„Das eitle Geschwätz eines Kollegen“ – Akkreditierungs-Streit vor dem NSU-Prozess war meistgelesener Blog 2013
Der FAZ-Redakteur Albert Schäffer kommentierte in der Sonntagszeitung: Nur überregionale Zeitungen können den Lesern ein vielfältiges Bild beim NSU-Prozess bieten. Meine Replik war 2013 der meistgelesene Beitrag in diesem Blog: „Bei allem Respekt vor Ihrer Überheblichkeit: Das können wir in der Provinz auch, und wahrscheinlich in diesem Prozess besser als Sie.“
„Was ist von Raues Kritik zu halten?“, fragte die Drehscheibe einige Chefredakteure im Mai und erhielt diese Antworten:
Horst Seidenfaden, Chefredakteur Hessische/ Niedersächsische Allgemeine:
Medienwelt nicht begriffen
Paul-Josef Raue hat uneingeschränkt Recht. Wenn die politische Meinungsbildung über Zeitungsinformation nun gerade in Ostdeutschland nur über überregionale Blätter funktioniere würde, dann würde dies zur politischen Verdummung auf breitester Basis führen. Herr Schäffers Ansicht ist das eitle Geschwätz eines Kollegen, der die Medienwelt von heute nicht begriffen hat.
Michael Husarek, stellvertretender Chefredakteur Nürnberger Nachrichten
Nicht zur Auseinandersetzung geeignet
Der NSU-Prozess ist ein Verfahren, das – sowohl unter Berücksichtigung der politischen Bedeutung der rechtsterroristischen Anschlagsserie und ihrer zunächst gänzlich unzureichenden Aufarbeitung seitens der Ermittlungsbehörden als auch mit Blick auf die Angehörigen der Opfer – sich gewiss nicht für eine Auseinandersetzung unter Tageszeitungs-Kollegen eignet. Weder ist hier überregionale Arroganz angebracht, noch handelt es sich bei der Thematik um eine rein ostdeutsche Angelegenheit. Auch wir als Nürnberger Nachrichten könnten viele Gründe ins Feld führen, warum gerade unsere Zeitung als auflagenstärkstes Blatt in Nordbayern einen Platz bekommen hätte müssen (Nürnberg ist die Stadt mit den meisten Todesopfern (3), in Nürnberg nahmen die Ermittlungen ihren Anfang (Soko Bosporus) und bei den Nürnberger Nachrichten wurde ein Bekenner-DVD abgegeben). Wichtig ist aus meiner Sicht vielmehr, dass jedes Medium auf die jeweilige Leserschaft zugeschnitten zielgenau und -gerecht berichtet. Dies ist die FAZ, für die Thüringer Allgemeine und für die Nürnberger Nachrichten sowie für alle andere (Print-)Titel eine große Herausforderung, der es gerecht zu werden gilt. Ein Platz im Gerichtssaal würde diese Aufgabe natürlich erleichtern.
Georg Anastasiadis, stellvertretender Chefredakteur Münchner Merkur:
Zu vehement
Die Kritik des Kollegen aus Thüringen ist mir etwas zu vehement ausgefallen. Richtig ist allerdings, dass nicht jede Formulierung im Schäffer-Artikel glücklich war, insbesondere nicht der Hinweis auf die „erfahrenen Berichterstatter“. Abgesehen davon halte ich es für eine Selbstverständlichkeit, dass ein international beachtetes Leitmedium wie die FAZ bei diesem Prozess vertreten sein muss. Ich finde es bedauerlich, dass die Ungeschicklichkeit des Münchner Oberlandesgerichts bei der Zulassung der Prozessbeobachter erst eine Situation des Gegeneinanders von überregionalen Titeln und den auflagenstarken Regionalzeitungen geschaffen hat.
Armin Maus, Chefredakteur der Braunschweiger Zeitung:
Qualität ist kein Reservat
Paul-Josef Raue sagt es völlig richtig – die Qualität der Berichterstattung ist kein Reservat der FAZ. Unsere Thüringer Kollegen beweisen mit ihrer Arbeit rund um den NSU-Prozess, dass sie deutlich mehr Kenntnis des Umfeldes und des Hintergrunds mitbringen. Handwerklich sind sie mit der FAZ auf Augenhöhe. Die Vorstellung, eine Handvoll überregionaler Zeitungen würden über die nationale und internationale Spiegelung dieses Prozesses entscheiden, hat meines Erachtens mit Selbstüberschätzung zu tun.
