Alle Artikel mit dem Schlagwort " Thüringer-Allgemeine"

„Wir fahren nicht auf der Titanic“ (dapd-Interview 1)

Geschrieben am 3. August 2012 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 3. August 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Ausbildung, Online-Journalismus.

Die Nachrichtenagentur dapd kündigt ein langes Interview an, das heute gesendet wird:

Erfurt (dapd-lth). Der Chefredakteur der „Thüringer Allgemeinen“, Paul-Josef Raue, bezeichnet Google und Facebook als „Schmarotzer“. Diese Internetmedien seien „gemeingefährlich“ und „mächtig“, sagte er im dapd-Interview in Erfurt. Die Verlagsbranche habe sich von der Entwicklung im Internet überrollen lassen. „Hätten sich die großen Verlage, vor allem in den USA, wo alles begann, dieselben Gedanken gemacht wie Steve Jobs und Mark Zuckerberg, wären diese gigantischen, die Freiheit bedrohenden Netze unter Kontrolle von Journalisten und weisen Verlegern“, sagte Raue.

Ein Auszug aus dem Interview, das dapd-Redakteur Ulrich Meyer führte:

Sind Google und Facebook nur Schmarotzer oder symbiotische Partner der „klassischen“ Medien?

Raue: Sie sind Schmarotzer, sie sind gefährlich, gemeingefährlich, aber sie sind da, und sie sind mächtig. Wir sollten sie nutzen, benutzen, aber nicht mehr. Hätten sich die großen Verlage, vor allem in den USA (wo alles begann), dieselben Gedanken gemacht wie Steve Jobs und Mark Zuckerberg, wären diese gigantischen, die Freiheit bedrohenden Netze unter Kontrolle von Journalisten und weisen Verlegern. Aber das sagt sich so leicht, und es ist der Fehler von gestern.

Mehr Sorgen bereitet, dass auch in Deutschland Startups entstehen, die schnell millionenschwer werden: Sie werden selten von Verlagen gegründet, sondern von jungen Tüftlern, die kein Geld für teure Marktanalysen und ausführliche Business-Pläne haben und keine Lust auf lange Konferenzen.
Warum entdecken wir diese Leute nicht? Stimmt unsere Ausbildung, unsere Talent-Suche nicht mehr? Haben wir das Gespür für Ausgewogenheit verloren, wenn wir Risiko, Neugier, Spontanität und Mut in die eine Waagschale legen und Wirtschaftlichkeit, Seriosität, Kontrolle und Kontinuität in die andere?


(zu: Handbuch-Kapitel 5
„Die Internet-Revolution“)

Der lokale Teaser macht die Leser neugierig

Geschrieben am 31. Juli 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 31. Juli 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Lokaljournalismus.

Der Teaser, so steht’s im Lexikon des Handbuchs, ist ein „Anschmecker“ oder eine „reißerische Vorankündigung“. Der neue Teaser-Trend ist: Ein Foto im Querformat mit einer integrierten Schlagzeile am Kopf der Titelseite – noch über dem Aufmacher. Die Zeit hat’s vorgemacht, die Stuttgarter Zeitung folgte und wurde dafür mit dem „European Newspaper Award“ ausgezeichnet, einige Regionalzeitungen machen es, darunter die Thüringer Allgemeine.

Für Regionalzeitungen ist es die Chance, opulent lokale „Anschmecker“ auf die Titelseite zu holen. Die Thüringer Allgemeine zeigt heute, also mitten im Sommerloch,  in 11 der 14 Ausgaben einen lokalen Teaser, etwa: Worbis wird 850 Jahre alt / Satellit fliegt mit Technik aus Ilmenau / Erster Kuss in Erfurt (zwei Giraffen im Zoo) / Eisenacher Stolpersteine.

Wir erfahren in Leserkonferenzen: Gut ein Drittel unserer Leser blättert die Zeitung von hinten durch. Diese Von-Hinter-Leser bestätigen: Wir bleiben stets auf der Titelseite hängen, was früher selten geschehen ist – zuerst bei den lokalen Promos, dann beim großen Bild, dem Teaser – vor allem wenn er ein lokaler ist.

Das Erfolgsrezept der lokalen Teaser: Gezeigt wird ein Bauwerk oder eine Landschaft, die ein Wahrzeichen der Stadt oder Region ist; zumindest muss in der Überschrift erkennbar sein: Das spielt sich in unserer Region ab (Name der Stadt oder Landschaft); und es sollten in der Regel Menschen zu sehen sein (oder, was offenbar immer attraktiv ist: Tiere).

Was die Leser verärgert: Ein reines Schmuckbild. Die Leser wollen einen größeren Beitrag im Lokalteil oder anderswo im Blatt zu dem Teaser lesen. Der Teaser muss relevant sein.

(zu: Handbuch-Kapitel Service-H „Lexikon journalistischer Fachausdrücke + 40 „Das Layout“ + 41 „Das Foto“ + 54 „Die neue Seite 1“ + 55 „Der neue Lokaljournalismus“

Ein Lob für das Semikolon im: Friedhof der Wörter

Geschrieben am 28. Juli 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 28. Juli 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Friedhof der Wörter.

