„Steht’s frische Oliven“ – Genitiv und kein Ende (Friedhof der Wörter)
Welch eine Freude – eine Postkarte statt einer Mail! Auf einer Seite steht statt einer schönen Ansicht aus dem Thüringer Wald in großen roten Buchstaben: „Genetiv ins Wasser, weil es dativ ist.“ Das ist entweder lustig gemeint oder höhnisch.
Familie Woltermann aus Volmarstein an der Ruhr schreibt dem Chefredakteur diese Postkarte. Was auch eine Freude ist: Die Familie, die sonst bestimmt die fehlerfreie „Westfalenpost“ liest, hat im Urlaub die TA gelesen; aber sie ärgert sich über den Chefredakteur:
„Darf es wahr sein
, dass der Chefredakteur einer deutschen Tageszeitung nicht weiß, wie sich das Wort „Genitiv“ schreibt? Ein Hohn! Wir verbringen einen ansonsten schönen Kurzurlaub in Thüringen.“
Der „Genetiv“ – so die durchaus korrekte Schreibweise voll des Hohns – oder „Genitiv“, wie der Duden empfiehlt, regt viele Leser an oder auf, sogar aus Westfalen.
Barbara Hillebrand war auch eine Urlauberin im Thüringer Wald, genau: in Meyersgrund bei Ilmenau. Sie vermisst die TA und den „Friedhof“, wie sie schreibt, und schickt als Trost ein „sehr schönes Beispiel“ für die Schreibweise des Genitivs, gefunden und fotografiert im Urlaub.
Ich freue mich über jedes Foto und jeden Hinweis als Dokument eines seltenen oder seltsamen Umgangs mit der deutschen Sprache.
(TA, 24. September 2012)
Genetiv oder Genitiv? Peinlich? Witzig? (Friedhof der Wörter)
Barbara macht Urlaub im Thüringer Wald, liest den „Friedhof der Wörter“ und muss schmunzeln: „War der Genetiv eine Falle für den Leser?“
Hanni, man verzeihe die in Mails übliche Anrede, also Hanni hatte nach eigenem Bekunden nicht nur Freude an dem „Deppen-Apostroph“, sondern auch am „Genetiv“:
„Beim ersten Mal glaubte ich noch an einen Tippfehler. Als diese Schreibweise aber konsequent weiter beibehalten wurde, kam ich ins Zweifeln und sah in der einschlägigen Literatur nach. Nun, je nach persönlicher Einstellung kann man den Fehler peinlich oder sehr witzig finden. Ich finde es köstlich, daß ausgerechnet in einer detaillierten Abhandlung über die Schreibweise des ,Genitivs‘ (?) dieser Fehler unterlaufen ist!“
Was ist richtig? Genetiv, wie im vergangenen „Friedhof“ geschrieben, oder Genitiv, wie die beiden Leserinnen und einige andere versichern?
Der Duden lässt beide Schreibweisen zu, entscheidet sich aber fürs „i“ im „Genitiv“ und bezeichnet den „Genetiv“ als veraltet. Müssen wir dem Duden folgen?
Nicht immer! Aber immer wenn es keinen Grund für eine Abweichung gibt – wie beim Genitiv, der vom lateinischen Wort „casus genitivus“ abgeleitet ist.
Es bleibt rätselhaft, wann und warum aus dem alten „Genetiv“ der moderne „Genitiv“ entstanden ist – oder ob beide Schreibweisen lange nebeneinander existierten. Zu Luthers Zeiten und den Jahrhunderten danach gab es keine allgemein verbindlichen Regeln; man schrieb so, wie man sprach und meinte, verstanden zu werden.
Im ersten Duden von 1880, der eine Mark kostete, stehen beide Wörter noch gleichrangig: Genetiv und Genitiv. Konrad Duden, Direktor des Königlichen Gymnasiums zu Hersfeld, schreibt im Vorwort, die Regeln sollten Deutschland einen, sprachlich zumindest.