Joachim Braun, Chefredakteur Nordbayerischer Kurier:
Kritik trifft den Kern
Paul-Josef Raue hat mit seiner Kritik den Kern getroffen: die Überzeugung der überregionalen Zeitungen, sie und nur sie würden die öffentliche Meinung machen. Tatsächlich ist die Verbreitung der Regionalzeitungen zwar fragmentiert, aber viel größer. Und nur wir können Befindlichkeiten der Menschen richtig abschätzen, wie es Kollege Raue ja auch in seinem Blogbeitrag mit Hinweis auf die spezifisch ostdeutsche Sichtweise sagt. Zugegeben, ich finde die Ungeschicklichkeit des Münchner Gerichts ziemlich daneben und habe mich auch geärgert, dass unsere Zeitung den Platz, den wir nach der ersten Ausschreibung noch hatten, dann bei der Lotterie verlor. Aber das wurde ja bei der FAZ auch noch geheilt – durch die Großzügigkeit der Regionalkollegen aus Marburg.“
Stefan Kläsener, Chefredakteur Westfalenpost:
Keine Rechercheleistung
„Kollege“ Schäffer hat, um es auf den Punkt zu bringen, es einen Revisionsgrund genannt, dass die Öffentlichkeit nicht hergestellt sei, wenn nicht die einzig kompetenten Berichterstatter der überregionalen Tageszeitungen anwesend seien. Er hat das in das Stilmittel der Paralipse gekleidet, was es nicht besser macht, sondern den Arroganzgrad noch einmal erhöht. Damit nicht der Eindruck einer beleidigten Leberwurst entsteht: Wann hat der Kollege das letzte Mal die Brigitte gelesen? Kennt er deren preisgekrönte Reportagen? Es ist traurig bestellt um die deutschen „Qualitätsmedien“, wenn sie das Weihrauchfass nur noch gegen sich selbst schwenken, und dazu noch ohne sichtbare Rechercheleistung in Sachen NSU.
Falk Zimmermann, stellvertretender Chefredakteur Fränkischer Tag:
Keine Deutungshoheit
Ich teile den Unmut von Herrn Raue, denn über die „Grundfesten unseres Gemeinwesens“ besitzen die überregionalen Medien keine (alleinige) Deutungshoheit. Gerade die lokale und regionale Presse hat eine wichtige Aufgabe – sie ist in der Fläche präsent, sie hat die Kompetenz vor Ort und kann die Metaebene in die Lebenswirklichkeit ihrer Leser herunterbrechen. Das gilt für den NSU-Prozess im besonderen, denn die Täter haben nicht irgendwo agiert, sondern an ganz konkreten Orten. Ihre Hintermänner stammen zu einem Gutteil „aus der Provinz“ – diese „Provinz“ kennen wir als lokale Medien aus dem tagtäglichen Erleben – und nicht nur aus dem Blickwinkel einer Recherchereise.
Drehscheibe, 13.Mai 2013
Welches war Ihr Unwort des Jahres 2013?
Zuerst noch einmal: Das Wort des Jahres. Die Wahl ist meist einfach Unsinn, denn die Jury wählt in der Regel kein Wort, sondern eine Sache wie:
> Die Abwrackprämie;
> oder ein Ereignis wie: die Finanzkrise;
> oder ein Amt wie: die Bundeskanzlerin;
> oder eine Katastrophe: wie Tschernobyl;
> oder etwas Ewiges: wie den Wutbürger und die Ellenbogengesellschaft.
Können Sie sich noch an das Wort des Jahres 2012 erinnern? Rettungsroutine! Nur noch eine Handvoll weiß, was es bedeutet und warum es eine Jury in die Begeisterung trieb.
Können Sie sich an diese Wörter erinnern:
> Szene (1977)
> Besserwessi (1991)
> das alte Europa (2003)
> Stresstest (2011)?
Da ist das „Unwort des Jahres“ wenigstens eines, über das sich zu streiten lohnt – weil es übel, menschenverachtend, vernebelnd oder einfach dumm ist:
> Döner-Morde (2011)
> notleidende Banken (2008)
> Herdprämie (2007)
> Kollateralschaden (1999)
> Rentnerschwemme (1996)
> Überfremdung (1993)
Welches war Ihr persönliches Unwort im vergangenen Jahr? Ich freue mich auf Ihre Vorschläge: Nutzen Sie die Kommentarfunktion oder schreiben mir eine Mail:
pj@raue.it
Ist das eine korrekte Überschrift: „Türke trainiert Hannover“?
