Alle Artikel mit dem Schlagwort " Thüringer-Allgemeine"

Wie miserabel Kommunikations-Wissenschaft kommuniziert (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 22. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Wie informieren sich Bürger über Politik? Wie kommen Politiker mit Bürgern ins Gespräch? Wie reagieren die Bürger, viele verdrossen, auf Politik?

Intensiv informieren sich Bürger in ihren Zeitungen, vor allem wenn es um die lokale Politik geht. Nur lesen die Jungen immer weniger und wandern ab ins Internet. Verändert das nicht nur die Gesellschaft, also unser Zusammenleben, sondern auch die Politik?

Solche und ähnliche Fragen soll die Wissenschaft von der „Politischen Kommunikation“ beantworten – und zwar so, dass sie jeder in einer Demokratie verstehen kann.

Schauen wir in ein Buch, dass der Chef der „Thüringer Landesmedienanstalt“ herausgibt und vom Bürger, genauer: vom TV-Gebührenzahler, bezahlen lässt. Das Versprechen des Buchtitels ist groß: „Die politische Kommunikation in Deutschland“.

Wer so angespornt durch 350 Seiten stolpert, liest vom „plastischen Bild der Typologie individueller politischer Kommunikation“, von der „Stabilität auf der Aggregatebene“, von „Internetdiffusion“, von der „begrenzten Zukunft für den Organisierten Extrovertierten und eine bedeutende Zukunft für den Bequemen Modernen“ – und das und noch viel mehr in einem 108 Wörter umfassenden Satz. Der Rest des Buchs ist ähnlich, ist wortschwallendes Schweigen, ist „liquide Demokratie“, die irgendwo ins Nichts fließt.

Am Ende bekommt das liquide Schweigen einen „Ausblick“: Die Welt ändert sich, die Gesellschaft ändert sich – aber wie? Das sind sich „an diese Arbeit schließende Forschungsfragen“. Es gibt also eine Fortsetzung, und die Landesmedienanstalt wird schon zahlen.

Zum guten Ende der komplette 108-Wörter-Satz aus „Politische Kommunikation in Deutschland – Eine typologische Längsschnittanalyse individuellert politischer Kommunikation“ von Angelika Füting (Vistas-Verlag), Seite 285:

Die Zusammenfassung der Ergebnisse zeichnet das plastische Bild der Typologie individueller politischer Kommunikation in Deutschland, resümiert die Stabilität auf der Aggregatebene und weist auf die wenigen Stammmitglieder auf der Individualebene hin, stellt den internetaffinen und jungen Bequemen Modernen vor dem Hintergrund der Internetdiffusion als den relevantesten Typ heraus, leitet aus der Altersstruktur eine begrenzte Zukunft für den Organisierten Extrovertierten und eine bedeutende Zukunft für den Bequemen Modernen ab, zeigt mit der Gegenüberstellung des Bequemen Modernen und des Organisierten Extrovertierten den Wandel in der politischen Kommunikation durch das Hinzutreten des Internets und weist auf die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Bequemen Modernen und Digital Natives bzw. der Internet-Generation hin (Kapitel 6.6.)

Thüringer Allgemeine 24. Februar 2014, Kolumne „Friedhof der Wörter“: Wenn Demokratie flüssig wird (hier erweiterte Fassung)

FACEBOOK-Kommentare

Raphael Raue (22.2.14)

Wenn man nichts versteht, dann sind immer die anderen Schuld? Sicher ist der im Artikel zitierte Satz mehr als unglücklich, aber daraus ein Vorfahrtsschild des journalistischen Schreibens zu konstruieren ist es ebenso. Eine Welt, in der nur der für jedermann verständliche Satz Bedeutung haben darf, wäre doch eine äußerst arme Welt, oder nicht?

Paul-Josef Raue (22.2.14)

Ach, Ihr Philosophen! Es kommt darauf an, die Welt zu verstehen. Also gebe ich mir Mühe, so zu schreiben, dass all die verstehen, die ich erreichen will. Ja, ich bin es schuld, wenn ich nicht verstanden werde: Ich gebe mir Mühe, und ich verlange nicht, dass sich der andere Mühe geben muss – um mich überhaupt zu verstehen.