Wie viele Satzzeichen kennt die deutsche Sprache? Die meisten Deutschen, so sie überhaupt noch schreiben, kennen nur zwei: Punkt und Komma. Mitunter schleicht sich noch das Fragezeichen an den Schluss eines Satzes; aber selbst Fragen enden oft mit einem Komma: „Warum hast Du mich verlassen, frage ich dich“, schreibt der Freund der Freundin.

Warum vergisst er hinter „verlassen“ das Fragezeichen?, frage ich.

Fünf Satzzeichen haben die meisten Zeitgenossen schon begraben: Fragezeichen, Doppelpunkt, Ausrufezeichen, Semikolon – und Gedankenstrich. Ein Leser trauert vor allem dem Semikolon nach, dem Strichpunkt; er fragt: „In den Texten der Zeitung muss man lange nach einem Semikolon suchen; oder irre ich mich da?“

In einer beliebigen Zeitungswoche entdeckt unser Archiv 74 Semikolons in allen redaktionellen Texten der Thüringer Allgemeine. Das ist wenig, zu wenig.

Das Semikolon lässt einen Satz schweben. In einer Geschichte von Bertolt Brecht erzählt Herr Keuner, der Elefant sei sein Lieblingstier: „Er hat eine dicke Haut, darin zerbrechen die Messer.“

Die meisten würden einen Punkt setzen vor dem Satz, den Herrn Keuner folgen lässt: „Sein Gemüt ist zart.“ Brecht setzt ein Semikolon, er haucht den Satz noch nicht aus, er bringt eine überraschende Wendung, die ein Punkt verstören würde.

Das Komma ist zu wenig, der Punkt ist zu viel – da lockt das Semikolon; zudem erspart es Brecht, ein „aber“ einzufügen („Sein Gemüt ist aber zart“).
So lesen wir bei Brecht über den Elefanten: „Er hat eine dicke Haut, darin zerbrechen die Messer; sein Gemüt ist zart.“

Was der Dichter vermag, soll uns alle locken. Statt der Monokultur des Punkts bietet unsere Sprache die Vielfalt der Satzzeichen: Nutzen wir sie!

Deutsche Lokaljournalistenpreise: Glückwunsch nach Bonn, Dortmund und Regensburg!

Geschrieben am 18. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.

Die Deutschen Lokaljournalistenpreise sind die Oscars der Zeitungsbranche. Sie werden für große Projekte, Konzepte und Serien vergeben – wie für das Konzept der Familienzeitung, mit dem Chefredakteur Andreas Tyrock den ersten Preis für den Bonner Generalanzeiger holt.

Nach Regensburg und zur Mittelbayrischen Zeitung, die erstmals auf das Treppchen steigt, geht der zweite Preis für das Konzept der Themenwochen.

Der zweite Preis wird geteilt und geht auch an die Westfälische Rundschau in Dortmund und somit vor allem an Frank Fligge, den stellvertretenden Chefredakteur und Vater der großflächigen Themenpräsentation im Lokalen.

In den einzelnen Kategorien gehen die Preise an:

  • Augsburger Allgemeine (Kategorie Geschichte)
  • Badische Zeitung (Service)
  • DeWeZet (Alltag)
  • Rhein-Zeitung (Reportage „Lobo, der Wolf vom Zentralplatz“)
  • Süderländer Tageblatt (Wirtschaft)
  • Saarbrücker Zeitung (Integration)
  • Stuttgarter Zeitung (Alltag)
  • Thüringer Allgemeine (Zeitgeschichte)
  • Weser Kurier (Verbraucher)

(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)

Was wir von Jürgen Klopp lernen können

Geschrieben am 12. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 12. Mai 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Was macht ein Unternehmen oder eine Redaktion erfolgreich? Die Mitarbeiter! Die Redakteure! Sie sind, um mit den Psychologen zu sprechen, hoch motiviert, das heißt: Sie sind mit Freude dabei, geladen mit Energie und Ideen; sie holen ihre Kraft aus sich selbst und sind dennoch stark im Team. Kurzum: Sie wollen unbedingt siegen!

Wer in die Fußball-Bundesliga schaut, entdeckt Jahr für Jahr die Erfolgs-Strategien unserer Gesellschaft. Vor einigen Jahren waren es die Schleifer, die autoritären Gewinner-Typen, die ihren Spielern genau vorschrieben, wie sie essen, schlafen und spielen sollen.

Felix Magath, der mit Wolfsburg Meister wurde,  lässt sich von seinen Spielern mit „Sie“ anreden. Christoph Daum, Stuttgart Meistermacher, ließ seine Spieler über glühende Kohlen laufen – oder waren es Glasscherben?

Die Zeit der Schleifer und Gurus ist vorbei, die Zeit der Kumpel kehrt zurück. Jürgen Klopp, der Dortmunder Meistertrainer, nimmt seine Spieler in den Arm, spricht mit ihnen über Liebeskummer und Geldanlagen, kurzum: Er kann zuhören, ist sogar mehr Freund als Kumpel.

Klopps einzigartiges Erfolgsgeheimnis ist das Vergessen. Er kann verpasste Aufstiege – zweimal in Mainz! -, Demütigungen im Europapokal, er kann Niederlagen schnell hinter sich lassen; er erwähnt sie nur, um aus ihnen zu lernen. Er ist der Phönix, der Vogel, der verbrennt, um danach lebendiger zu sein als je zuvor.