Eine Leserin ruft an und beschwert sich über die Wortwahl in der Überschrift auf der Sport-Seite: „Türke trainiert Hannover“.
In seiner Samstag-Kolumne antwortet der TA-Chefredakteur:
Warum stört uns das Wort „Türke“? Stünde da „Österreicher“ oder „Schweizer“ protestierte keiner. Aber – der „Türke“ sorgt bei vielen für ein mulmiges Gefühl.
Dabei ist die Überschrift sachlich in Ordnung: Seit über dreißig Jahren ist es das erste Mal, dass ein türkischer Trainer eine Bundesliga-Mannschaft übernimmt. Das ist eine Überschrift wert.
Doch bei Wörtern schwingt bisweilen eine Bedeutung mit, die mit dem ursprünglichen Wort nichts gemein hat. Diesen Unterton meinen Sie, wenn sie „Türke“ lesen ohne jeden Zusatz wie etwa „türkischer Trainer“. Sie vermuten, dass Vorurteile bedient werden – wie sie beispielsweise Neonazis schüren und Fremdenfeinde und Verächter des Islam.
Ist das der Fall, sollten wir in der Wortwahl bedächtiger sein, aber gleichwohl die Frage stellen: Dürfen die Feinde der Demokratie unschuldige Wörter aus unserer Sprache vertreiben?
Thüringer Allgemeine, 4. Januar 2014
Ein Leser ist empört, weil sein Brief über das Versagen der Politik gekürzt wurde
„Es ist zum Kotzen!“ schreibt ein Leser über Politiker und ihre Politik – und beschwert sich darüber, dass die Redaktion diesen Ausspruch und andere Sätze mehr gekürzt hat in seinem rund 3500 Zeichen langen Leserbrief:
„Ich muss unterstellen, dass der Inhalt aus Gründen eben der Political Correctness absichtlich „entschärft“ wurde, so wird z. B. keiner der Namen aktiver Politiker, um die es in meiner Zuschrift ging, nach der Kürzung noch erwähnt. Das, was vom eigentlichen Anliegen übrigblieb, war nicht nur gleich Null.
Der veröffentlichte Rest erscheint, da aus dem Kontext gerissen, banal bis albern, so dass ich mich dafür schäme, dass mein Name darunter steht. Ein weiterer Grund, diese kastrierte Zuschrift zu veröffentlichen, mag evtl. Ihrerseits der Zwang sein, einen noch leeren Platz auf der Leserseite zu füllen.
Das war in der Thüringer Allgemeine die Antwort des Chefredakteurs:
Sehr geehrter Herr Richter,
ich bin nicht erbost, möchte mich aber bei Ihnen noch unbeliebter machen: Mir ist diese Art von Kritik an unseren Politikern zu billig.
Sie schreiben in den nicht abgedruckten Teilen Ihres Briefes zum Beispiel über die SPD-Generalsekretärin Nahles:
„Eine Frau, die noch nie etwas anderes getan hat, als auf Beratungen und Konferenzen rumzusitzen, weil gar nicht, was Verantwortung heißt, geschweige denn hat sie jemals welche tragen müssen.“
Woher wissen Sie das, Herr Richter? Haben Sie schon einmal einen Tag mit der Politikerin verbracht?
Über Carsten Schneider schreiben Sie in Ihrem Brief:
„Ihn qualifiziert eine Lehre als Schalterbeamter in einer Bank und einigen angelesenen Binsenweisheiten, die jeder Zeitungsleser auch in Talkshows vortragen könnte.“
Was haben Sie gegen einfache Bürger wie „Schalterbeamte“? Schadet es unserer Demokratie, wenn sie im Parlament sitzen? Wollen wir nur Professoren und hochbezahlte Manager im Parlament, um die Finanzkrise zu bewältigen?
Wie gesagt: Populistischen Ausbrüche sind mir zu billig, politische Korrektheit hin oder her. Ich frage dagegen: Machen wir nicht unsere Demokratie verächtlich, wenn wir alle Politiker verspotten?
Ich bin überzeugt: Wir stärken unsere Demokratie, wenn wir unsere Volksvertreter ernst nehmen und beim Wort; wenn wir sie kontrollieren und nichts durchgehen lassen; wenn wir sie bei kleinen und großen Verfehlungen, die wir aber klar aufdecken müssen, dem Urteil der Öffentlichkeit aussetzen – und notfalls auch den Ermittlungen von Staatsanwälten und den Fragen von Richtern.