Schreibe ich für eine Fachwelt, dann will ich auch nur von Wenigen verstanden werden: Also darf ich oder muss sogar eine eindeutige Spezialistensprache nutzen, so wie es Ärzte tun oder Piloten im Landeanflug.

Wer aber über Kommunikation in der Demokratie schreibt, wer sich seine Forschung vom Bürger bezahlen lässt, der hat sich gefälligst Mühe zu geben, um von allen verstanden zu werden. Und wenn er – wie in diesem Buch – nichts zu sagen hat, sollte er schweigen – und sich nicht hinter Soziologen-Jargon verstecken.

Das gilt übrigens in besonderem Maße für Journalisten: Schreib, damit sie Dich verstehen!

Ulf-Jochen Froitzheim (22.2.14)

„Eine Welt, in der nur der für jedermann verständliche Satz Bedeutung haben darf, wäre doch eine äußerst arme Welt, oder nicht?“
Eine arme Welt ist eine, in der sich Menschen keinerlei Mühe geben, für jedermann verständlich zu reden oder zu schreiben. Noch ärmer ist eine, in der Menschen etwas „ins Soziologische“ übersetzen, um ihre Fachwelt abzuschotten gegenüber denen, die mit ihren Steuern das Gehalt bezahlen.

Raphael Raue (22.2.14)

Zu Paul: Zustimmung. Deshalb wirkt das Buch unglücklich und Luhmann eben nicht.

Zu Froitzheim: Ich verstehe Sie einfach nicht.

Ulf-Jochen Froitzheim (22.2.14)

+Raphael Raue: Wenn Sie mich nicht verstehen, wie können Sie dann Füting oder Luhmann verstehen?

Um noch eins draufzusetzen: Wer einen Satz aus 108 Wörtern drechselt, muss(te) schon Dieter Hildebrandt heißen, damit kein Affront gegenüber seinem Publikum draus wird.
http://www.youtube.com/watch?v=mrSC6ylBGl0

Manuela Cranz (22.2.14)

wobei unverständliche Schreibe, kryptische Fachsprechsatz-Versatzteile meiner Erfahrung nach praktisch immer auf Faulheit des Schreibers hindeuten. Oder darauf, dass er selbst nicht verstanden hat, was er anderen Menschen eigentlich erklären sollte (und zu feige war, oft genug nachzufragen). Das Fach-Chinesisch wird oft aus Unsicherheit verwendet, weil Kollegen es für eine Art Sicherheitsnetz halten, das davor bewahrt, sich beim Schreiben als Nichtversteher zu outen. Manchmal muss man halt drei Mal fragen: Es kann ja auch dran liegen, dass der Experte nicht gut im Erklären ist.

Fremdwörter und deutsche „Arschkriecherei“: Wo kann man hier repunsieren? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 17. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Wenn sich Engländer über uns Deutsche lustig machen, dann amüsieren sie sich über unsere „sprachliche Unterwürfigkeit“ – wie es die „Times“ genannt hat. Walter Krämer, der dem „Verein Deutsche Sprache“ vorsteht, spricht sogar von „Arschkriecherei“:

„Viele Deutsche haben das Bedürfnis, zur Benennung der Welt nicht ihre eigene Sprache, sondern die ihrer Kolonialherren zu verwenden.“

Dazu passt eine Geschichte, die Ludwig Reiners erzählt, der deutsche Sprachpapst, bevor Wolf Schneider das Amt geerbt hat:

Einige Herren treffen sich beim Wein und erfinden aus Spaß ein Fremdwort, das einfach sinnlos ist: „repunsieren“. Sie gebrauchen das Wort, als müsse es jeder kennen – etwa: „Gestern haben wir herrlich repunsiert.“ Und der Angesprochene erwidert: „Oh, war es interessant?“

In einem Lokal fragt einer der Fremdwort-Erfinden: „Herr Ober, wo kann man hier repunsieren?“ Und der antwortet: „Bitte geradeaus, zweite Tür links.“

Ludwig Reiners erzählt diese Geschichte im fünften Kapitel seiner „Stilkunst“: „Ein Streitgespräch über den Gebrauch von Fremdworten“ – und er folgert: „Nur bei Deutschen, die vor jedem fremdländischen Wort auf die Knie fallen, ist dies Experiment möglich.“

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 17. Februar 2014

Showmaster am Händie: Falsche Fremdwörter (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 9. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

Wir Deutschen mögen Fremdwörter, um zeigen: Wir sind modern, global, international, also alles andere als provinziell, wir sind unschlagbar. Und wenn uns kein Fremdwort einfällt, dann erfinden wir eines.