Jürgen Klopp ist mehr der  „Typ soziale Marktwirtschaft“ als der „Typ Kapitalismus“. Doch wenn es um die Taktik geht, um das Training, die Aufstellung – da diskutiert er nicht, da diktiert er. Er will eben unbedingt siegen – so oft es geht, am besten immer.

 TA vom 12. Mai 2012

(zu: Handbuch-Kapitel 46 „Die Redaktion: Wer hat die Macht“)

„Journalismus ist Wahrheit zum Zeitpunkt des Andrucks“

Geschrieben am 10. Mai 2012 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 10. Mai 2012 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, Presserecht & Ethik.

Zeitung und Kunst ist das Thema einer sehenswerten Ausstellung im Berliner Gropius-Museum nahe des Checkpoint-Charly, die bis zum 24. Juni zu besichtigen ist. Ein Bummel durch die Ausstellung soll zu einem Besuch verführen:

Das Martin-Gropius-Museum liegt mitten in Berlin, ist Nachbar des Schreckens, der sich auf einigen hundert Metern versammelt hatte: Die Nazis folterten in den Zentralen von Gestapo und SS; heute ist hier die „Topographie des Terrors“ zu finden, eine Ausstellung, die zeigt, wie man ein Volk gewaltsam unterdrücken kann. Entlang des Museums verlief die Mauer, auch ein Instrument des Schreckens, das nur noch an wenigen Stellen zu sehen ist wie am nahen Checkpoint-Charly, wo sich Touristen mit Schauspielern in US-Uniformen fotografieren lassen.

Inmitten des Schreckens steht der Renaissance-Bau, vor gut 130 Jahren gebaut, eine friedliche Insel, der Kunst gewidmet. Wer in diesen Tagen das Museum besucht und in den großen Lichthof tritt, sieht eine große Druckmaschine, auf der mit Blei-Lettern noch zu Wendezeiten die Parteizeitungen gedruckt wurden. Aus der Maschine wachsen Sonnenblumen, drumherum geht der Besucher auf Buchstaben aus Blei, die wie Samen dahingeworfen wurden, und durch Bleirollen, die an Filmrollen erinnern, mit denen vor Erfindung des Digitalen die laufenden Bilder auf die Leinwand geworfen wurden.

Wer nicht weiß, welche Schau ihn erwartet, ahnt es bei diesem Anblick: Es geht um die Medien, noch genauer: um die Zeitung, um „Art and Press“, wie die Ausstellung genannt wird, um Kunst und Presse, um „Kunst – Wahrheit – Wirklichkeit“. Die Installation mit der Druckmaschine und den Sonnenblumen hat Anselm Kiefer eigens für die Ausstellung geschaffen und „Die Buchstaben“ genannt. Der Schüler von Joseph Beuys, 1945 geboren, hat ein für ihn ungewöhnlich friedliches Werk geschaffen: Blumen blühen aus Druckmaschinen. So friedlich bleibt es nicht in der Ausstellung.

Der chinesische Künstler Ai Weiwei, in seiner Heimat kujoniert, zeigt eigenartig geformte Eisenstangen. Was haben sie mit der Zeitung zu tun?

Die Antwort ist verblüffend einfach: Über die Eisenstangen wurde nie in chinesischen Zeitungen berichtet. Sie sind Zeichen des Schweigens in einer Diktatur.

Die Eisenstäbe stammen aus einer Schule in Beichuan, in deren Trümmern bei einem Erdbeben 2008 tausend Schüler und Lehrer sterben mussten. Der Einsturz der Schule war Folge von verpfuschten Bauarbeiten, bei denen sich keiner an die Auflagen gehalten hatte.

In westlichen Zeitungen wäre darüber ausführlich geschrieben, wäre die Frage nach der Verantwortung gestellt worden, die Korruption beim Namen genannt. Was die chinesischen Zeitungen nicht schrieben und nicht schreiben durften, macht der Künstler zum Thema – und gibt den Toten, die dem Vergessen zugedacht waren, ihre Würde zurück.

Eine Diktatur erfahren und erlitten hat auch Farhard Moshiri, 1963 im persischen Shiraz geboren; heute lebt er in Teheran und Paris. Er scheint in der Ausstellung mit der Zensur zu spielen: Ein Kiosk ist zu sehen, ein „Kiosk der Kuriositäten“, in dem 500 Zeitschriften ausgestellt sind, aber nicht aus Papier, nicht gedruckt, sondern 500 mit der Hand geknüpfte Teppiche, auf denen das Titelbild von persischen Magazinen zu sehen ist, deren Buchstaben und Sinn uns rätselhaft bleiben; meist sind aber westliche Magazine zu sehen, von „Gala“ mit Cameron Diaz oder der französischen „Elle“ oder einer Zeitschrift, die festliche Haarschnitte zeigt, oder der politischen „Newsweek“ mit einem Flugzeug, das am 11. September in einen der Zwillingstürme rast.

„Sarkastischer kann man die Mechanismen der Globalisierung nicht formulieren“, schreibt Walter Smerling, der künstlerische Leiter, im Katalog. „Moshiri präsentiert uns ein Alltagsbild seiner Heimat, in der Konsum- und Wunschvorstellungen geweckt werden, deren Verwirklichung aber aufgrund der politischen, religiösen und rechtlichen Verhältnisse undenkbar, in bestimmten Fällen sogar strafbar ist.“

Was ist die Wahrheit? In einer Diktatur ist die Frage einfach zu beantworten: auf jeden Fall nicht das, was in der Zeitung steht. Aber in einer Demokratie ist, im Umkehrschluss, nicht einfach alles wahr, was in der Zeitung steht.

