Der erste Band der „Bibliothek des Journalismus“: Hans Hoffmeister – Harmonie ist mir suspekt
Er ist ein Getriebener, ein Schwarz-Weiß-Seher, ein Himmelhochjauchzendundzutodebetrübter, atemlos mit dem geschriebenen wie dem gesprochenen Wort.
So schreibt Thüringens Wirtschaftsminister Matthias Machnig über Hans Hoffmeister, 22 Jahre Chefredakteur der Thüringischen Landeszeitung; er wurde, der am Freitag in den Ruhestand verabschiedet wurde (30. August 2013). Machnig war einer der 250 Gäste, die zum Abschied in den Weimarer „Elephant“ gekommen waren. Machnig, auch ein Politiker starker Worte. schreibt weiter:
Das feine Florett war nicht Hoffmeisters Waffe, eher die schwere Nagelkeule.
Machnigs Einschätzung ist zu lesen in einem Interview-Buch, das Paul-Josef Raue, Autor dieses Blogs, über Hans Hoffmeister verfasst hat; es ist der erste Band der neu gegründeten „Bibliothek des Journalismus“, die im Klartext-Verlag erscheint mit Raue als Herausgeber:
Paul-Josef Raue: Hans Hoffmeister – Harmonie ist mir suspekt. Klartext-Verlag, 163 Seiten, 13,95 Euro
„Wir haben nicht über die Wende berichtet. Wir haben sie gemacht“, sagt Hans Hoffmeister in dem fünfstündigem Interview, in dem der scheidende Chefredakteur ausführlich seinen Anfang in Thüringen direkt nach der Wende erzählt. Die Kapitel-Überschriften führen durch das Buch wie durch das Hoffmeistersche Leben. In der ersten Hälfte sind die Wende und die folgenden Jahre das Thema:
> „Eine Affekthandlung“ – Hoffmeisters Aufbruch in den Osten
> „So war der wilde Osten“ – Der Start der „Tagespost“ in Eisenach
> „Wie sollten sie denn plötzlich Demokraten sein?“ – Die ersten Tage in der Weimarer Redaktion
> „Nicht nur nicken, auch handeln“ – Die ersten Jahre der TLZ
> „Harmonie ist mir suspekt“ – Wie es dem Westdeutschen im Osten erging.
Im zweiten Teil erzählt Hans Hoffmeister aus seinem Leben und von seinen Anfängen als Journalist im Westen: „Es wurde unfassbar viel gesoffen“. Immer wieder räsonieren die beiden Chefredakteure auch über den Journalismus, seine Werte und Regeln.
Zwei Auffassungen von Journalismus prallen in dem Interview aufeinander:
> Hoffmeister bekennt sich zur Einmischung der Redaktion in die Politik, er nimmt Partei, ist gegen die Trennung von Nachricht und Meinung und begründet dies so: „Ich will nicht, dass dieses Land, mein Land, Schaden nimmt“.
> Paul-Josef Raue, Chefredakteur der konkurrierenden Thüringer Allgemeine (TA), plädiert dagegen für eine Distanz, die dem Leser die Freiheit lässt, selber ein Urteil zu bilden, und zitiert den TV-Moderator Friedrich: „Einen guten Journalisten erkennt man daran, dass er sich nicht gemein macht mit einer Sache, auch nicht mit einer guten.“
Im Anhang antworten 21 Prominente auf die Frage „Hatten Sie Angst vor Hans Hoffmeister:
Erfurts MDR-Funkhaus-Chef Werner Dieste:
Viel spannender ist die Frage: Hat Hans Hoffmeister in den vielen Jahren in der Weimarer Marienstraße manchmal Angst gehabt – gar vor sich selbst?
TA-Redakteur Henryk Goldberg:
Ich habe ein wenig Angst vor einer Fähigkeit, die Hans Hoffmeister auszeichnet, und die mir seit 1990 abhandenkam: Sich so ganz, so rückhaltlos einer Sache hinzugeben.“
Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht: „Wir sind stolz darauf, dass er Bürger unseres Landes ist.
Ex-Jenoptik-Chef Lothar Späth:
Parlaments- und Regierungsvertreter hatten bei ihm kaum eine Chance, ihre Sicht der Dinge vorzutragen. Am liebsten hätte er das Ganze selbst übernommen.