Jürgen Pretzsch ist Aquarellmaler und Graphiker in Erfurt. Zum Geburtstag einer Freundin brachte er ein Quiz mit; eine der Fragen drehte sich um Fremdwörter:

„Was haben diese Wörter gemeinsam? Handy, Oldtimer, Showmaster, Mobbing …“
Die Antwort: Es sind falsche Fremdwörter.

Wer in New York in einen Laden geht und ein Handy kaufen will, der erntet Erstaunen oder Gelächter: Der Verkäufer weiß nicht, was sie wünschen. In Amerika ist unser Handy ein „Mobile“. Wir könnten es also durchaus deutsch schreiben: Händie.

Wer in Chicago einen Oldtimer kaufen will, wird vom Händler dem Opa vorgestellt: Oldtimer ist im Englischen ein alter Mann und kein altes Auto. Dafür ist unser „Beamer“ in Chicago ein BMW. Und unser Beamer heißt im Englischen: Projector. Das klingt für deutsche Ohren zu deutsch, also haben wir den Beamer – den Bihmer – erfunden.

Und wer glaubt, ein Mensch allein könne kein Wort erschaffen, der kennt Rudi Carrell nicht: Er sang „Showmaster ist mein Beruf“ – und schon hatte die deutsche Sprache ein neues Wort, das eine große Karriere gemacht hat.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 10. Februar 2014

Ertrinken in den Untiefen von Begriffen oder: Kommunikative Zuspitzung(Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 2. Februar 2014 von Paul-Josef Raue.

„Wie viele Worte braucht der Mensch?“ Das ist das „kulturelle Jahresthema“ in Erfurt. Zum Auftakt gab es eine wortreiche Pressemitteilung – um den Bürgern Lust zu machen auf die vielen Wörter.

Schauen wir uns einige Wörter in der Pressemitteilung an:

> Impulsregion
> Gebietskörperschaft
> kommunikative Zuspitzung
> neuer Sinnzusammenhang
> eigenständige ästhetische Formen
> Vermittlung künstlerischen Schaffens
> Potenzial der Sprache
> vielfältige Schnittmengen
> unterschiedlichste Akteure
> umfassender Überblick

Braucht der Mensch diese Worte? Oder fällt er in die „Untiefen von Begriffen“ – und ertrinkt?

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 3. Februar 2014

Cool: Jugendliche und ihre Sprache – und warum Zeitungen sie meiden sollten (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 24. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Eine Leserin aus Erfurt liest „mit großem Interesse“ den „Friedhof der Wörter und reagiert auf die Kritik an unverständlichen Wörtern im Koalitionsvertrag:

Sind sich die Herrschaften auch darüber im Klaren, dass sie ein gutes Vorbild für die Menschen hinsichtlich der Pflege der deutschen Sprache abgeben müssen. Die Probleme auf diesem Gebiet müßten m.E. von ganz oben in Angriff genommen werden.

Ein passendes Beispiel dazu fand ich ebenfalls in der Zeitung im Artikel „Medientalente gesucht“, in dem ich sofort über das Wort „Yougendmedienpreis“ gestolpert bin. Zuerst dachte ich an einen vorliegenden Schreibfehler, aber dieses seltsame Wort kam noch zweimal vor.

Also überlegte ich, wie es wohl ausgesprochen werden soll, wobei gleichzeitig Ärger über so viel Blödsinn in mir aufstieg. Es geht doch nur darum, einen Medienpreis für talentierte Jugendliche zu vergeben und warum nennt man ihn nicht einfach „Jugendmedienpreis“.
Das versteht jeder, aber es scheint nicht cool genug zu sein.

