Der kategorische Imperativ der Mediengesellschaft: „Was ist, wenn es rauskommt?“

Geschrieben am 6. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Ein guter Reporter recherchiert nicht, um einen Mächtigen zum Rücktritt zu zwingen oder ins Gefängnis zu bringen. Auch wenn eine Portion Jagdfieber dabei sein sollte: Ein guter Reporter kontrolliert die Macht und schaut genau hin, wo und wie sich die Mächtigen um jeden Preis – oder fast jeden Preis – die Macht sichern.

Ein Gerichtsverfahren oder gar einen Rücktritt können die Leitartikler fordern. Nicht von ungefähr ist im angelsächsischen Journalismus klar unterschieden: Recherche ist die Sache der Reporter, der Kommentar und die Linie des Blattes ist Sache der Editoren, die in den klimatisierten Etagen der Zentrale sitzen.

Der Rücktritt eines Regierungschefs ist Sache des Parlaments oder des Präsidenten oder – wie in Island in Folge der Panama-Papers – Sache des Volks, das auf die Straße geht. Ein solcher Rücktritt ist sozusagen der Kollateralschaden einer Recherche.

Bodo Hombach (Porträt von seiner Homepage)

Bodo Hombach (Porträt von seiner Homepage)

Ziel einer Recherche ist durchaus, die Mächtigen zu warnen und  gar in Furcht vor dem Herrn zu halten, dem Volk also und seinen recherchierenden Treuhändern, den Journalisten. Im Handbuch des Journalismus* loben wir den Willen zur Wahrhaftigkeit bei Journalisten wie Politikern und zitieren Bodo Hombach, der Politiker war, dann Verleger der WAZ und heute zweifacher Honorarprofessor: Er deutete Kants kategorischen Imperativ „Was ist, wenn es alle tun?“ um in den kategorischen Imperativ der Mediengesellschaft: „Was ist, wenn es rauskommt?“

An diesen kategorischen Imperativ haben die Panama-Papers die Mächtigen wieder erinnert – übrigens nicht nur die in westlichen Ländern, sondern auch die Diktatoren und Kriegsherren dieser Welt.

Zudem sind die Panama-Papers eine Antwort auf die „Lügenpresse“-Prediger und –Anhänger.

*Das neue Handbuch des Journalismus und des Online-Journalismus, Seite 293 (Rowohlt 2016)

Ohne tiefe Recherche keine Demokratie und keine Kontrolle der Macht (Journalismus der Zukunft – 9)

Geschrieben am 6. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Journalisten stürzten im Watergate-Skandal den US-Präsidenten, und sie deckten den systematischen Missbrauch von Kindern durch katholische Priester auf. Diese  Recherchen schrieben das Drehbuch für zwei Filme, die mehrere Oscars gewannen:

„Die Unbestechlichen“ (All the president’s men) und jüngst „Spotlight“ über das Reporter-Team des Boston Globe. Die beiden Filme sind ein Plädoyer für die tiefe und professionelle Recherche. Nur wenn Journalisten und Verleger mit Leidenschaft und Geld  die Recherche weiter fördern, wird unsere Demokratie lebendig bleiben; nur so  wird die Kontrolle der Mächtigen weiter funktionieren. Darum geht es im neunten Teil der Kress-Reihe „Journalismus der Zukunft“.

„Spotlight“ zeigt eindrucksvoll die Schwierigkeiten der Recherche im Lokaljournalismus zwischen Nähe und Distanz. In einer Schlüsselszene des Films treffen sich „Spotlight“-Chef Robinson und ein Freund, der den Kardinal berät. Dieser appelliert an den Reporter: „Das ist doch unsere Stadt. Hier leben Menschen, die die Kirche brauchen und deren Vertrauen zerstört wird. Und diese Priester sind doch nur Einzelfälle, wenige faule Äpfel.“

Dieses Gemeinschafts-Gefühl „Wir Kinder dieser Stadt müssen doch zusammenhalten“ schließt den Fremden aus und argumentiert mit dem Wohl der Stadt: Doch die Mächtigen verwechseln – nicht nur in Boston – bisweilen ihr eigenes Wohl, also Wiederwahl und Ruhm, mit dem Wohl der Stadt. Das Wohl der Stadt ist das Wohl der Bürger, die alles Wichtige wissen müssen.