„Überdies sind wir der Meinung, daß es durchaus nicht die Absicht war, für alle Fälle und für alle Zeiten endgültige Bestimmungen zu treffen.“
(TA, 17. September 2012)
Der Deppenapostroph: Ein Häkchen zu viel (Friedhof der Wörter)
Vorab:
Wer weiß, wann aus dem „Genetiv“ ein Genitiv wurde?
Was ist ein Deppenapostroph? Ein Liebhaber der deutschen Sprache aus Ellrich hat ihn so getauft, und er hat ihn auf den TA-Lokalseiten entdeckt:
In der Lokalsport-Bildzeile: „Glückauf´s Katharina Bartsch lebt von ihrer Antrittsschnelligkeit“, auf der Leserseite: „Mohring’s Position“ und im TA-Tippspiel „Enrico Weber´s Kreisoberligatipp“.
Der Deppenapostroph, besser: Deppen-Apostroph, ist der englischen Grammatik entlehnt: Dort wird der Genetiv, wie in unserer Sprache, auch mit einem angehängten „s“ gebildet: aber er wird mit einem Häkchen, einem Apostroph, vom Wort getrennt. „Obama’s dog“, mit Häkchen, entspricht im Deutschen: „Obamas Hund“, ohne Häkchen.
Das Häkchen beim Genetiv kam in Mode, als der Deutsche seine Liebe zu amerikanischen Schlagern entdeckte und zu Klopsen, die zwischen zwei Brötchenhälften kleben. Harrys Kneipe hieß plötzlich: Harry’s Kneipe; und der kleine Frisörladen: Inga’s Haarladen.
Das Amerikanische war modern, so meinte man, eben nicht so provinziell wie das Deutsche. Wir machten jeden Unsinn mit, wenn er nur amerikanisch klang.
In der Tat ist die englische Sprache verführerisch einfach: Kein der-die-das, sondern nur ein „the“; wenige Ausnahme gibt es beim Konjugieren und Deklinieren, während jeder, der unsere Sprache lernt, schier verzweifelt, wann ein „n“ anzuhängen ist: dumme Hühner, die dummen Hühner, den dummen Hühnern.
Ausgerechnet beim Genetiv ist die deutsche Sprache einfacher als die englische, zumindest nutzen wir ein Häkchen weniger. Und was machen wir ins Englische vernarrte Deutschen? Wir setzen den Deppenapostroph, als wär’s ein Stück vom Deutschen.
Leserinnen schrieben mir nach der Veröffentlichung in der TA (10. September 2012) so und ähnlich:
Sehr geehrter Herr Raue,
als regelmäßiger TA-Leser, aber unbedarfter Leserbriefschreiber muss ich heute mal meine Zurückhaltung aufgeben. Des öfteren hatte ich schon meinen Spaß an Ihren Artikeln nicht nur in dieser Spalte.Heute hatte ich nicht nur meine Freude an dem „Deppen-Apostroph“ sondern an dem „Genetiv“, beim ersten Mal glaubte ich noch an einen Tippfehler. Als diese Schreibweise aber konsequent weiter beibehalten wurde, kam ich ins Zweifeln und sah in der einschlägigen Literatur nach.
Nun, je nach persönlicher Einstellung kann man den Fehler peinlich oder sehr witzig finden. Ich finde es köstlich, daß ausgerechnet in einer detaillierten Abhandlung über die Schreibweise des „Genitivs“(?) dieser Fehler unterlaufen ist!
Meine Antwort:
Sie haben Recht, und ich habe eine Vergangenheit. Früher schrieb man den Genitiv „Genetiv“, der Duden nimmt das Wort auch in der aktuellen Ausgabe noch auf – aber mit dem Hinweis „veraltet“.
Sie merken, auch ich bin kein junger Mann mehr, habe den „Genetiv“ noch gelernt und nicht aus dem Kopf entfernt.
Sie haben aber Recht: Heute schreiben wir „Genitiv“, und der „Genetiv“ ruht auf dem Friedhof der Wörter. Vielleicht schreibe ich am nächsten Montag davon.