In meiner Samstag-Kolumne „Leser fragen“ antwortete ich:

Ich stimme Ihnen zu:

Erstens: Politiker sollten ein Vorbild sein mit einer verständlichen, klaren Sprache; ich schließe uns Journalisten mit ein: Wir sollten schiefe, unverständliche und vernebelnde Sätze von Politikern nicht verbreiten, es sei denn kommentiert und in eine einfache Sprache übersetzt.

Zweitens: Die seltsame Verballhornung unserer Sprache, die Mischung aus englischen und deutschen Wortbrocken, ist entsetzlich.

Ich stimme nicht zu:

Erstens: Jugendliche brauchen eine eigene Sprache. Sie spielen gern mit Wörtern und freuen sich, wenn die Alten sich darüber ärgern. Das war so, und es wird so bleiben – und es ist gut so, denn die eigene Sprache, die Abgrenzung zu den Erwachsenen, gehört zur Entdeckung der Welt.
Ob sich Erwachsene an Jugendliche anbiedern müssen, indem sie deren Sprache imitieren, wage ich zu bezweifeln. Ich bin sicher, dass sich Jugendliche über diese Anbiederung amüsieren.

Zweitens: Die Pflege der deutschen Sprache von oben in Angriff zu nehmen, ist ein grässlicher Vorschlag. Es ist in der Tat ein Angriff: Sollen unsere Politiker, die oft die Sprache missbrauchen, unsere Sprache wirklich regeln? Das hieße, den Bock zum Gärtner zu machen.
Wir haben uns bis heute noch nicht von der Rechtschreibreform erholt, die von oben verordnet war. Ein zweites Mal sollten wir uns nicht überrumpeln lassen.

Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 25. Januar 2013

Wolf Schneider: Wie Churchill mit „Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen“ die Seele des Volkes traf (Luther-Disput 2)

Geschrieben am 21. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 21. Januar 2014 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, D. Schreiben und Redigieren.

Ein Professor hätte Churchill 1940 geraten, die Engländer aufzufordern „zu einer Mobilisierung aller nationalen Energiereserven und zu einem Paradigmenwechsel und ihrer Einstellung zur Lebensqualität“. Aber Churchill wählte vier einfache Worte – die Wolf Schneider beim Luther-Disput der Thüringer Allgemeine empfiehlt.

Im zweiten Teil des Disputs geht es um die freie Rede: Führt der Heilige Geist den Prediger zu einer guten Rede? Oder weltlicher ausgedrückt: Gibt es eine Inspiration, der ein guter Redner einfach nur folgen muss?

Darauf antwortet Pfarrer Felix Leibrock, der die evangelische Akademie in München leitet:

Das ist Unsinn! Von einer solchen Predigt-Lehre, die besagt, man brauche sich nur hinzusetzen und der Heilige Geist wehe einem die Worte zu, halte ich nichts. Der Heilige Geist ist für etwas anderes gut.

Ich muss schon selber um die Worte ringen. Friedrich Nietzsche sagte einmal: Den Stil verbessern heißt, den Gedanken verbessern. Darum arbeite ich am Stil eines Textes.

Und – wie wäre es mal wieder mit mehr freier Rede! Der Augustinermönch Abraham a Sancta Clara, ein großer Prediger im 17. Jahrhundert in Wien, ließ von einem Ministranten auf der Kanzel Bibelstellen zufällig auswählen und hat dazu gepredigt. Als Mitbrüder die Bibel eines Tages versteckten, predigte er eine Stunde über das Nichts.

Das ist ein Weg, den wir heute viel zu selten gehen. Wir haben viel zu viel Angst, etwas Falsches zu sagen.

Wolf Schneider:
Ich bin durchaus ein Freund der freien Rede – wenn man sie beherrscht. Will sagen: Es zu können ist fabelhaft, sich darauf zu verlassen, halte ich für gefährlich.