So wird die Wahrheit zum zentralen Thema der Ausstellung. Kai Diekmann, Chefredakteur der Bildzeitung, sagt in einem Gespräch über die Wahrheit des Journalismus:

„Wir können nur Ausschnitte der Wirklichkeit zeigen. Und wir sind auch immer nur so klug, wie der Tag es zulässt. Journalismus kommt von ,Jour‘, und auf dieses Rad ist man geflochten. Selbst die gründlichste Recherche kann nicht immer verhindern, dass später neue Informationen auftauchen, die eine Geschichte in ein völlig anderes Licht tauchen. Journalismus zeigt immer nur die Wahrheit zum Zeitpunkt des Andrucks.“

Kai Diekmann und die Bildzeitung haben „Art and Press“ gefördert und im Blatt über Wochen, meist über eine halbe Seite hinweg, die Bilder der Ausstellung nebst einem Experten-Artikel gezeigt. Denn – „Die Kernkompetenz von ,Bild‘ ist es, Geschichten in Bildern zu erzählen“, sagt Kai Diekmann, „Künstler tun das Gleiche. Sie wissen um die Kraft der Bilder.“

Ein anderer Förderer der Ausstellung ist Jürgen Großmann, der schwergewichtige Chef des Energie-Konzerns RWE. Für ihn kreist die Frage nach der Wahrheit der Presse um die Kontrolle der Medien: „Weil Künstler unabhängig sind, können sie die Medien eher kritisieren und infrage stellen. Sie sind ein intelligentes Korrektiv zur Macht der Medien. Von ihnen können wir lernen, wie man sich gegen zu große Einflussnahme der Presse zur Wehr setzt.“

Bummeln wir durch die Ausstellung, in der 56 Künstler ihre Werke zeigen, die alle in den vergangenen fünfzig Jahren entstanden sind oder eigens für „Art and Press“ erstellt wurden:

Aufregend ist eine 38-teilige Serie des vor zwei Jahren gestorbenen Sigmar Polke: „Original + Fälschung“. Nicht nur in der Kunst gibt es Fälscher, sondern auch in den Medien. Bilder werden hier wie dort manipuliert, Tatsachen verdreht oder der Blick wird in die Irre geleitet.

Zu betrachten sind nicht nur 24 Bilder von Polke, sondern auch 14 „Kommentarbilder“, auf denen er die Zeitungsausschnitte zeigt, die ihm die Anregung gegeben haben. So entsteht, wie Walter Smerling sagt, „eine Beziehung zwischen künstlerischer Produktion und der Arbeit des Künstlers. Die Lügen der Bilder werden durch die vom Künstler gewählte Kombination von Zeitungsmeldung und Kunstwerk zum eigentlichen Thema.“

In eine Art Mediengefängnis, das sie „Denkräume“ nennt, führt die Amerikanerin Barbara Kruger. Auf dem Fußboden geht der Besucher über eine Collage mit Meldungen aus Lokalzeitungen, die Immigration in Deutschland thematisieren: „Familien von Amts wegen zerrissen“ oder „Fatale Migrationspolitik“. In fetten Buchstaben, in tiefes Grün getaucht, sind einzelne Wörter herausgehoben: Rache, Willkommen oder Hass. Auf den vier Wänden stehen in schnörkelloser Schrift plakative Aussagen wie „NICHTS GLAUBEN“ und „Hütet euch, in die Pose des abgeklärten Zuschauers zu verfallen, denn das Leben ist kein Schauspiel, ein Meer von Leid ist keine Bühne, ein Mensch, der schreit, ist kein tanzender Bär.“

Im Krieg stirbt zuerst die Wahrheit. Der Künstler macht sie wieder lebendig – wie der in Düsseldorf lehrende Markus Lüpert, der das brennende „Dubrovnik“ während des Balkankriegs zeigt: Die schöne mittelalterliche Stadt am Mittelmeer, zum Weltkulturerbe erkoren, ist zu sehen und mittendrin eine gefaltete „Süddeutsche“, die wie ein Schiff in die Stadt sinkt, zu lesen die Schlagzeile „Dubrovnik in Flammen“.

Unübersehbar und unübersehbar politisch und provozierend sind die bunt flackernden LED-Schriftbänder der Amerikanerin Jenny Holzer. Zu lesen sind Protokolle von Verhören, die amerikanische Militärs mit Verdächtigen führten im sogenannten Anti-Terror-Krieg. Da wurde manipuliert und gefoltert – als wäre es das Demokratischste von der Welt. Die Laufbänder sind attraktiv – und geraten so in Widerspruch zu ihrer kritischen Botschaft, schreibt Peter Iden im Katalog. „Es ist aber auch gerade dieser Gegensatz, der die Künstlerin beschäftigt und den die Arbeiten thematisieren.“

Mit dem 1926 in Nürnberg geborenen und heute in London lebenden Gustav Metzger beenden wir den kleinen Rundgang durch eine überaus sehenswerte Ausstellung: Metzgers Installation nimmt einen großen rechteckigen Raum ein. In der Mitte ist eine Glaskabine aufgestellt, wie s im Prozess gegen Adolf Eichmann im Jerusalemer Gerichtssaal.