Nur schlechte Nachrichten? Nein, auf den Mix kommt es an
Wie lesen Leser die Zeitung? Oft erschrecken sie, wenn sie die Titelseite mit durchweg schlechten Nachrichten überfällt, meist noch halb in der Nacht. Eine Leserin unserer Zeitung schrieb, dass sie „auf der ersten Seite unserer Heimatzeitung erst mal mit Negativ-Schlagzeilen konfrontiert wird“ wie:
„Der Strom wird teurer, das Brot wird preismäßig angehoben, und Sprit fürs Auto schwebt auch in utopische Höhen. Da ist man schon am frühen Morgen ,geplättet‘.“
Allerdings wirkten dann die Kolumnen auf der Leben-Seite, vor allem die Koch-Kolumne, wie „Balsam auf der Seele“: „Ob nun ,Herr Lehmann‘ zu Wort kommt oder der Teenie-Papa, die Hobbygärtnerin oder der ,Topfgucker‘. Haste das heute gelesen?, heißt es dann im Bekanntenkreis.“
Es kommt auf den Mix von schlechten und guten Nachrichten an – bei aller Chronistenpflicht, die nur ein schwaches Argument ist. Die Seele liest mit.
Auf den Brief der Leserin, die so gern die Kolumnen liest, bezieht sich die TA-Kolumne „Leser fragen – Chefredakteur antwortet“ an diesem Samstag (8. September 2012):
Redakteure wie Leser schauen zuerst auf das Negative. Ist der Mensch so? Ja, so ist er.
Den Klempner interessieren nicht die 999 Wasserhähne, die nicht tropfen – sondern der eine, der tropft. Der Leser unserer Zeitung möchte nicht wissen, dass unser Wasser bedenkenlos zu trinken ist, sondern nur wissen, wenn Bakterien ihr Unwesen treiben.
Im Grunde haben wir ein Urvertrauen entwickelt oder von Natur aus geerbt, dass die Welt gut ist und die Menschen nett, hilfreich und gut. So interessiert uns, wenn die Ordnung der großen Welt gestört ist und der kleinen Welt ebenso.
Deshalb mögen wir Krimis, und die Menschen mögen sie seit Adam und Eva; Krimis finden wir schon in der Bibel, in den griechischen Sagen, bei Shakespeare und Schiller.
Nur schlechte Nachrichten – die hält kein Mensch aus. Deshalb präsentieren wir unseren Lesern auch gute Nachrichten, kuriose, nette, menschenfreundliche – vorzugsweise in unseren Kolumnen, aber auch gut verstreut auf den meisten Seiten unserer Zeitung, vor allem im Lokalen.
Der Mensch ist nur selten schwach oder gar schlecht. Die meisten Menschen sind eben nett, und an diese Menschen denken wir, wenn wir unsere Zeitung machen. (TA 8.9.12)
(zu: Handbuch-Kapitel 53 Was die Leser wollen)
Thüringens Regierungssprecher: Wer lange und oft mit Schmutz wirft …
Dem Thüringer Regierungssprecher Peter Zimmermann platzt der Kragen: Da hat er immer wieder in der NSU-Affäre, provoziert durch mordende Neonazis aus Thüringen, mit Rücktritts-Forderungen an den Innenminister zu kämpfen – aber nicht von der Opposition, sondern von der regierenden Großen Koalition.
Zimmermann denkt nach über das Streben um politische Wahrnehmung um jeden Preis, über schlechte Nachrede und Vorverurteilung und die Verunglimpfung des Landes: „Schon lange ist die moderne Form der Verurteilung die mediale Anschuldigung. Es regiert Königin Konjunktiv, es lebe die rhetorische Eskalation!“
Und er denkt nach über die Macht des Internets, regional begrenzte Polemiken weltweit zu streuen.
Der Staatssekretär als Sprecher der Regierung kritisiert Mitglieder des Parlaments: „Ist ein Landtagsmandat die Lizenz, sich verbal gehen zu lassen, willkürlich Spitzenbeamte zu beleidigen und pauschal Rücktritte zu fordern?“
Dies ist der komplette Text von Zimmermann, veröffentlicht auf der Debatten-Seite der Thüringer Allgemeine (28. August 2012):
Den Erfolg politischer Arbeit von Landtagsabgeordneten oder Ministern zu bemessen ist schwieriger als bei Führungspersönlichkeiten in der Wirtschaft. Der Erfolg drückt sich nicht ohne weiteres in steigenden Umsatzzahlen, höherer Effektivität oder dem Unternehmensergebnis aus.