Eine der wirksamsten Reden des 20. Jahrhunderts hielt Winston Churchill. Im Jahr 1940 wollte das englische Volk auf Adolf Hitlers Waffenstillstands-Angebot eingehen. Premier Winston Churchill hielt seine Rede von Blut, Schweiß, Mühsal und Tränen – und drehte die Stimmung. Historiker und Philologen sind sich einig, dass diese Einsilber „Blood, sweat, toil and tears“, die in die Tiefe des Gemüts gingen, die Meinung des Volkes trafen.

Aber die sind Churchill natürlich nicht spontan eingefallen, an denen hat er hart und in großer Qual gearbeitet. Ein Professor hätte ihm geraten, die Engländer aufzufordern „zu einer Mobilisierung aller nationalen Energiereserven und zu einem Paradigmenwechsel und ihrer Einstellung zur Lebensqualität“.
Churchill hat die ausgearbeitete Rede in furchtbarer Qual auswendig gelernt und dann grandios vorgetragen. So macht man Geschichte.

Felix Leibrock:
Das ist der richtige Weg: eine Rede vorbereiten, aufschreiben, sie auswendig lernen – das schult auch das Gedächtnis. Und dann kommt beim Reden noch das eine oder andere Spontane hinzu.

Kennen Sie, Herr Schneider, einen Politiker, der das beherrscht? Helmut Schmidt – „Schmidt-Schnauze“ beispielsweise?

Wolf Schneider:
„Schnauze“ beschreibt ja schon, dass er flott mit dem Mundwerk war. Große Sätze hat er aber nicht geprägt. Da wird heute viel verklärt. So lange er Bundeskanzler war, war Schmidt nicht halb so gut wie heute.

*****
FELIX LEIBROCK leitet die Evangelische Akademie in München, war Pfarrer in Apolda (Thüringen) und ist Autor des Romans „Luthers Kreuzfahrt“ mit dem ersten deutschen Sauna-Seelsorger Wolle Luther, der auf dem Kreuzfahrtschiff „Nofretete“ arbeitet.

WOLF SCHNEIDER ist Mitautor des „Handbuch des Journalismus“ und Autor von Bestsellern über die Sprache wie „Deutsch für Kenner“.

**

Zweiter Teil des Luther-Disputs, erschienen am 11. Januar 2014 im „Thüringen Sonntag“ der Thüringer Allgemeine.

„Nichtverständlichkeitserlass“ für Autoren des Koalitionsvertrags

Geschrieben am 19. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Wenn es um „solide Finanzen“ geht, wird bei unserer Regierung die Sprache unsolide. Da wimmelt es im Koalitionsvertrag von Wörtern, die auf einer Eil-Beerdigung zu Grabe getragen werden sollten.

Wörter türmen sich zu Ungetümen auf: „Schnellreaktionsmechnismus“ oder „Nichtanwendungserlasse“ oder ein Wort wie „OECD-BEPS (Base Erosion and Profit Shifting)-Initiative“, das selbst Fachleute ins Grübeln verschlägt. So ließe sich ein Vorrat an Unwörtern sammeln für viele Jahre.

Das Argument, Spezialbegriffe müssen nur Experten verstehen, zählt nicht: Ein Koalitionsvertrag bestimmt das Leben aller Bürger auf Jahre hinaus – und muss von allen und nicht von wenigen verstanden werden. So ist das in einer Demokratie.

Ein „BEPS“ interessiert jeden: Warum hat es ein mittelständischer Betrieb im Thüringer Wald so schwer, auf dem Weltmarkt mit großen Konzernen mitzuhalten? Die Großen bringen ihre Gewinne, ganz legal, in Staaten mit niedrigen Steuern, etwa auf die britischen Jungferninseln. Dies Urlaubsparadies in der Karibik hat so viele Einwohner wie Mühlhausen, ist aber in China der zweitgrößte Investor aller Staaten.

Der mittelständische Unternehmer, der beispielsweise Kurbelwellen herstellt, will faire Bedingungen und nicht immer verlieren gegen einen Konzern, der in seiner Steuerabteilung mehr Angestellte beschäftigt als der Mittelständler in seiner Produktion. Was die Regierung dagegen tun will, interessiert den Chef ebenso wie seine Arbeiter. Also muss ein politisches Programm für alle verständlich sein.

