseren Vorlieben aus, auch wenn es der Redaktion bisweilen schwer fällt. Vielmehr kommt jedes Thema, das unsere Leser offensichtlich bewegt, in die Zeitung.
> Wir manipulieren nicht: Kommen etwa zur „Ukraine“ zehn Briefe, die Putin verehren, und fünf Briefe, die ihn kritisieren, dann stehen  Briefe im Verhältnis 2:1 in der Zeitung.
> Wir ignorieren Beleidigungen und falsche Behauptungen, Schmähungen und üble Nachrede – wohl wissend, wie schmal der Grat ist. Dies ist der entscheidende Unterschied zu den Internet-Kommentaren, die in der Tat meist schwer zu ertragen sind. 
> Wer Kritik übt, darf allerdings scharf formulieren, darf übertreiben, darf sich der Mehrheit widersetzen, darf grottenschlecht formulieren. Die Meinung ist frei.

Eine Meinung verschwindet übrigens nicht, wenn sie nicht öffentlich wird. Spätestens bei einer Wahl wird sie sichtbar, denn in einer Demokratie hat jeder Bürger eine Stimme.

Diese Seite der Leser hat zudem einen unschätzbaren Vorteil: Unsere Leser kommen untereinander ins Gespräch, sie sprechen und widersprechen, bisweilen gar nicht nett. Unlängst schrieb eine Frau  einem Leser zu seinem Internet-Kommentar: 

„Ich heiße Sie in meiner ehemaligen Heimat Kasachstan willkommen heißen, um Ihnen einen Einblick in die ausländische Willkommenskultur zu ermöglichen. Dort ist jeder willkommen, auch einer wie Sie mit verquerem Denken, unlogischen Argumenten und brauner Propaganda.“ Recht so.

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Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“ 28. Juni 2014 (hier ausführlichere Fassung)

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