Eine gute Lokalredaktion braucht  beide: Den Fremden mit seiner Distanz und  den Einheimischen, der die Stadt und ihre Menschen kennt, der Kontakte hat und sie zu nutzen weiß (oder auch nicht). Beide zusammen sind unschlagbar.

 

 

 

 

Das neue Gold des Journalismus: Vier Erkenntnisse aus den Panama-Paper-Recherchen

Geschrieben am 5. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Die Zeit des einsamen Reporters ist vorbei. Das ist eine der Erkenntnisse, die wir aus den Panama-Papers ziehen können. Teams werden den Einzelkämpfer ablösen, denn 2,6 Terabyte an Daten und über 11 Millionen Dokumente – wie bei den Panama-Papers – zwingen zur Zusammenarbeit, auch wenn dies den meisten Journalisten noch schwerfällt. Die Zusammenarbeit ist schon in einer Redaktion bisweilen schwer;  erst recht kompliziert wird sie, wenn sie mit mehreren Redaktionen erfolgt, die man lange als Konkurrenten gesehen und vielleicht sogar bekämpft hat.

Lange Zeit waren aufwändige Recherchen eine Domäne der Magazine – allen voran der Spiegel -, die allein über die Kapazität verfügten. Eine Tageszeitung, die Süddeutsche Zeitung,  ist dabei, bei den investigativen Recherchen den Spiegel zu überholen. Die entscheidenden Köpfe in der SZ hat der Spiegel ziehen lassen: Chefredakteur Kurt Kister (falsch – siehe Kommentar unten), Chef-Rechercheur Hans Leyendecker und Georg Mascolo, der den Rechercheverbund mit NDR und WDR leitet.

Wie wird der Spiegel reagieren, falls er seine internen Querelen mal erledigen kann? Oder Stefan Aust, auch Ex-Spiegel-Chefredakteur, bei Springers  Welt? Mit wem werden sie kooperieren? Wie werden sich die großen regionalen Zeitungen organisieren, wenn sie die große Recherche auch für sich entdecken und  Kooperation nicht nur als Synergie-Effekt sehen? Recherche kostet aber Geld.

„Daten sind das Gold des Journalismus“ schreiben Frederik Obermaier und Bastian Obermayer, die SZ-Reporter, euphorisch; doch einer ist überfordert, in den Daten das Gold zu entdecken:  11 Millionen Dokumente – dafür reichte nicht einmal ein Reporterleben! Also bleibt nur die Zusammenarbeit.

Nicht die Mönchszelle ist noch das Vorbild für Journalisten, das kleine Ein-Raum-Büro,  sondern der Newsroom, in dem Kommunikation mehr ist als ein Modewort. Das ist die zweite Erkenntnis aus den Panama-Papers. Dazu kommt ein virtueller Newsroom: Journalisten, Hunderte und Tausende von Kilometern entfernt, arbeiten in einer Wolke, in der alle Daten, Fragen und Antworten, Artikel und Entwürfe  stecken.

Die dritte Erkenntnis: Techniker müssen zum Team gehören. Dateien gibt es in unterschiedlichen Formaten, die lesbar gemacht werden müssen, vor allem wenn es Daten gibt, die ein halbes Jahrhundert alt sind. Techniker müssen zudem den Dialog der Reporter sicher machen: Robuste Computer-Verbindungen, sicher gegen Hacker und Abhör-Spezialisten.  Zwar gibt es in der SZ-Redaktion mittlerweile einen Tresor und mit Nummerncodes gesicherte Zimmer, aber sichere Leitungen sind noch wichtiger.