Offenbar gab es einen Nichtverständlichkeitserlass für die Autoren, die den Koalitionsvertrag geschrieben haben. Ein Kapitel, wie Politik verständlich werden kann, fehlt im Vertrag. Ob es Absicht ist?

Thüringer Allgemeine 20. Januar 2014 (Friedhof der Wörter)

Wie ein Leser morgens seine Zeitung liest: Da steigt mein Blutdruck an

Geschrieben am 15. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

In der Samstag-Kolumne „Leser fragen“ gab ich einem Leser Recht, der sich über verpixelte Porträts, etwa von Angeklagten, beschwerte, wenn sonst nichts anderes auf dem Bild zu sehen sei. Er bedankte sich für die Antwort und erzählte von seiner Morgen-Lektüre:

Meine erste „Amtshandlung“  ist das Hereinholen der TA (Thüringer Allgemeine). Sie ist bei uns bereits gegen fünf Uhr im Briefkasten.

Meist 5 Minuten später steigt mein Blutdruck an. Das hat nur indirekt mit der TA zu tun. Die Ursache ist mancher Artikel über irgendwelche „Begebenheiten“, die es eigentlich täglich gibt, aber man kann sich eben nicht daran gewöhnen.

Ist man dann schon recht auf Touren, dann kommt so ein „grauer Fleck“, der als Foto angeboten wird. Bei solchen Fotos geben sie mir ja Recht, dass sie gar nicht erst veröffentlicht werden sollten.

In so einen Moment muss ich etwas „loswerden“. Dann schreibe ich mir den Frust von der Seele, und der Blutdruck ist wieder normal. Ich akzeptiere Ihre Antwort hundertprozentig.

Mein Stil wird sich wohl kaum ändern. Ich bin 73 Jahre alt und wohl kaum noch „formbar“. Vielleicht – wenn ich zwischen Lesen und Schreiben einen zweiten Kaffee trinken, dann relativiert sich manches Problem.

In meiner Antwort dankte ich dem Leser, aber fügte an, dass die Reaktionen auf die Kolumne unterschiedlich seien:

Einige Leser, deren Brief ich öffentlich beantworte, fühlen sich bevormundet oder falsch verstanden.

Kurz vor Weihnachten schrieb mir ein Leser aus Erfurt: „Eine derartige Kommentierung durch einen Chefredakteur finde ich unangebracht.“ Ein anderer  findet alle negativen Klischees über Journalisten bestätigt.

Hermann Unterstöger schreibt in seiner Kolumne der „Süddeutschen Zeitung“ über Leser-Kritik an Fehler und Sprache der Journalisten die Namen der Leser nicht aus. Sie, Herr Wölfel, wären Herr W. Ist das der bessere Weg?

Allerdings gibt es auch positive Reaktionen. Auf dieselbe Kolumne, die ein Leser unangebracht fand, schickte mir  Frau H. aus Erfurt einen „Segen“, den sie in einer Kirche gesprochen hat: „Wir segnen die Medien, dass sie wahrheitsgetreu und fair berichten, was für das Land wichtig ist.“

Offenbar besitzen wir Journalisten Weisheit und Kraft zur Demut, so dass darum kein Gebet gen Himmel gesandt werden muss – im Gegensatz zur Ministerpräsidentin und zu allen Ministern, Abgeordneten und Amtsinhabern – „damit sie ihre Macht nicht ausnutzen zum eigenen Vorteil“.

Sozialtourismus: Das Unwort des Jahres ist Unsinn

Geschrieben am 14. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Junge Leute mögen Jugendherbergen: Sie sind oft naturnah und immer billig. In der Schweiz betreibt die Jugendherbergen eine „Stiftung für Sozialtourismus“.