An einer Wand stapeln sich Zeitungsstapel bis zur Decke, an der anderen Wand steht ein Transportband, auf dem die Stapel zur Auslieferung vorbereitet werden – wie ein Gleichnis für die von Eichmann geplanten Transporte in die Gaskammern –, an der dritten Wand stehen drei Ortsnamen: Jerusalem – New York – Port Bou.

Port Bou ist ein Ort nahe der spanischen Grenze, an dem sich der jüdische Philosoph Walter Benjamin das Leben nahm auf der Flucht vor den Nazis. Benjamin hatte über den Angelus Novus, den neuen Engel, geschrieben, einer Zeichnung von Paul Klee nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs.

Der Engel starrt mit aufgerissenen Augen, sieht, wie sich Trümmer auf Trümmer häufen:

„Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm.“

(aus der Thüringer Allgemeine“ vom 5. Mai 2012 / Foto Raue: Besucher betrachten Fotografien von Julian Schnabel)

(zu: Handbuch-Kapitel 48
„Wie Journalisten entscheiden“)

Amoklauf und die ewige Frage: Warum?

Geschrieben am 27. April 2012 von Paul-Josef Raue.
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Titelseite TA 10 Jahre AmoklaufZum zehnten Jahrestag des Amoklaufs am Gutenberg-Gymnasium in Erfurt stellte die Thüringer Allgemeine auf der Titelseite die Frage „Warum?“ und gab 15 Experten die Gelegenheit, eine Antwort zu geben:

  • Warum kann Politik Amokläufe nicht verhindern? (Bernhard Vogel, Ministerpräsident a.D.)
  • Warum lässt Gott dieses menschliche Leid zu? (Joachim Wanke, katholischer Bischof in Erfurt)
  • Warum ändern Politiker trotz der Amokläufe nicht radikal das Waffenrecht? (Christine Lieberknecht, Ministerpräsidentin)
  • Warum müssen wir uns an Gewaltverbrechen, Täter und ihre Opfer erinnern? (Volkhard Knigge, Historiker, Direktor der Gedenkstätte Buchenwald)
  • Warum fehlen uns oft die Worte, Leid und Trauer angemessen auszudrücken? (Landolf  Scherzer, Schriftsteller)
  • Warum sind Menschen (auch) böse? (Rüdiger Bender, Philosoph)
  • Warum sind Behörden bei solchen Verbrechen scheinbar ohnmächtig? (Manfred Ruge, Erfurts Oberbürgermeisters vor zehn Jahren)
  • Warum ist es wichtig, dass wir die ganze Wahrheit kennen? (Eric T. Langer, Angehöriger)
  • Warum tat sich die Politik so schwer damit, die Thüringer Schule zu verändern? (Hans-Jürgen Döring, SPD-Landtagsabgeordneter)
  • Warum werden brutale Videospiele nicht verboten? (Prof. Klaus P. Jantke, Fraunhofer-Institut)
  • Warum tut sich Erfurt so schwer mit der Erinnerung an den Amoklauf? (Birgit Kummer, TA-Redakteurin)
  • Warum dürfen Waffen immer noch in Privathaushalten verwahrt werden? (Harald Dörig, Bundesrichter und Ehrenvorsitzender Schulförderverein Gutenberg-Gymnasium)
  • Warum fällt es uns schwer, uns oder etwas zu ändern, obwohl es falsch oder gefährlich ist? (Prof. Frank Ettrich, Soziologe)
  • Warum arbeiten so wenig Sozialarbeiter und Psychologen an Schulen? (Christoph Matschie, Kultusminister)
  • Warum können Angehörige nicht aufhören, die Gesellschaft zu mahnen ? (Gisela Mayer, Angehörige aus Winnenden)

Mit Wahlkämpfern unterwegs: Bier auf dem Markt

Geschrieben am 25. April 2012 von Paul-Josef Raue.
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Wahlkampf in Heiligenstadt: Auf ein Pils! (Foto: Jüngel/TA)

In 49 Dörfern und kleineren Städten waren die Volontäre der Thüringer Allgemeinen unterwegs, bevor die Wähler am Sonntag ihre Bürgermeister und Landräte bestimmen durften; vor den Stichwahlen in zehn  Tagen ist das „TA-Wahl-Mobil“, ein Elektro-Auto, weiter im Einsatz.

Auf den 49 Wahlmobil-Fahrten erlebten die Volontäre allerlei amüsante Geschichten. Tino Nowitzki hat einige aufgeschrieben:

Eigentlich war das Thema eben ernst gemeint. Gerade noch erzählen die Kandidaten von Plänen zur Finanzgesundung und den vielen Visionen, die sie für ihre Stadt haben. Da klirrt es plötzlich hinter ihnen.

„Ich dachte, die Herren hätten vielleicht Durst“, sagt ein fröhlich grinsender Mann, der gerade aus seiner Bar geeilt kommt, und hält ein Tablett mit sechs Gläsern Bier in die Runde. Der eine zögernd, der andere dankbar, setzen die Männer zu einem kräftigen „Prost!“ an. Die seriösen Politikermienen entkrampfen sich im Handumdrehen zu strahlenden Gesichtern.