Die Politik und mit ihr wesentliche Teile der Gesellschaft leben stark von Stimmungen. Eine der einfachen Formeln lautet: Ist die Stimmung gut, sind auch die Wahlergebnisse gut – in Parteigremien oder bei Kommunal- und Landtagswahlen.
Ist beispielsweise die Stimmung für eine Partei national schlecht, leiden darunter auch die vor Ort in den Städten und Gemeinden engagierten Kommunalpolitiker, ohne etwas dafür zu können. Ist sie gut, so läuft’s auch vor Ort rund. Erfolg und Misserfolg sind also klar, gern und meist vorab adressiert.
Wer die politische Stimmung beeinflussen will, wer eigene politische Ideen und Vorschläge einbringen will, muss wahrgenommen werden, in der Öffentlichkeit wie in den Parlamenten. Die Medien sind dafür eine Plattform. Dieses Streben nach Wahrnehmung ist deshalb nicht nur legitim sondern völlig in Ordnung.Wahrnehmbarkeit wird zur politischen Währung, sie entscheidet über Sein und Nichtsein von Akteuren – „Ich sende, also bin ich!“. Doch das Streben nach Wahrnehmung kann auch schnell befremdliche Züge annehmen.
In Thüringen wird dieser Tage gesendet, was das Zeug hält: es wird behauptet, angeprangert, vorgeworfen und spekuliert. Und damit häufig auch vorverurteilt.Kaum ein Politikfeld ist sicher vor der Sucht nach medialer Präsenz: fast um jeden Preis! Schon lange ist die moderne Form der Verurteilung die mediale Anschuldigung. Es regiert Königin Konjunktiv, es lebe die rhetorische Eskalation!
Gegenseitige Vorwürfe sind umso beliebter, je mehr sie populär-kritische Themen betreffen. Das schafft Aufmerksamkeit, steigert die Wahrnehmung, häufig auch die von der eigenen Bedeutung, und es ist spielend leicht.Doch Achtung: Die allzu unbedachte Aggression hilft selten dem Aggressor, sondern schadet ihm und dem Land. Wenn Nachrichten zudem keine Substanz, keine Wahrhaftigkeit mehr besitzen, sondern nur noch aus der Reaktion auf eine Reaktion auf eine Reaktion bestehen, so stellt sich die Frage nach unseren Standards, nach Gehalt und Qualität.
Das Prinzip jedenfalls ist einfach: Wer lange und oft genug mit Schmutz beworfen wurde, kann schließlich keine saubere Weste haben. Selbst steht der Beworfene blütenrein in der Manege, im Kopfe des Zuschauers ist er befleckt.Doch die Zeiten, in denen regionales Wortwerk durch Hörfunk, Fernsehen und Zeitungen an den Landesgrenzen verhallte sind vorbei. Das Internet transportiert hiesige Zulänglichkeiten in Echtzeit auf den gesamten Erdball – die Vergleichbarkeit mit der Kultur anderer Regionen eingeschlossen.
So muss sich im Lande niemand fragen, was man sich außerhalb Thüringens öfter fragt: „Was ist denn da bei Euch los?“ Statt über die Erfolge, die Schönheit und die reiche Kultur dieses Landes zu sprechen, entstehen kommunikative Kollateralschäden zu Lasten des Freistaats.
Lieber die schnelle Schlagzeile in der Hand als vernünftiges Licht vom Dach auf das Land. Wer diesen Reflex der Opposition zuschreibt, irrt leider.
So ist es auch im aktuellen Fall der Rücktrittsforderung an den Thüringer Innenminister durch die Abgeordnete Marx. Selten zuvor konstruierte sich eine Nachricht so deutlich fernab der Fakten.Nicht die Substanz des dahinter liegenden Vorgangs rechtfertigt die Aufmerksamkeit, sondern die Lautstärke, die Wortwahl und der weitreichende Forderungsanspruch elektrisieren am nachrichtenarmen Wochenende Medien und Medienmacher. Verständlich, denn die Materie ist viel zu kompliziert, um sie in unserer schnelllebigen Zeit in 15 Fernsehsekunden oder 20 Zeitungszeilen erklären zu können.