Die vierte Erkenntnis: Die Goldsucher brauchen die alte Moral in den neuen Daten-Minen. Wolfgang Krach, einer der beiden SZ-Chefredakteure,  hat sie am ersten Tag der Panama-Papers im Leitartikel formuliert:

Die Frage ist nicht ausschlaggebend, ob die Daten rechtmäßig in den Besitz der Enthüller gekommen sind und ob  Medien sie veröffentlichen dürfen. „Entscheidend sind zwei andere Kriterien: Kann man der Quelle trauen? Und: Gibt es ein berechtigtes allgemeines Interesse.“

Bei aller Euphorie über diese historische Stunde des Journalismus: Der Reporter mit seinem Spürsinn und seiner Hartnäckigkeit wird nicht verschwinden, erst recht nicht in kleinen Lokal- und Regionalredaktionen. Auch die Panama-Papers beginnen mit dem Spürsinn und der Hartnäckigkeit eines SZ-Reporters, der einen Anruf bekommt: „Hallo, ich bin John Doe. Interessiert an Daten? Ich teile gerne“.

Der Rest wird irgendwann ein Film werden, vielleicht sogar mit Oscar-Ambitionen.

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Quellen:

SZ vom 4. April und NDR-Zapp „Die Geschichte der Panama Papers“

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Zur Veröffentlichung dieses Blogs in Newsroom schrieb  ein Journalist diese Mail:

PJR irrt, wenn er sagt, der Spiegel habe die entscheidenden Leute ziehen lassen.
Leyendecker kam vom Spiegel, stimmt, Kilz hatte das eingefädelt, auch er zuvor beim Spiegel, musste dort gehen, beide dann im Gespann bei der SZ; Leyendeckers Geschichte aus Bad Kleinen ist bis heute unbewiesen, (s)ein eigenwilliges Solitär, sie war mit entscheidend für den Wechsel.
Georg Mascolo – desgleichen, in Hamburg geschasst.
CR Kister ist ein SZ-Eigengewächs, kommt aus der Lokalredaktion Dachau.
Und was haben Bastian Obermayer und Frederik Obermaier mit dem Spiegel gemein? Nichts. Aber sie sind die treibenden Kräfte bei den panamapapers.
Und ungeklärt ist und wird wohl bleiben: wer ist die dieser John Doe?

Meine Antwort:

Er hat in einem Recht. Die Namen klingen ähnlich, beide waren oder sind Chefredakteure der SZ, aber nur einer kam vom Spiegel:

Kurt Kister ist in der Tat ein SZ-Eigengewächs, der nie verleugnet hat, dass er in einer Lokalredaktion zu einem exzellenten Journalisten wurde. Kister folgte auf Hans-Werner Kilz als Chefredakteur der SZ. Kister dürfte einer der besten Journalisten in Deutschland sein; zudem hat er  den Wert der tiefen Recherche erkannt und Hans Leyendecker – trotz Bad Kleinen – vom Solitär zum Ressortleiter befördert. Es ist nicht nur geglückt, sondern zum Glücksfall für die SZ und unsere Demokratie geworden – nicht erst mit den Panama-Papers.

Hans-Werner Kilz war Chefredakteur des Spiegel. Als Chefredakteur des Spiegel entlassen zu werden, gilt nicht als ehrenrührig, mittlerweile gilt es nahezu als Gütesiegel. In der SZ hatte Kilz auf jeden Fall in schweren Jahren sehr heilsam gewirkt.

Dass Reporter oft eigenwillige Solitäre sind, das stimmt. Wer gute Journalisten haben will, muss das ertragen. Immerhin hat Leyendecker, eigenwillig oder nicht, ein Investigativ-Ressort bei der SZ geschaffen, das führend ist in Deutschland; eines von dieser Qualität würde dem Spiegel gut tun. Dass Bad Kleinen eine bittere Niederlage für Leyendecker war, dürfte er selber wissen; dass er offenbar daraus gelernt hat, ehrt ihn.