Thüringens Vize-Ministerpräsident Christoph Matschie über Hoffmeisters Samstagkommentar, das „Schlüsselloch“:
Im Schlüsselloch ließ Hans Hoffmeister nicht selten das Fallbeil auf Politiker nieder. Mich traf es auch, aber ich lebe noch.
Was Leser fragen: Apostrophen, Anwälte und der Viadukt
B. B. aus Weimar arbeitet auch als Korrektorin und ärgert sich über den falschen Apostrophen in unserer Zeitung. Worum geht’s: Wenn in einem Wort ein oder mehrere Buchstaben ausgelassen werden, setzen wir einen Beistrich –wie eben in „geht’s“:
„Ich weiß nicht, ob man hier der Technik die Schuld in die Schuhe schieben kann, denn in der Online-Version stellt sich der Apostroph völlig unauffällig dar.
In der Druckversion jedoch verkommt der Apostroph zu einem einfachen Ausführungszeichen: Er wird regelmäßig falsch herum gedruckt.“
Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:
Sie haben Recht, wir werden es ändern: Der korrekte Apostroph ist ein Bogen der sich von rechts oben nach links unten neigt.
Bei Mails kommt in der Tat meist ein einfacher Strich zum Vorschein. Aber auf gedruckten Seiten, ob im Buch oder der Zeitung, sollten wir die Kultur der Schrift, die Typografie, in Ehren halten.
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D. K. aus Friedrichroda fragt:
Wer bezahlt die Gelder für die Anwälte im Zschäpe-Prozess?
Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:
Der Angeklagte bezahlt seine Verteidiger. Wird er freigesprochen, zahlt der Staat, weil er folgenlos angeklagt und den Prozess provoziert hatte. Fehlt den Angeklagten das Geld, wie wohl im Zschäpe-Prozess, zahlt auch der Staat, weil er allen Bürgern die gleichen Chancen in der Verteidigung bieten muss – unabhängig ob einer reich ist oder arm.
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F.K. aus Eisenach kritisiert das Geschlecht des Viadukts: „Das historische Viadukt in Angelroda“ schrieben wir im Thüringenteil. „Laut Fremdwörterbuch ist ein Viadukt männlich und nicht sächlich.“
Chefredakteur Paul-Josef Raue antwortet:
Sie haben Recht, Herr Kalkbrennen. Der Viadukt ist die korrekte Form, aber – wie so oft – lässt der Duden auch das Viadukt gleichberechtigt zu.
Über Jahrhunderte war die hohe Brücke über ein Tal männlich, abgeleitet aus dem lateinischen Wort „aquaeductus“, das auch ein männliches Geschlecht hat. Aber ein Wort muss nur lange genug falsch gebraucht werden, dann lenkt der Duden ein.
Thüringer Allgemeine, Samstagskolumne „Leser fragen“, 24. August 2013
Wahlkampf: Wenn Parteien ihre Mitglieder zu Leserbriefen animieren
Ein Leser, der ungenannt bleiben will, schickt mir einen Brief und erzählt: Ein Verwandter hörte in einer internen Partei-Versammlung, dass die Mitglieder die Leserseite der TA zu Wahlkampf-Zwecken nutzen sollten. Auch die Themen gab man vor:
Altersarmut, Kinderarmut, korrupte Politiker, „Ossigkeit“ in allen Formen wie Hoffnungslosigkeit, Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit.
Offenbar hat diese Partei ihr Ziel erreicht, ihre Anordnung geht voll auf, schreibt unser Leser. Genau die von der Partei befohlenen Themen füllen die Leser-Seite; er nennt zwei Beispiele:
+ Da berichtet ein fast 90-jähriger und schließt mit den Worten „armes Deutschland“. Wann in seinem Leben war es denn besser?
+ Da schreibt eine Mittfünfzigerin über ihre Arbeits- und Perspektivlosigkeit: „Ich wohne in einem 100-Seelendorf mit schlechter Verkehrsanbindung und habe keine Fahrerlaubnis und bekomme keine Arbeit.“ Tausende sind dahin gezogen, wo es Arbeit gibt; Tausende haben die Fahrerlaubnis gemacht und pendeln täglich mehrere Stunden…
Wie kommt es, fragt unser Leser, dass die Mehrheit der Thüringer für die Regierung votiert, aber auf der Leser-Seite sich zu 95 Prozent die Unzufriedenen einer Partei finden?