Eine smarte Rücktrittsforderung, noch dazu aus der Koalition, ist da schon knackiger. Zumal sie von einer demokratisch gewählten Abgeordneten kommt, die fordern kann, was sie will und der das Licht vom Dach nicht so wichtig ist.
Ist aber ein Landtagsmandat die Lizenz, sich verbal gehen zu lassen, willkürlich Spitzenbeamte zu beleidigen und pauschal Rücktritte zu fordern? Um es klar zu sagen: Fehler müssen benannt, Versäumnisse kritisiert und Unvermögen geahndet werden dürfen – natürlich auch öffentlich. Doch nicht auf Grundlage zweifelhafter Behauptungen oder Verlautbarungen.Dies ist eine Einladung an uns alle: Gewählte, Berufene, Sprechende und Schreibende. Die sonst entstehende mediale Parallelwelt sorgt für Unglaubwürdigkeit, Frust und verschlechtert die Stimmung. Eine der wichtigsten Währungen in der Politik und in unserem Land.
(zu: Handbuch-Kapitel 28 Die meisten Journalisten sind unkritisch)
Bundestagswahl 2013: Es geht los!
Gut ein Jahr vor der Bundestagswahl hat die Thüringer Allgemeine mit ihrer Wahl-Berichterstattung begonnen. Im Editorial schreibt die Redaktion:
Nicht erst in den wenigen Wochen vor der Wahl, wenn die Politiker wild kämpfen, werden die Weichen gestellt. Die Parteien suchen schon heute ihre Kandidaten aus, die FDP in Thüringen hat sie sogar schon gewählt.
Wie suchen Parteien die Direktkandidaten aus? Wer bestimmt die Kandidaten, die auf dem Wahlzettel stehen? Wer kungelt die Listen aus, die zum großen Teil entscheiden, wer in den Bundestag einziehen darf – auch wenn er nicht direkt gewählt wird? Warum bestimmen die Wähler nicht mit, wen sie wählen können?
Die Thüringer Allgemeine berichtete zum Auftakt über die Spekulationen zu Wirtschaftsminister Machnig in Erfurt, der in Berlin zum Schattenkabinett von SPD-Parteichef Gabriel gezählt wird. Auf der dritten Seite, dem Thema des Tages, stellte die Redaktion die 18 Thüringer vor, die zur Zeit im Bundestag sitzen und fragte sie, ob sie wieder kandidieren.
Editorial am 20. August 2012:
Ein Fest der Demokratie
Paul-Josef Raue über den Auftakt der TA-Wahlserie„Die meisten Politiker fürchten sich vor den Wählern.“ So schrieb ein Wahlkampf-Berater vor einem Vierteljahrhundert und stellte weiter fest: „Sie können mit dem Mann auf der Straße nicht umgehen.“
Daran hat sich nicht viel geändert. Politiker und Bürger werden sich fremder, was an beiden liegt: Die Bürger verstehen Politiker und ihre Politik oft nicht, aber sie gefallen sich auch in der Pose des Verächters, der um seine Macht weiß und sich um Politik immer weniger kümmert; die Politiker finden sich zunehmend mit der Verachtung ihres Volks ab und machen ihr Ding, das Politik heißt, aber das sie oft auch nicht mehr verstehen.
Beide eint, in ihren schwächsten Stunden, die Ohnmacht: Der Abgeordnete, wenn er etwa über Milliarden abstimmt; der Bürger, wenn er nicht weiß, wer das alles bezahlen muss.
Wem schwindlig wird, wenn er über die Zukunft Europas und Deutschlands nachdenkt; wer sich sorgt um Wohlstand und Arbeit in einer Welt, die sich schwindlig dreht – der ahnt, dass eine Schicksals-Wahl in Deutschland ansteht. Sie ist wahrscheinlich nur vergleichbar der Volkskammer-Wahl 1990, als sich 16 Millionen in der DDR entscheiden mussten, was aus ihrem Land, aus ihrer Heimat, aus ihrem Leben werden soll.