Freilich war diese Szene vom Wahlmobil in Heiligenstadt ein fröhlich-perlender Einzelfall. Und doch sind uns auf den 49 Fahrten zu Thüringens Marktplätzen und Rathäusern neben wichtigen Themen auch viele Kuriositäten begegnet.

Und Heiligenstadt im Eichsfeld  hatte davon sogar gleich zwei zu bieten: In keiner anderen Stadt nimmt man es wohl so genau mit Regeln und Verordnungen. So kommt es, dass wir dort schon mal gefragt wurden: „Haben Sie eigentlich eine Genehmigung für das, was Sie hier machen?“

Aber die Eichsfelder Liebe zur Ordnung hatte auch seine guten Seiten: Die gesamte Zeit über wurde das Treffen mit Heiligenstadts Bürgermeisterkandidaten argwöhnisch von einem Polizeibeamten bewacht. Der wohl sicherste Termin der Serie.

Darfs eine Flagge sein? Oder ein Espresso?

Anderen Orts ging es dagegen vergleichsweise chaotisch zu: In Nordhausen zum Beispiel waren wir zuerst verblüfft von der offenen und geselligen Art der fünf Kandidaten, die sich auch miteinander prächtig zu verstehen schienen. Die Ungezwungenheit ging am Ende aber so weit, dass die Bewerber lieber untereinander klönten und ein Wahlmobilreporter alle Mühe hatte, die Gruppe bei Disziplin zu halten. So schnell lässt sich eine Respektsperson in Uniform vermissen.

Bald wurde uns klar: so bunt Thüringens Landschaften sind, so vielfältig sind auch seine Kommunalpolitiker. Während die einen im Umgang mit Medien eher unsicher wirkten, strotzten andere vor Professionalität: Da kam es schon mal vor, dass ein Kandidat mit eigener Werbe-Flagge um die Ecke bog. Ein anderer verteilte unbefangen Tütchen mit löslichem Espresso – darauf das lächelnde Gesicht des Bewerbers.

Manchmal waren wir aber auch froh, überhaupt zum Termin am Rathaus zu finden. Vor allem dann, wenn die Gemeinde-Zentrale zuvor clever versteckt wurde – zum Beispiel in einem unscheinbar wirkenden Wohnhaus in Fretterode oder in einer alten Dorfschule in Bufleben.

Überhaupt hat uns wirklich überrascht, wie verschieden doch die Arbeitsplätze von Thüringens Bürgermeistern aussehen. Vom fast feudalen Amtssitz aus der Renaissance mit Giebeln und Türmchen (Gotha) bis zum Mietbüro mit Briefkasten im Plattenbau (Seebach) war alles dabei.

Auch mit Bürgern war es nicht nur leicht. Wo sie hinzukamen, stellten sie meist wichtige und erhellende Fragen. Hin und wieder aber mischte sich auch ein Querulant darunter, der Kandidaten und Publikum mit ellenlangen Vorträgen traktierte. Nicht selten, so stellte sich heraus, handelte es sich dabei um einen getarnten Partei-Sympathisanten.

Andere Bürger – meist ältere – fanden die Art und Weise, wie die Treffen stattfanden, so gar nicht vergnüglich: Dem einen war es zu früh oder zu spät, der andere fragte: „Warum haben Sie eigentlich keine Bänke zum Sitzen mitgebracht?“ Anregungen, die wir für die Zukunft aufnehmen werden.

Und da wäre noch das Auto. Dessen offizieller Titel „Wahlmobil“ sorgte beim einen oder anderen Bürgermeisterkandidaten für Verwirrung. „Ist das schon alles?“, hieß es dann. „Ich hatte einen Bus erwartet“.

Enttäuscht war auch so mancher, als wir statt Elektroauto mit einem „herkömmlichen“ Vehikel um die Ecke bogen. Doch der Wechsel war dann und wann nötig, allein um gewisse Strecken überhaupt zu meistern. Zumindest hat uns das gezeigt, welche erstaunliche Fan-Basis unser kleiner Strom-Mitsubishi inzwischen hat.

Als es mit der Stromladung einmal besonders knapp wurde, hieß es gar Zwischenladen mitten im Thüringer Wald, in Ilmenau. Zum Glück gibt es dort seit Kurzem eine Elektrotankstelle der Stadtwerke am Bahnhof.

Doch mal eben so Strom zapfen? Gar nicht so einfach. Für die Nutzung mussten wir uns registrieren, einen Pfand von 20 Euro hinterlegen und bekamen dafür unsere „eMobility-Card“ mit Nummer 01: Die ersten Kunden überhaupt. Dafür konnten wir unser Ladekabel andocken und schafften es zurück zur Erfurter Redaktion.

Trotz aller Widrigkeiten: Genossen haben wir die Tour durch Thüringens wählende Gemeinden allemal. Sie hat uns gezeigt: Hinter den strahlenden Gesichtern auf Wahlplakaten stecken ganz normale Menschen. Menschen, die in den letzten Wochen um jede Stimme gekämpft haben.

Da sei auch ein erfrischendes Pils gegönnt.