Wir alle tragen in einer Demokratie Verantwortung, das Volk ebenso wie die Volksvertreter. Es hilft keinem, Politiker abzuwatschen – wie in Ihrem Brief: „Keinerlei Lebenserfahrung, keinerlei Ahnung davon, was es heißt, Verantwortung für irgendetwas zu tragen! Es ist zum Kotzen!“
Übrigens bekommen wir viele Briefe unserer Leser, so viele wie nie zuvor – so dass wir niemals „leeren Platz“ füllen müssen, sondern nur einen kleinen Teil drucken können, in der Regel kurz und treffend.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 14. Dezember 2013
Weihnachtsprosa: Wortschleim und Besinnlichkeit (Friedhof der Wörter)
Wolf Schneider, der deutsche Sprachpapst, mag Weihnachten nicht, die „besinnlichen Feiertage“, vor allem nicht die Weihnachtsprosa.
Schneider mag mehr den Spott über die weihevolle Selbstversenkung und schreibt in seinem Buch „Wörter waschen“:
„Zehntausende von Pfarrern, Politikern, Geschäftsführern, Sparkassendirektoren und Vereinsvorständen sind sich in ihren Weihnachtsgrüßen einig: Besinnlichkeit ist Bürgerpflicht zur Jahreswende, mit den Varianten ‚seelische Erholung‘, dem deutschen Grundgesetz zufolge zum Wesen der Feiertage gehört.“
So fliegen die Worte wie die Engel durch den hohen Himmel, die „Innerlichkeit“ fliegt mit der „Besinnlichkeit“ – und die gerät in den Sog der „Befindlichkeit“. Dies Wort kam bei den westdeutschen Achtundsechzigern in Mode: „Angerührt von aller Ungerechtigkeit auf Erden. Jeder Tag ein Bußtag! Hilfreich sei der Mensch, gut und allzeit bestürzt.“
Deutsche Studenten rühmten sich vor französischen ihres „Betroffenheitsvorsprungs“; ein Holländer dagegen machte sich lustig über unseren „Betroffenheitskitsch“. Aber auch die ostdeutsche Betroffenheit war wortgewaltig und sinnlos: Wolfgang Thierse wählte die „Erfüllungsmelancholie“ zum schönsten deutschen Wort.
Ganz unweihnachtlich leimt Wolf Schneider zweimal zwei Wörter zusammen: „Wortschleim ohne Erdenrest“; er zitiert den Oberleutnant Heimüller aus Heinrich Bölls „Ende einer Dienstfahrt“: Die Kunst besteht nur darin, das Nichts in seine verschiedenen Nichtigkeiten zu zergliedern.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“ 16. Dezember 2013
Wolf Schneider kommt zum „Luther Disput“ der Thüringer Allgemeine am 4. Advent um 16 Uhr ins Augustinerkloster nach Erfurt: „Luther, die Sprache und der Pfarrer Sprache“
Politiker wollen nicht verstanden werden (Friedhof der Wörter)
Ob die SPD-Mitglieder den Koalitionsvertrag wirklich lesen, bevor sie abstimmen? Und ob sie ihn auch verstehen?
Wahrscheinlich versteht ihn nur eine Minderheit, die eine Freude daran hat, Ungetüme wie „Thesaurierungsregelegungen“ oder „Schnellreaktionsmechanismus“ genüsslich zu zerlegen und einen Sinn zu finden.
Sprachforscher der Universität Hohenheim haben den Vertrag analysiert, nein: Sie haben ihn buchstäblich auseinandergenommen – und sind entsetzt. Sprach-Professor Frank Brettschneider:
Die mangelnde Verständlichkeit des Koalitionsvertrags ist enttäuschend. Alle Parteien haben sich Transparenz und Bürgernähe auf ihre Frage geschrieben. Damit die Bürger eine begründete Bewertung vornehmen können, sollten die Koalitionspartner ihre Absichten klar und verständlich darstellen.
Und das tun sie nicht.
Selbst die für den Normalbürger kaum lesbare Doktor-Arbeit eines Politikwissenschaftlers ist im Durchschnitt verständlicher als der Vertrag. Warum? Wir lesen Schachtelsätze mit Fachchinesisch, Fremd- und Fachwörtern, meist ohne Erklärung sowie Wortungetüme und viel zu lange Sätze.