Im kommenden Jahr geht es nicht um das Ende einer Ideologie, es geht gleich um Europa, das unser Schicksal geworden ist, es geht um Deutschland, dem mächtigsten Land in Europa, es geht um unsere Zukunft.
Es klingt dramatisch, es ist dramatisch.
Doch sind Wahlen keine Dramen, sie sind kein Anlass zum Erschrecken. Wahlen sind das größte Fest in einer Demokratie. Zehn Stunden lang, von der Öffnung bis zur Schließung der Wahllokale, sind die Politiker in der Hand der Bürger, buchstäblich: Wohin ihre Hand das Kreuz zeichnet, das entscheidet, wer die Macht für die nächsten Jahre bekommt.
Gerade weil die nächste Wahl eine Schicksalswahl wird, ist der informierte, der kritische Bürger nicht nur gefragt, er ist notwendig für unser Land. Aus diesem Grund beginnen wir schon ein gutes Jahr vor der Wahl mit unserer Berichterstattung. Das hat einen guten Grund: Nicht erst in den wenigen Wochen vor der Wahl, wenn die Politiker wild kämpfen, werden die Weichen gestellt. Die Parteien suchen schon heute ihre Kandidaten aus, die FDP in Thüringen hat sie sogar schon gewählt.
Wie suchen Parteien die Direktkandidaten aus? Wer bestimmt die Kandidaten, die auf dem Wahlzettel stehen? Wer kungelt die Listen aus, die zum großen Teil entscheiden, wer in den Bundestag einziehen darf – auch wenn er nicht direkt gewählt wird? Warum bestimmen die Wähler nicht mit, wen sie wählen können?
Diese und viele andere Fragen werden wir zu beantworten versuchen. Und wir werden um ihre Fragen, die Fragen der Bürger, bitten. Eine Wahl ist ein Fest der Bürger. Lassen sie uns die Demokratie schmücken, wir tun es für uns.
(zu: Handbuch-Kapitel 55 Der neue Lokaljournalismus + 4 Was Journalisten können sollten + 56 Service und Aktionen)
Was ist ein Teaser?
„Oh, Aufmacher heißen bei Euch Teaser?“, twittert Konrad Rüdiger (@kruediger) zum Online-Chef der Thüringer Allgemeine.
Jan Hollitzer, der TA-Onlinechef, antwortet: „Nicht Aufmacher. Teaser sind die großen Bilder, unsere Schaufenster der #Zeitung.“
Ich habe Verständnis für Rüdiger: Warum ergeben wir uns so schnell den englischen Begriffen? Der Teaser ist ein modernes Initial, eine Bildvorschau, ein Bild-Anreißer, wie ihn die Zeit, die Stuttgarter Zeitung, die TA und andere mehr als Stilmittel auf der Titelseite überm Bruch nutzen.
Im Handbuch kommt Teaser im Lexikon vor (Seite 444) und als eigenes Kapitel im Online-Kapitel 6 „Der Teaser – alte Regeln, neuer Nutzen“.
(zu: Handbuch-Kapitel 6 Der Teaser – alte Regeln, neuer Nutzen + Service: Lexikon)
Amerikaner lieben „bratwurst“ (Friedhof der Wörter)
Vor allem junge Leute, die bei „I love you“ schmelzen, mögen amerikanische Wendungen, für die sich sogar ein eigenes Wort ins Deutsche geschlichen hat: Anglizismen. Auch Werber mögen die amerikanischen Wörter in der deutschen Sprache, wenn sie den „Sale“ ins Schaufenster schreiben oder „Service Point“ in den Bahnhof.
Nicht nur wir Deutsche mögen Wörter aus Amerika, auch Amerikaner mögen deutsche. Etwa anderthalb Millionen Amerikaner sprechen deutsch sogar in der Familie, ein paar hundert deutsche Wörter gehören zum Sprachschatz der Menschen zwischen Boston und Los Angeles.
„Bratwurst“ und „sauerkraut“, „leberwurst, schnitzel“ und „schnapps“ – wenn Amerikaner von Essen und Trinken sprechen, entlehnen sie mit Vorliebe unsere deutschen Wörter. In Alaska und auf Hawaii feiern sie mit bajuwarischer Begeisterung das „oktoberfest“.