Auch in der DDR gab es den Sozialtourismus: Der FDGB organisierte einen preiswerten Urlaub für alle – und fast alle mochten ihn. Vor einigen Jahren schrieb Thomas Schaufuß ein Buch: „Sozialtourismus im SED-Staat“. Im Vorwort schreibt Vera Lengsfeld: „Die Ferienanlagen dienten auch dazu, den Frust der Werktätigen über die Versorgungslage des Landes abzubauen. Die Buffets waren gefüllt mit Obst und Südfrüchten, die sonst schwer zu bekommen waren. Man konnte sich wie im Paradies fühlen.“

Sozialtourismus – das bedeutete: Preiswerter Urlaub für Menschen in der DDR, die sich einen Urlaub nicht leisten können. Das ist „sozial“ – auch wenn die Diktatoren dieser Welt, das „Soziale“ gern für ihre Propaganda nutzen, zuerst die Nazis, dann die Kommunisten.

Sozialtourismus im Wortsinn ist etwas Gutes, ist menschenfreundlich – und wird plötzlich zum Unwort erklärt. Warum?

Ein paar Politiker und Kommentatoren nutzen seit einigen Wochen den Begriff, um EU-Bürger aus Rumänien und Bulgarien zu diffamieren, in feindlicher Absicht und pauschaler Abneigung. Die meisten Deutschen allerdings werden heute in den Zeitungen erstmals vom „Sozialtourismus“ lesen.

Die Jury hat sich offenbar nicht mit der Geschichte des Wortes beschäftigt, schaut nicht über die Grenzen der Bundesrepublik, wo auch deutsch gesprochen wird, und geht einigen Demagogen auf den Leim. Auch das Unwort des Jahres kann schlicht Unsinn sein.

Das Unwort des Jahres: Kleine Leute oder Volksvertreter? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. Januar 2014 von Paul-Josef Raue.

Vier Wissenschaftler, ein Journalist  und der Schriftsteller Ingo Schulze finden das „Unwort des Jahres“ und werden es am morgigen Dienstag mitteilen. Vier Leser der Thüringer Allgemeine haben auch ihre Vorschläge geschickt:

  • Volksvertreter
  • O.k. und lecker
  • kleine Leute – ein Leser hatte diesen  Begriff in Interviews mit SPD-Chef Gabriel gelesen und fragt sich: Wer sind die kleinen Leute in Deutschland?
  • Pflegefehler

 Die Leserin erzählt zu ihrem Unwort eine Geschichte:

Meine Winterschuhe begannen sich im Herbst zu schälen –  als ob sich bei einer Verbrennung die Haut vom Körper löst. Ich ging in das Schuhgeschäft, wo ich die Schuhe gekauft habe, und fragte, ob das ein Materialfehler sein könnte.

Die Verkäuferin fragte mich: „Haben Sie die Schuhe etwa mit Schuhcreme behandelt?“ Als ich das bejahte, antwortete sie mir, das ist dann ein Pflegefehler, sie dürfen solche Schuhe nur besprühen.“ Das hatte mir niemand beim Kauf gesagt.

Sind die vier Wörter wirklich Unwörter? Urteilen Sie selber! Die Jury muss einen Verstoß „gegen sachliche Angemessenheit oder Humanität“ feststellen und gibt vier Beispiele:
 

  • Verstoß gegen das Prinzip der Menschenwürde
  • Verstoß gegen Prinzipien der Demokratie (etwa: „alternativlos“  als Haltung  in der politischen Diskussion)
  • Diskriminierung gesellschaftlicher Gruppen (etwa: „Wohlstandsmüll“ für arbeitsunwillige oder arbeitsunfähige Menschen)
  • Euphemistische, verschleiernde oder gar irreführende Wörter (etwa: freiwillige Ausreise  für die Abschiebung von Asylbewerbern)

 

Thüringer Allgemeine, Rubrik „Friedhof der Wörter“ am 13. Januar 2014

Seiten:«1...78910111213...21»

Journalisten-Handbuch.de ist ein Marktplatz für journalistische Profis. Wir debattieren über "Das neue Handbuch des Journalismus", kritisieren, korrigieren und ergänzen die einzelnen Kapitel, Thesen und Regeln, regen Neues an, bringen gute und schlechte Beispiele und berichten aus der Praxis.

Kritik und Anregungen bitte an: mail@journalisten-handbuch.de

Rubriken

Letzte Kommentare

  • Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
  • Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
  • Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
  • Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
  • Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...

Meistgelesen (Monat)

Sorry. No data so far.