Die beiden Obermaiers, der eine mit i, der andere mit y, haben nicht beim Spiegel, sondern in Leyendeckers Ressort genau die Basis gefunden, die Reporter für eine tiefe und professionelle Recherche brauchen.

Die Wandlung von Deutschlands First Lady: Von kritischer Journalistin zu weltfreundlicher Frau (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 2. April 2016 von Paul-Josef Raue.

Daniela Schadt, Lebensgefährtin unseres Bundespräsidenten, war in ihrem Leben vor dem Schloss Bellevue eine hochrangige Journalistin – die in ihren Artikeln vor Multikulti warnte. Heute geht sie damit kritisch um: „Als Politikredakteurin ist man meist mit dem beschäftigt, was falsch läuft im Land.“

Die Menschen in Deutschland, die „solidarische Gesellschaft“, haben sie verändert, sagt sie in einem Interview. „Ich bin weltfreundlicher geworden.“  Ein schönes Wort: Weltfreundlich.

Wir nennen gute Menschen „weltoffen“; wenn sie sogar den Müll trennen „umweltfreundlich“. „Weltfreundlich“ ist selten. Thomas Mann schreibt es in seinem Josephs-Romanen, in denen er seine Leser in die Götterwelt Ägyptens führt:

Die Priester, die Thomas Mann „triefäugig“ nennt, hatten ihre Probleme mit all den vielen Göttern. Den Ausweg, den das kleine Volk der Juden finden sollte, entdeckten sie noch nicht: Ein Gott statt der vielen.

Aber die wichtigsten Götter in einen Gott zu stecken, kam ihnen schon in den Sinn. So begann vor viertausend Jahren die  Verehrung von Amun-Re, eine Art Komplett-Gott, aus dreien zusammengesetzt und für das Wichtigste zuständig: Die Sonne, den Wind und die Fruchtbarkeit. In ihm war alles drin, was die Bewohner im Tal des Nils für ihr Leben brauchten.

Jeder Tourist, der über den Nil kreuzfährt, besucht den größten Tempel Ägyptens, den des Amun-Re in Karnak, eine halbe Fußstunde von Luxor entfernt: Er besitzt allein zehn Pylone, also Eingänge, deren größter so hoch ist wie ein Fußballfeld lang.

Amun-Re, den König der Götter,  nennt Thomas Mann in seinem Josephs-Roman „starr und streng, unhold dem Ausland und unbeweglich“, also ein Fremdenfeind. Atum allerdings, der Uralte, Amuns Vorgänger, war das Gegenteil: „So ausländisch angehaucht, beweglich und weltfreundlich-allgemein von Neigung.“

Daniela Schadt hätte sich in alter Zeit von einer Priesterin des Gottes Amun zu einer des  Atum bekehrt. Weltfreundlich eben.

Der Duden sollte das Wort aufnehmen, direkt hinter „weltfremd“.

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Quellen:

Wie sollen Journalisten mit Verschwörungs-Theorien umgehen? (Die Zukunft des Journalismus)

Geschrieben am 30. März 2016 von Paul-Josef Raue.

Sind Menschen, die von der „Lügenpresse“ sprechen, für Journalisten überhaupt noch zu erreichen? Ja, abgesehen von den Unbelehrbaren, den Hasspredigern und Aufwieglern und ihren treuesten Anhängern. Wir müssen mit ihnen sprechen, sie ernst nehmen – und auf ihre Verschwörungstheorien eingehen, die sie so faszinieren.

Aber Vorsicht! Wer Verschwörungen ausführlich Raum gibt, macht sie glaubhaft – auch wenn er sie gleich widerlegt; das fanden Sozialpsychologen heraus.Wie entkommt ein Journalist dieser Falle? Der Wissenschaftsredakteur Sebastian Herrmann gibt Tipps in einem Leitartikel der Süddeutschen Zeiung; er rät dazu: Statt Verschwörungen detailliert zu erzählen, so dass sie sich einprägen, ist es besser, die falsche Geschichte mit einer neuen Geschichte zu überschreiben und zu recherchieren:

  • Wer erzählt die Geschichte?
  • Warum erzählt er sie? Was sind seine Motive?
  • Wie ist die Geschichte entstanden? Welche giftigen Quellen gibt es?
  • Wer profitiert von der Verbreitung?