Auch Schwermut scheint so typisch deutsch, dass sich „weltschmerz“ und „waldsterben“, „angst“ und „kaputt“ in amerikanischen Zeitungen finden. Und weiter: „plattenbau“ und „kindergarten“ schätzen die Amerikaner so sehr, dass sie keine eigenen Wörter dafür prägen wollten. Die deutsche Sprache ist eine der schönsten Sprachen der Welt, wie uns die Amerikaner beweisen – „zigzag“.
(Thüringer Allgemeine, 20. August 2012)
Leser mögen keine dicken Zeitungen
Nach der Wende wunderten sich westdeutsche Blattmacher, wenn sich ostdeutsche Leser über dicke Zeitungen beschwerten. Sie wollten den Lesern Gutes tun, ihnen statt 8 Seiten, wie meist zu DDR-Zeiten, 32 Seiten bieten oder noch mehr – und das Zeitungsvolk murrte. „Ich habe die Zeitung am Abend noch nicht zu Ende gelesen“, sagten die Leser. Sie sagten auch: „Ich habe sie nicht auslesen können“; das bedeutete: Ich habe keine Auslese getroffen, ich wollte alles lesen, auch weil ich alles bezahlt habe.
Das wächst sich aus, sagten die Blattmacher, die ihr westdeutsches Publikum zu kennen glaubten. Doch es wächst sich nicht aus. Als die Thüringer Allgemeine im vergangenen Jahr die Blattstruktur änderte und wenig gelesene Seiten, wie etwa „Medien“, durch starke Seiten, wie „Thüringen“, ersetzte, da hörten die Redakteure in den Leserkonferenzen: „Die Zeitung ist dicker geworden. Wir können sie nicht an einem Tag auslesen.“
Dabei war der Umfang der Zeitung geschrumpft, aber die Zahl der lesenswerten Artikel und Seiten gestiegen – und somit offenbar die Lesedauer. Wir gefallen den Lesern nicht, wenn wir möglichst viel anbieten; wir gefallen ihnen, wenn wir so viel Gutes anbieten, dass sie in der Zeit verkraften können, die sie dem Lesen einräumen.
Die Zeit zum Lesen ist bei den meisten Zeitungslesern die Zeit am frühen Morgen. Wer bei Leserkonferenzen genau hinhört, lernt Demut: Die Menschen opfern für die Zeitungslektüre eine halbe Stunde ihres Schlafs – zu einer Zeit, in der sich Redakteure noch einmal umdrehen. Sie wollen in dieser halben Stunde das Wichtigste lesen und es nicht suchen. Dies gilt zumindest für Menschen ab 40 oder 50.
Die meisten Jungen haben allerdings einen anderen Rhythmus und ein anderes Leseverhalten; aber auch sie, die eilige Generation, will schnell das Wichtigste finden, zumal die meistgeklickten Internet-Seiten auch so gestaltet sind: Das Wichtigste steht oben und ist schnell zu lesen.
Auch westdeutsche Leser beginnen, sich nach schmaleren Zeitungen zu sehnen. Zwar sind die Zeitungen auch zwischen Kiel und Konstanz dünner geworden, aber dies liegt an Aldi & Co, die weniger Anzeigen buchen; der redaktionelle Umfang ist eher gleich geblieben oder sogar gestiegen. Dies ist sinnvoll im Lokalteil, der – wenn sinnvoll gegliedert – stark bleiben oder stark werden muss; dies ist weniger sinnvoll bei Seiten, auf denen Informationen stehen, die unsere Leser schon kennen oder leicht aus anderen Massenmedien wie Magazinen, Hörfunk oder Fernsehen bekommen (und in der Regel schon kennen).