/ Thüringer Allgemeine, Freitag, 20. April 2012

(zu: Handbuch-Kapitel 55 „Der neue Lokaljournalismus“)

Vor 10 Jahren: Der Amoklauf in Erfurt

Geschrieben am 24. April 2012 von Paul-Josef Raue.
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Am 26. April 2002 ermordet ein 19-jähriger im Erfurter Gutenberg-Gymnasium sechzehn Menschen: zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Schulsekretärin, einen Polizisten – und sich selbst. Der Amoklauf ist ein Schock für alle, stürzt ein Land in Trauer, bringt Menschen nahezu um den Verstand, weil keiner, bis heute, versteht, wie ein junger Mensch noch am Anfang seines Leben zu diesen Morden fähig ist, sorgfältig geplant, mit Kalkül ausgeführt.

Eigentlich sollte man schweigen, wenn solch Unbegreifliches geschieht. In welcher Sprache sollte man überhaupt sprechen? Schon die Wahl der Worte ist schwer: Darf man von einem Amoklauf sprechen? Das Wort verweist eher auf eine spontane Tat. Darf man von einem Massaker sprechen? Das Wort erinnert eher an tausendfachen Mord, gar Völkermord.

Für die Angehörigen der Opfer wäre Schweigen die beste Lösung. Ihr Schmerz verdoppelt sich durch jedes Bild, jeden Text, der in der Zeitung steht oder jeden Film, der im Fernsehen läuft. Auf der anderen Seite muss auch eine Gesellschaft eine solche Tat zu verstehen versuchen, darf sie nicht verschweigen – zum einen um Vorsorge zu treffen, zum anderen um herauszufinden, was schief läuft im Umgang miteinander, vor allem in der Bildung der jungen Generation.

Die Morde am Erfurter Gymnasium blieben ja auch kein Einzelfall in Europa: 2009 ermordete ein 17jähriger in Winnenden nahe Stuttgart 15 Menschen, zuerst in einer Realschule, dann auf der Flucht; 2011 ermordete ein 32jähriger 94, meist junge Menschen in einem Ferienlager auf der norwegischen Insel Utoya.

Im Editorial zum Buch „Der Amoklauf“, nach einer Serie in der „Thüringer Allgemeine“, ist weiter zu lesen:

Nach den Morden am Gutenberg-Gymnasium haben die Medien zu Recht harte Kritik einstecken müssen. Journalisten haben viele Fehler, zum Teil unverzeihliche Fehler gemacht, vor allem auf der Jagd nach Gesichtern, Bildern und intimen Szenen. Sie haben oft die Trauernden nicht in Ruhe trauern lassen. Dass diese Kritik auch in den Medien selber hinreichend wahrgenommen und diskutiert worden ist, zeigt, dass unsere Demokratie zumindest robust ist und lernfähig.

Das Problem der Journalisten ist, wenn sie nicht nur Sensationen suchen, die Balance zwischen Distanz und Nähe:

• Sie brauchen Distanz, gar kühlen Abstand, um sich nicht von den Emotionen übermannen zu lassen und wenigstens die Tür des Verstehens ein wenig öffnen zu können und Verantwortungen zu klären.
• Sie brauchen Nähe, um in allem Respekt mit den Menschen sprechen zu können, sie in ihrem Schmerz zu begreifen, das Unerklärliche vielleicht doch erklären zu können.

Als Journalisten, die in Erfurt leben und arbeiten, zeigen wir den Respekt, weil wir Tür an Tür mit den Menschen leben, die immer noch trauern und vielleicht ein Leben lang trauern müssen. In diesem Respekt und dem Bewusstsein, die Nähe nicht auszunutzen, denken wir zehn Jahre danach noch einmal intensiv an die Morde im Gutenberg-Gymnasium.

Wir wissen, welche Lehren wir aus der Geschichte ziehen müssen: Wer die Wiederholung des Bösen verhindern will, muss sich erinnern, so schmerzlich sie auch sein mag. Wir Erfurter Journalisten, die dieses Buch schreiben, sind uns bewusst: Wir müssen erinnern, ohne die zu verletzen, die immer noch in der Trauer gefangen sind; wir müssen fragen, welche Details nach zehn Jahren wieder erzählt und welche Fotos noch einmal gezeigt werden sollten.

Die TA-Serie und das Buch wollen erinnern und gedenken. Geschildert werden noch einmal das Geschehen am 26. April 2002 und seine Folgen. Nichts soll vergessen sein. Vor allem aber kommen Menschen zu Wort, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten. Es ist ihre Geschichte, ihr Schicksal. Niemand kann besser beschreiben, was damals passierte – und wie es Leben und Alltag veränderte.

Die Ereignisse des Schwarzen Freitags von Erfurt sind nahezu lückenlos ermittelt. Dennoch sind auch zehn Jahre danach die Wunden nicht verheilt, die Verletzungen an der Seele schmerzen weiter. Die größte Last tragen die Angehörigen der Opfer, die den Verlust begreifen und mit ihm leben müssen. Aber auch die, die damals Zeuge der schrecklichen Morde wurden oder jene, die den Weinenden und Trauernden beistanden, müssen mit ihren Erlebnissen und Bildern im Kopf klar kommen.

Vor allem stellen wir Fragen, die bis heute nicht erschöpfend beantwortet sind und vielleicht nie beantwortet werden können:

Wie konnte sich ein junger Mann so in Hass und Wut gegen seine Lehrer hineinsteigern?

Wieso blieb sein Plan für den mörderischen Rachefeldzug unbemerkt?