Schreiben die anderen nicht?, merkt unser Leser noch an. „Das sind aber die Leistungsträger, die mit Pendlerzeit 12 Stunden am Tag tätig sind und keine Zeit zum Schreiben haben.“
Wahl-Tagebuch in der Thüringer Allgemeine, 23. August 2013
Sprachkritik im Stadion: Ich verwarne Ihnen (Friedhof der Wörter)
Jungen Männern in kurzen Hosen, die einen Ball treten und Millionen verdienen, wird oft geringe Intelligenz nachgesagt. Der Mehrheit von Ihnen zu bescheinigen, sie beherrschten die deutsche Sprache, wäre ein gewagtes Unternehmen.
Wer sich Interviews nach Bundesliga-Spielen anschaut, den überfällt nicht selten ein Frösteln ob der Sprachgewalt. Hören wir mehr als ein Dutzend Floskeln und Wörter? Das ist jedenfalls eine nur schwer zu widerlegende Behauptung.
Dabei sind die ausgeruhten Journalisten mit ihren Fragen ebenso wortkarg wie die verschwitzten Jünglinge, die immerhin 94 Minuten lang rauf und runter gelaufen sind (oder auch nicht). Nur selten blitzt bei Journalisten Originalität durch wie einst bei TV-Kommentator Heribert Fassbender:
„Es steht 1:1, aber genauso gut könnte es umgekehrt stehen.“
Es gibt auch Sprachwitz im Stadion. Allerdings muss man schon in die Frühzeit der Bundesliga tauchen. Da stürmte der Essener Spieler Lippens über den Rasen, den die Fans wegen seines watschelnden Laufstils „Ente“ nannten.
Auf die Frage, wie er Berti Vogts ausspielen konnte, sagte „Ente“: Dem habe ich Knoten in die Füße gedribbelt. Auf dem Platz machte er sich über den hart spielenden Verteidiger Vogts lustig und rief: „Hasso, fass!“
In die Geschichte der Fußball-Sprache ging „Ente“ Lippens ein, als ihm der Schiedsrichter zurief „Ich verwarne Ihnen“ – und er antwortete: „Ich danke Sie“. Der Schiedsrichter war sprachlos und stellte ihn vom Platz – übrigens nicht mit der stummen Roten Karte, sondern mit dem ausgestreckten Arm und dem Ausruf „Raus!“ So war es einst.
Thüringer Allgemeine 19. August 2013 (Kolumne Friedhof der Wörter)
Wie lange darf man ein Thema zum Aufmacher treiben?
Die Frage kennen Redaktionen: Können wir das Thema am dritten Tag immer noch als Aufmacher bringen?
In Thüringen wechselt der Regierungssprecher als Vorstand zu einer Internet-Firma. Er kündigt nicht seinen Job in der Regierung, sondern bekommt von der Ministerpräsidenten den goldenen Handschlag – also viel Geld bis ins hohe Alter.
Ein Leser aus Sondershausen schreibt an die Thüringer Allgemeine (TA):
Was ist mit der TA los? Zum dritten Mal in dieser Woche wird auf der Titelseite der TA die Provinzposse mit Herrn Zimmermann wiedergekäut.
Gibt es nichts Wichtigeres und/oder Besseres zu berichten? Dieser Gaul ist doch schon sowas von tot geritten, töter geht nicht (extra für Sie als Liebhaber der deutschen Sprache).
Es ist ja schön, wenn die Redakteure Luther beherzigen und „den gemeinen Mann auf dem Markt drum fragen und denselbigen auf das Maul sehen, wie (was) sie reden“, aber ich bezweifle, ob die Leser dies zu würdigen wissen. Mal abgesehen davon, dass diese Berichterstattung meiner Meinung nach die Politikverdrossenheit massiv fördert.
(Ironie ein) Wenn meine Frau nicht gern den Hägar läse, hätte ich womöglich die TA schon abbestellt (Ironie aus). Mir ist zwar klar, dass die vielen Seiten der TA täglich irgendwie „gefüllt“ werden müssen und Redakteure auch nur Menschen sind, aber die ständigen Wiederholungen sind eine Beleidigung jedes denkenden Menschen und nerven.