Wollen die Politiker wirklich verstanden werden? Die Wissenschaftler haben Zweifel: „Sie nutzen abstraktes Verwaltungsdeutsch, um unklare oder unpopuläre Positionen absichtlich zu verschleiern.“ „Taktische Unverständlichkeit“ nennt dies der Sprach-Professor.
Einige Beispiele gefällig: „Flächenneuinanspruchnahme“, „Interoperalibiliät“ – und der „Landesbasisfallwert“.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 9. Dezember 2013
Darf der Orkan mit „Stundenkilometern“ über die Küste jagen?
Wer die Berichte über das Orkantief Xaver liest, findet fast überall: 140 „Stundenkilometer“. Und schon regen sich Leser auf:
Ich habe in der Schule gelernt, dass die Geschwindigkeit in Kilometer pro Stunde angegeben wird.Scheinbar ist mit der Rechtschreib- oder einer anderen Reform diese Maßeinheit auch geändert worden, denn man hört und liest in den Medien deutschlandweit immer mehr diese „Stundenkilometer“ als Geschwindigkeitsangabe.
Das ist nicht richtig!!!
In der Thüringer Allgemeine steht in der Kolumne „Leser fragen“ diese Antwort:
Sie haben Recht: Ein Physiker schreibt als Formel „km/h“, das ist in der Tat“ Kilometer pro Stunde“. Beide Bezeichnungen taugen aber wenig für die normale und schnelle Verständigung: „km/h“ ist zwar kurz, aber nicht sprechbar; „Kilometer pro Stunde“ besteht aus drei Wörtern und ist den meisten Menschen offenbar zu lang und kompliziert – zudem passt es nicht in die meisten Zeitungs-Überschriften.
Was machen die Menschen dann mit unserer Sprache? Sie nutzen den großen Vorteil des Deutschen und packen Kompliziertes in ein Hauptwort – wie beispielsweise Stundenkilometer.
Andere Weltsprachen wie das Englische oder Französische schaffen dies nicht: „Society for prevention of cruelty to animals“ ist die komplizierte englische Version des „Tierschutzvereins“.
So tauchen auch deutsche Hauptwörter in der englischen Sprache auf wie Kindergarten oder Bratwurst oder Weltschmerz.Die „Bratwurst“ zeigt auch, wie vieldeutig zusammengesetzte Substantive im Deutschen sind: Die Bratwurst ist eine Wurst zum Braten. Und die Blutwurst? Eine Wurst zum Bluten? Oder: Das „Schweineschnitzel“ ist vom Schwein – aber das Jägerschnitzel?
Physiker und andere Experten brauchen eine eindeutige Sprache; die Alltagssprache muss verständlich sein. Und jeder weiß, was „Stundenkilometer“ bedeutet – auch wenn ihm die Schule anderes eingetrichtert hat.
Hilfreich ist die Sprachberatung der „Gesellschaft für deutsche Sprache“: „Stundenkilometer“ ist nicht nur,erlaubt‘, sondern durchaus richtig und angemessen. Pedanterie führt, von strengen terminologischer Definitionsarbeit abgesehen, zu nichts.“
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Leser fragen“, 7. Dezember 2013
Wolf Biermann, die Liebe und der wohl schönste Interview-Einstieg des Jahres
Ein überraschender Einstieg in ein Biermann Interview, ein überraschend schöner, den unsere Volontärin gewählt hat:
Guten Tag, mein Name ist Lavinia Meier-Ewert…
… Lavinia – den Namen habe ich ja noch nie gehört.
Kommt aus der römischen Mythologie. Da gibt es Aeneas und Lavinia, auch ein berühmtes Liebespaar.
Das passt prima zu Pamela und mir. „Pan…“ – griechisch – ist das Ganze. Und „melos“ das Lied: das ganze Lied. Die griechischen Götter Aphrodite und Zeus sind also unsere Trauzeugen!