Oft können sich Redaktionen nicht entscheiden: Die Kennen des guten Weins sind unzufrieden, also gibt es eine wöchentliche Wein-Seite; die Seniorenbeauftragte der Landesregierung fordert eine Seite für die Senioren usw. Das muss nicht falsch sein; es ist sogar richtig, wenn sich lokale oder regionale Informationen auf den Seiten finden oder wenn sich neue Anzeigen auf diesen Seiten sammeln. Aber in den meisten Fällen blähen diese Spezialseiten die Zeitung auf, machen sie unübersichtlich – und sorgen endgültig dann für Ärger in einer kleinen, aber lauten Gruppe, wenn die Seiten wieder eingestellt werden.
Je mehr Informationen auf die Menschen niedergehen, um so aggressiver werden sie. Die FAS schreibt in ihrer aktuellen Ausgabe (3. August 2012) auf der Seite „Geld & Mehr“ (!) über das „Dickicht der Informationen“ und stellt fest: „Die Kraft liegt gerade in der Reduktion.“
Das falsche Maß an Informationen haben auch schon Rudolf Augstein und Neil Postman festgestellt. Tillmann Neuscheler zitiert sie in seinem FAS-Artikel:
- Die Zahl derer, die durch zu viele Informationen nicht mehr informiert sind, wächst. (Rudolf Augstein)
- Unser Immunsystem gegen Informationen funktioniert nicht mehr. Wir leiden unter einer Art von kulturellem Aids. (Neil Postman)
„Information Bias“ nennen Wissenschaftler das Übermaß an Informationen und die daraus resultierende Sammelwut, die nicht selten zur Desinformation führt. In einem Info-Kasten erklärt Tillmann Neuscheler in der FAS die „Information Bias“ so:
Wir lassen uns von der leichten Verfügbarkeit von Informationen dazu verleiten, immer weitere neue Fakten zu recherchieren. Dabei nutzen wir schon vorhandene Informationen gar nicht mehr richtig aus.
Die Wirkung: Wir sammeln Informationen, ohne sie kognitiv richtig verarbeiten zu können. Und fühlen uns in der Informationsflut verloren.
Die Abhilfe: Schwierig! Man sollte sich beim Informieren über seine Ziele im Klaren sein. Oft genügt es, vorhandene Informationen richtig zu nutzen. Nicht die Menge, sondern die gute Analyse macht den Unterschied.
Zumindest die „Abhilfe“ sollten gute Blattmacher leisten.
(zu: Handbuch-Kapitel 22 „Warum alles Informieren so schwierig ist“ + 53 „Was die Leser wollen“ + 5 „Die Internet-Revolution“)
Wir stellen den Journalismus vom Kopf auf die Füße (dapd-Interview 3)
Wie versuchen Sie, Ihrer Thüringer Allgemeinen die Zukunft zu sichern?
fragt dapd-Redakteur Ulrich Meyer in einem Interview, das die Nachrichtenagentur am 3. August in ihrem Dienst veröffentlicht hat. Raue antwortet:
Wir verlassen die Wolke, von der wir auf unsere Leser hinabschauten. Wir klettern die wacklige Leiter hinunter, um wieder Boden unter den Füßen zu bekommen. Wir stellen den Journalismus vom Kopf auf die Füße – ohne dabei kopflos zu werden. Wir schreiben für Menschen, mit denen wir zusammen leben, deren Bedürfnisse wir kennen.
Wer sein Leben und den Alltag ohne Arroganz mit seinen Lesern teilt, der schreibt ihnen nicht mehr vor, was sie zu denken haben. Der Hochmut wäre in der Tat unser Untergang.
Die Bedürfnisse der Leser ernst zu nehmen, bedeutet für uns Journalisten: Haltet die Gemeinschaft lebendig! Haltet sie zusammen – mit Vereinsberichten, Service und tiefen Recherchen! Es bedeutet nicht, um jeden Preis populistisch zu werden, also der vermuteten Mehrheit hinterher zu hecheln.
Wir ermuntern zur Debatte, wir fördern sie. Doch Debatten entstehen nur, wenn Minderheiten und Querdenker zu Wort kommen und auch Redakteure nicht nur mit dem Strom schwimmen. Leser mögen Debatten, mögen Querdenker – auch wenn sie gerne zetern: Warum steht das in meiner Zeitung? Aber sie lesen es und streiten.
(zu: Handbuch-Kapitel 53 „Was die Leser wollen“)
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