In seiner Samstags-Kolumne „Leser fragen“ antwortet der Chefredakteur:
Provinzposse? Provinz: Ja – wir leben in Thüringen, wir leben gerne hier, wir schämen uns nicht. Posse? Nein – wir haben die Arroganz der Macht an einem Beispiel offenbart; wir haben der Regierung klar gemacht, wie das Volk, das sie vertritt, denkt; wir haben den Mächtigen gezeigt, dass in einer Demokratie Kontrolle wichtig ist – und wir, die Journalisten, sie ernsthaft ausüben.
Die Aufmacher zur Zimmermann-Affäre waren auch keine Wiederholungen. Das Drama hatte, wie in der griechischen Tragödie, drei Akte:
> Der Jammer am ersten Tag: Was ist passiert?
>Der Schrecken am zweiten Tag: Droht eine Katastrophe?
> Am dritten Tag die Lösung, die „Katharsis“: die Reinigung.
Oder glauben Sie, Herr Schwartz, dass eine Regierung schwach wird – wenn wir einmal berichten und dann „Wichtigeres“ auf die erste Seite heben? Ermuntern sie die Mächtigen nicht, durch Schweigen, Halbwahrheiten und Aussitzen die Probleme in ihrem Sinne zu lösen?
„Provinzposse“ – so sähen es die Mächtigen gerne. Wir, die Redakteure, sehen es anders. Durch unsere Kontrolle der Macht fördern wir keine Politikverdrossenheit, sondern zeigen, wie stark eine Demokratie ist – in der Kontrolle funktioniert.
Thüringer Allgemeine 3. August 2013
Zwei Wörter, die nach 133 Jahren aus dem Duden verschwinden (Friedhof der Wörter)
Wissen Sie, was eine Dragonade ist? Oder nutzen Sie noch das Wort „vetterlich“?
Wenn Sie die beiden Wörter weder kennen noch nutzen, dann könnten Sie in der Duden-Redaktion arbeiten – in der Abteilung „Wörter-Friedhof“. Diese zwei Wörter haben gemeinsam: Sie tauchen im neuen Duden nicht mehr auf – nach 133 Jahren als Teil des deutschen Wortschatzes.
Schon im ersten Duden, in Leipzig 1880 gedruckt, kamen die Wörter vor und wurden in diesem Sommer auf dem Friedhof der Wörter begraben. Wir weinen ihnen keine Träne nach.
Oder doch? Wenn wir eine Träne kullern lassen, dann für das „vetterlich“. Bismarck, der Eiserne, schrieb an seine Braut: „Wir dürfen unser in vetterlicher Liebe gedenken.“ Allerdings – ein wenig mehr als „vetterlich“ darf die Gattin schon erwarten.
Vetterliche Liebe gibt es nicht. Vettern sind bestenfalls nett. Der norddeutsche Dichter Theodor Storm, kurze Zeit auch Richter in Heiligenstadt, schrieb: „Im Haus meines Onkels war ich mit dessen einziger Tochter Gertrud ich vetterlich und kameradschaftlich aufgewachsen.“ So ist es nett und sittsam.
Und die Dragonnade? Das Wort könnten die Erfurter noch in ihren Geschichten aufbewahren: Sie hatten, so sie Luthers Lehre anhingen, in der Zeit der Mainzer Herrschaft viel zu leiden – wenn auch nicht so schlimm wie die Hugenotten im Süden Frankreich.
Dort ließ der Sonnenkönig die Protestanten von Dragonern verfolgen und ihre Frauen vergewaltigen: Dragonaden, so ist in Grimms Wörterbuch zu lesen, ist auch „jede durch Soldatengewalt ausgeführte Regierungsmaßregel“.
Dass solche Wörter verschwinden, zeigt uns: Die Zeiten sind friedlicher geworden, bei uns jedenfalls. Wir können auf Dragonaden in jeder Hinsicht verzichten.
Thüringer Allgemeine 29. Juli 2013
Ein Lob auf die Freiheit der Presse
Was würden Sie auch gegen eine Mehrheit durchsetzen?
Die Freiheit der Presse: Säfte, Zitronen, Kloßteig, Zeitungen, Bücher – alles darf ohne Zensur gepresst werden.
Annette Seemann im Fragebogen der Thüringer Allgemeine vom 20. Juli 2013. Sie ist Autorin und Übersetzerin und leitet seit zehn Jahren die „Gesellschaft Anna-Amalia-Bibliothek“ in Weimar.