Quelle: Thüringer Allgemeine 15. November 2013
Die Sprache des Koalitionsvertrags: Politikers großer Lall (Friedhof der Wörter)
Der Vater brüllt den Sohn an: „Ich habe genug von Deinen unverschämten Reden!“ Der Sohn bleibt ruhig: „Ich wollte nur einen Dialog anstoßen!“ Der Vater wird noch zorniger: „Was soll der Blödsinn?“ Der Sohn bleibt weiter ruhig: „Das habe ich von unseren großen Vorbildern gelernt: So etwas steht im Koalitionsvertrag. Lies doch einfach mal!“
Wer einen Vorrat anlegen will an unverbindlichen Sätzen, der kann sich im Vertrag der Großen Koalition bedienen. Gleich vierzig Mal wird zum Dialog aufgefordert, an einer Stelle sogar zum „Qualitäts-Dialog“. Reden, am meisten ohne Qualität, statt Handeln! Man quatscht also ein bisschen über Dies-und-Das in den nächsten vier Jahren, tröstet sein Volk mit solchen Sätzen und wartet auf die nächste Wahl.
Das Lieblingswort der Politiker ist „sollen“: Rund 150 Mal taucht es im Vertrag auf. „Sollen“ ist nett, aber unverbindlich. So verrät die Sprache den Geist der Vereinbarung.
Aber auch das „Sollen“ kann man noch steigern: Etwas soll geprüft werden! Ein Beispiel:
Weiterhin werden wir darauf hinwirken, dass in allen künftigen EU-Gesetzgebungen geprüft wird, ob kleine und mittlere Unternehmen von bestimmten Regelungen ausgenommen werden können.
Das bedeutet: Wir tun nichts für die Unternehmen, wir prüfen auch nicht, wir regen an zu prüfen – und dann noch in Brüssel. Da wird nichts geschehen!
„Solcher Lall“ regt Heribert Prantl auf; er ist Mitglied der Chefredaktion der Süddeutschen Zeitung:
Viele Allgemeinheiten, Plattheiten, Absichtserklärungen… Viel Styropor, viel Packmaterial“.
Entfernt man die Verpackung, kommt das Entscheidende zum Vorschein. Aber dafür braucht man keine 185 Seiten, dafür reichen nicht mal 10.
Thüringer Allgemeine, Kolumne „Friedhof der Wörter“, 2. Dezember 2013
Darf ein Gericht anordnen, das Foto einer Zeugin zu pixeln?
NSU-Prozess am Mittwoch: Die Mutter der Angeklagten Zschäpe ist als Zeugin geladen. Das Gericht ordnet an: Fotos von der Mutter müssen gepixelt werden.
Die Deutsche-Presse-Agentur (dpa) pixelt mit der Begründung „Das Gericht hat Hausrecht bei Prozessen. Davon machte es Gebrauch, und wir müssen uns an die Vorgabe halten.“
Meine Zeitung, die Thüringer Allgemeine, hat einen eigenen Fotografen im Gericht, der die Mutter vor dem Gerichtssaal fotografiert hatte. Der TA-Desk folgte seinem Hinweis, pixelte und schrieb in die Bildzeile: „Auf Anweisung des Gerichts muss Annerose Zschäpe auf Fotos gepixelt werden.“
Die Bildzeitung pixelte nicht und zeigte die Frau, die ihr Gesicht mit einer Sonnenbrille nahezu unkenntlich gemacht hatte; dazu kommen ein hoch geschlossener Mantelkragen und eine dunkle Wollmütze, tief in die Stirn gezogen.
Darf das Gericht solch eine Anordnung treffen? Nein, sagt der deutsche Presserechtler Johannes Weberling aus Berlin:
Natürlich kann das Gericht nur Auflagen zu Aufnahmen im Gerichtssaal machen. Aber selbst die binden nach der Rechtsprechung u.a. des BGH nicht die Presse bei ihrer eigenverantwortlichen Entscheidung und Abwägung, ob und inwieweit ein Bild veröffentlicht wird.
Weberling verweist auf eine Entscheidung des Bundesgerichtshofs, in der es unter anderem heißt:
Aus dem begrenzten Zweck der Sitzungspolizei erwächst dem Vorsitzenden nicht die Befugnis, die Zulässigkeit der Bildveröffentlichung zum Schutz des Persönlichkeitsrechts der Verfahrensbeteiligten zu regeln…
In der Verpflichtung zur Anonymisierung liegt eine gewichtige Beschränkung der Informationsmöglichkeiten der Öffentlichkeit, die eine Rechtfertigung aus den Umständen des Einzelfalls voraussetzt… Es ist nicht ersichtlich, dass das Anonymisierungsgebot zu diesem Zeitpunkt noch zur Sicherung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Strafverfahrens erforderlich war…
Datum des Prozesstages: Mittwoch, 27. November 2013
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?