Wir Redakteure danken allen, die an der Serie und dem Buch mitgewirkt haben. Selbstverständlich akzeptierten wir, wenn viele nicht öffentlich erinnert werden wollen – weil ihre Erinnerungen ein einziger Schmerz sind. Manche haben  die Kraft und den Mut gefunden, doch zu sprechen.

Wir alle dürfen nicht vergessen.

/Editorial von Paul-Josef Raue „Distanz und Nähe und der Schmerz der Erinnerung“ im Buch „Der Amoklauf. 10 Jahre danach – Erinnern und Gedenken“, erschienen im Klartext-Verlag Essen, 12.95 €; in dem Buch sind die Gespräche mit den Menschen abgedruckt, die diesen Tag als Angehörige, Augenzeugen oder Helfer unmittelbar erleiden mussten“. Die Gespräche, zehn Jahre danach, sind auch in einer Serie der „Thüringer Allgemeine“ erschienen“

(zu: Handbuch-Kapitel 48+49 „Presserecht und Ethik“)

Wie werde ich Bürgermeister? – Wahlen im Lokalen

Geschrieben am 22. April 2012 von Paul-Josef Raue.

Am heutigen Sonntag (22. April 2012) wählen Thüringer in den meisten Städten und Landkreisen ihre Bürgermeister und Landräte. Die  Thüringer Allgemeine hat über viele Woche ihre Leser neugierig gemacht auf die Wahl, die Kandidaten, die Probleme in ihrer Stadt, die Lösungen, die Möglichkeiten.

Mit dem TA-Mobil, einem reinen Elektro-Auto (mit all seinen Tücken), fuhren die Volontäre jeden Tag in eine der kleineren Städte, um mit den Kandidaten auf der Straße zu sprechen; die Leser waren zu diesen Interviews eingeladen, die Termine angekündigt.

Die Volontäre besuchten 49 Städte und Gemeinden, die sie zumeist zum ersten Mal sahen, sie sprachen mit weit über hundert Kandidaten. In seiner Bilanz erzählt Nicolas Miehlke von den finanziellen Schwierigkeiten von Bürgermeistern und Bürgern, von Fördermitteln und der Neuordnung der Gemeinde-Grenzen, aber er schreibt auch (TA 20.4.2012):

In den kleinen Gemeinden haben wir Menschen getroffen,die sich einfach für ihren Ort engagieren wollen, fernab von Parteimeriten. Leute, die reden, wie es ihnen aus dem Herzen kommt, und sich nicht mit Politikersprech ins Ungefähre retten.

In 16 von 49 Kommunen gab es auch keine Widerrede, weil es nur einen Kandidaten gibt und die Wähler nur Ja oder Nein stimmen können.

Alle Artikel, alle mehrspaltig als Aufmacher, standen im Thüringen-Teil der Thüringer Allgemeinen, hatten also die größtmögliche Leserschaft – selbst wenn es um den Bürgermeister einer Gemeinde mit nur wenigen tausend Einwohnern ging.

Mein Leitartikel in der Ausgabe vor der Wahl (21.4.2012) war auch ungewöhnlich, wandte sich an die Bürger, die laut verkünden, das Vertrauen in die Politiker verloren zu haben.

Wie werde ich Bürgermeister?

Haben Sie auch kein Vertrauen mehr in unsere Politiker? Sind Sie enttäuscht von den Parteien? Klopfen Sie ihrem Nachbarn auf die Schultern, wenn er über den Zustand unseres Landes klagt?

Wenn einer sagt: „Es wird immer schlimmer“, nicken Sie dann und wiederholen: „Ja, immer schlimmer.“ Und wissen Sie auch nicht, wie man das ändern kann?

Warum kandidieren Sie nicht? Als Bürgermeister beispielsweise. In einigen thüringischen Städten gibt es nur einen Kandidaten, so dass die Bürger keine richtige Wahl haben.

Warum sagt keiner von denen, die immer nur klagen: Ja, ich werde Bürgermeister! Ich zeige, wie man es besser macht! Ich beweise, dass die Bürger Vertrauen haben können – in mich beispielsweise!

„Das ist ein Scherz“, sagen Sie. Nein, in kleineren Städten reichen ein paar Tausend Stimmen und ein überzeugender Auftritt – und Sie sind gewählt, sogar ohne einer Partei nahetreten zu müssen.

Für die Wahl am Sonntag kommt eine Kandidatur wohl zu spät, aber Sie können es sich ja überlegen: Schon in zwei Jahren beispielsweise wählen die Thüringer die Gemeinde- und Stadträte.

Wenn Sie gewählt wurden, weil ihnen die Bürger vertrauen, dann klagen Sie vielleicht nicht mehr so laut. Vielleicht sagen sie: „Es geht uns eigentlich recht gut in dieser Demokratie. Sicher, manches könnte besser sein, aber ich kann ich ja dafür kämpfen.

In einer Demokratie darf man stöhnen und verdrossen sein ohne Ende. Aber man darf auch mitmachen, es besser machen. Zumindest sollte man wählen gehen.

Am Sonntag auf jeden Fall.

Online sind alle Artikel und Bilder zu sehen auf:
www.wahlen-in-thueringen.de
Dort stehen heute im Wahl-Ticker auch alle Ergebnisse.

(zu: Handbuch-Kapitel 56 „Service und Aktionen“)

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