„Frau Zschäpe ist schwanger“ oder: Wie Leser auf den NSU-Prozess reagieren
„NSU-Berichte provozieren Leser. Chefredakteur der Thüringer Allgemeine bringt Abonnenten gegen sein Blatt auf“, schreibt Jens Twiehaus im Kress-Report. Er folgt einer Podiumsdiskussion bei der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche in Hamburg und einem Gespräch mit mir.
Die Überschrift ist zwar ein wenig reißerisch, denn es geht um 30 oder 40 Leserbriefe mit Reaktionen wie: „Wir wollen nicht jeden Tag das Gesicht von Beate Zschäpe sehen“ und „Wir haben doch nichts mit den Nazis zu tun.“ Dennoch haben einige Leser Schwierigkeiten mit dem NSU-Prozess. Ein typischer Leserbrief ist heute (29. Juni) in der Thüringer Allgemeine zu lesen:
Die Wahrheit fällt nicht vom Himmel
Dr. Hans Weigel aus Mühlhausen schreibt zum Artikel: „Post von Zschäpe an einen Dortmunder Häftling abgefangen“ (TA vom 14. Juni):
Ich hatte mir geschworen, keine Kommentare zu diesem unsäglichen Geheimdienst- und Prozess- Vor – (oder besser „Ver“) gehen abzugeben. Diese Meldung übersteigt jedoch alle Vorstellungen, die Frau Zschäpe bisher geliefert hat. Nicht nur, dass sie entsprechend der von ihr gelieferten Modenschau eine „Haft-Suite“ haben muss, nein, sie hat ausreichend Briefpapier (die Briefmarken stellte sicher die Haftanstalt zur Verfügung).
Man entschuldigt sich sozusagen noch, dass man einen 1 bis 1,5 cm dicken Brief an einen auswärts einsitzenden Verbrecher geöffnet hat. Wie nobel, wo doch die CIA alle unsere Telefongespräche ohne Entschuldigung abhören darf.
Jetzt warte ich jedenfalls nur noch auf die Zeitungsmeldung „Frau Zschäpe ist schwanger“, und keiner weiß, wie das geschehen konnte.
Der Brief steht in der Samstags-Kolumne „Leser fragen“, in der der Chefredakteur auf Leserbriefe antwortet:
Sehr geehrter Herr Weigel,
Sie sprechen wahrscheinlich für nicht wenige Leser. Ähnlich lautende Briefe stapeln sich auf meinem Schreibtisch.
Dennoch: In einem Rechtstaat gilt die Unschuldsvermutung. Bevor die Richter ihr Urteil nicht gesprochen haben, müssen alle, die Verantwortung tragen, von der Unschuld der Angeklagten ausgehen.
Das gilt auch für uns Journalisten: Es ist nicht Aufgabe von Zeitungen, Vorurteile zu bestätigen; wir haben zu zeigen und zu kontrollieren, wie ein Urteil entsteht. Nur so werden aus Vorurteilen, die von Gefühlen überwuchert sind, vernünftige Urteile.
Ein solch schwerer und komplizierter Prozess, in dem die Angeklagte schweigt – was ihr gutes Recht ist -, ein solcher Prozess, der ein Jahr dauern wird, ist zäh und ermüdend. Dennoch berichten wir ausführlich, um der Wahrheit nahe zu kommen. Wir brauchen Geduld, wir brauchen Zeit, weil die Wahrheit nicht vom Himmel fällt.
Über hundert Artikel sind in unserer Zeitung schon erschienen, noch viel mehr im Internet; die Zahl wird bis zur Verkündung des Urteils, wahrscheinlich im Sommer nächsten Jahres, erheblich wachsen.
In diesen Berichten erfahren wir auch viel über uns, über die Gesellschaft, in der das NSU-Trio aufgewachsen ist, und über das Milieu, in dem die braunen Gedanken, die Abneigung gegen Fremde wachsen konnten ebenso wie die Entscheidungen für den Terror. Darüber werden wir gemeinsam diskutieren müssen: Was hat die NSU, was hat der Prozess mit uns zu tun?
Verdrängen hilft nicht.
Und mit Verlaub, sehr geehrter Herr Weigel, eingesperrt zu sein, ist schlimm genug. Einem Menschen, der den Himmel nicht mehr sehen darf, keine Briefmarken mehr zu gönnen, ist – sagen wir: gar nicht nett.
Auf dem Podium Netzwerk Recherche wie im Kresshabe ich den Kommentar unseres Gerichtsreporters Martin Debes zitiert, der die heftigsten Reaktionen ausgelöst hatte:
Im Schwurgerichtssaal A101 sitzt auch Thüringen, auf der Anklagebank, weil dies nun einmal das Land ist, aus dem die Täter kommen.
Ein Thema ist auch der Hochmut einiger westdeutscher Beobachter, den ich auf dem Hamburger Podium angesprochen habe: „Wir sind bisweilen etwas verwundert, wie westdeutsche Zeitungen über den NSU schreiben und das Fernsehen berichtet. Es schwingt häufig im Unterton ein ,Das musste ja im Osten passieren‘ mit.“
Luther, Goethe und der Starkregen (Friedhof der Wörter)
„Himmel, Arsch und Starkregen!“ ist kein Fluch, denn Starkregen ist – im Vergleich mit Himmel und Arsch – ein schwaches Wort. Doch der „Starkregen“ war in den vergangenen Wochen eines der am meisten genutzten Wörter; im Wetterbericht stand es an erster Stelle.
Doch wir haben ein starkes Wort, ein Gefühls-Wort, das in Vergessenheit gerät und dem schwachen Starkregen weicht: Wolkenbruch. Vor einem halben Jahrtausend schlüpfte es in die deutsche Sprache.
Martin Luther schwankte noch, gebrauchte erst die damals geläufige „Wolkenbrust“ – wenn er beispielsweise in seinen Tischreden gegen den Oberchristen in Rom wetterte: „Da ist der Papst mit seinen schädlichsten Traditionen herein gefallen wie eine Wolkenbrust und Sündflut.“
Später wechselte Luther zum modernen „Wolkenbruch“, wenn er dem Volk ins Gewissen redete: „Dich überfallen hier nicht allein Tropfen, sondern eitel Wolkenbrüche mit Sünden.“
Paracelsus war ein berühmter Arzt und Zeitgenosse von Luther. Als er vom Aufplatzen einer Wunde sprach, das er „Platz“ nannte, verglich er es so: Ein Platz geschieht wie ein Wolkenbruch.
Drei Jahrhunderte später machte sich der Dichter Friedrich Hebbel seine Gedanken über die leere Speisekammer: „Hat man nichts zu Hause, so kommen die Gäste wie Wolkenbruch und Hagelschlag.“ Übrigens sah man im Wolkenbruch eine Zeit lang eine Frau: Die Wolkenbruch.
Enden wir das Loblied auf den Wolkenbruch mit einem Fluch des Weimarer Dichters Goethe, zu entdecken in einem seiner Lustspiele: „Wolkenbruch und Hagel!“ Und eben kein Starkregen.
Thüringer Allgemeine, Montag, 24. Juni 2013
Warum sind schwierige Wörter schwierig? – Die Addresse des Albatross (Friedhof der Wörter)
Warum schreiben viele die „Adresse“ falsch: Addresse? Die englische Sprache führt in die Irre: Sie verdoppelt das „d“ zu „address“, das dieselbe Bedeutung hat wie die deutsche Adresse.
Vor einigen Jahrhunderten besetzten nicht englische Wörter die deutsche Sprache, sondern französische. Wer modern sein wollte im Weimar des 17. und 18. Jahrhunderts, der mischte französische Sprachbrocken in seine Rede – so auch die Adresse. Der Franzose schrieb und schreibt die Richtung, so die ursprüngliche Bedeutung von Adresse, mit einem „d“, und so gelangte sie in die deutsche Sprache.
Aber selbst Goethe kam in Weimar durcheinander und schrieb in einem Brief: „Haben Sie die Gütigkeit, und setzen meinen Vornahmen auf die Addresse“ – also verdoppelte das „d“ wie ein Engländer.
Auch andere Wörter schreiben wir nicht wie die Engländer, obwohl viele glauben, ein englisches Wort zu benutzen: Albatros, der Seevogel, bekommt im Englischen noch ein zweites „s“ am Ende – und gilt folglich auch als schwieriges Wort in unserer Sprache, zumal wir im Plural auch das „s“ verdoppeln: Albatrosse.
Kolumne der Thüringer Allgemeine, Montag, 10. Juni 2013
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