Um die Kunst der Unterscheidung, wer von dem „Lügenpresse“-Vorwurf angezogen wird, und von der Macht der Gerüchte und um Verschwörungen geht es in der achten Folge der Kress-Reihe „Journalismus der Zukunft“.

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Quelle: Süddeutsche Zeitung 29. Januar 2016, Seite 4

Schreiben, was ist: War Germanwings-Absturz ein Verbrechen, der Kopilot ein Massenmörder?

Geschrieben am 28. März 2016 von Paul-Josef Raue.

Nur wer so zureichend wie möglich beschreibt, was ist, macht seinen Job als Journalist.

Michael Hanfeld, stellvertretender Leiter des FA-Feuilletons, reagiert so auf Journalisten, die zum Jahrestag des German-Wings-Absturzes weder die Krankheit des Piloten noch den Namen veröffentlichen wollten; sie führten als Begründung die Stigmatisierung von Depressiven und  von Angehörigen an. Hanfeld zählt zu den radikalen Verfechtern einer möglichst uneingeschränkten Weitergabe von Informationen, die als wahr recherchiert wurden. Wenn sich die Presse Einschränkungen unterwirft, verfehlt sie laut Hanfeld ihren Daseinszweck.

So will Hanfeld nicht von einem „Unglück“ in den französischen Alpen sprechen, sondern von einem Verbrechen  und vom Kopiloten  Andreas Lubitz als Massenmörder.

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Quelle: FAZ, 26. März 2016, Medien-Seite 16

 

 

 

 

Luther und der Anfang: „Das Wort ist unser Traum und der Traum ist unser Leben“(Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 27. März 2016 von Paul-Josef Raue.
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Luther hatte es leicht, bei allem Genie, der deutschen Sprache eine Seele zu geben: Er fand ein Geschichtenbuch vor, das einmalig ist in seiner Fülle, seiner Dramatik und seines Wissens um den Menschen, seiner Würde und seiner Verschlagenheit, seiner Güte und seiner Verdorbenheit.

Auch nach Luther versammelten sich immer wieder Dichter um die Bibel und ließen sich von dem Buch inspirieren, das sie das „Buch der Bücher“ nannten  – wobei dies Synonym nur andeutet, dass die Bibel aus vielen Büchern zusammengesetzt ist.

Selbst Dichter, die mit Gott nichts anfangen konnten, nahmen die Bibel zum Vorbild. Als Bertolt Brecht, der Atheist, nach seinem Lieblingsbuch gefragt wurde, antwortete er: „Sie werden lachen – die Bibel.“

Auch Religionen, die nicht an einen Gott glauben, fasziniert die Bibel.  Mahatma Gandhi, der ein Hindu war, staunte:  „Ihr Christen habt in eurer Obhut ein Dokument mit genug Dynamit in sich, die gesamte Zivilisation in Stücke zu blasen.“

Die in der Bukowina geborene Dichterin Rose Ausländer nutzte Luthers Übersetzung des Johannes-Evangeliums für eine Hymne an das Wort. Luther hatte den ersten Satz des Evangeliums übersetzt: „Im Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott.“

Im griechischen Original steht „arche“, was man „in alter Zeit“ übertragen könnte; das Wort ist heute noch in unserem „Archäologie“ aufgehoben. Die Übersetzer vor Luther schrieben „Im Beginn war das Wort“; auch in anderen Übersetzungen wie in der niederländischen oder schwedischen Bibel steht der „Beginn“.

„Beginn“ klingt nüchterner im Vergleich zu Luthers „Anfang“. Die Brüder Grimm schreiben denn auch in ihrem Wörterbuch, die „sinnliche Vorstellung“ der beiden Wörter sei verschieden – und loben den „Anfang“.

Rose Ausländer schreibt in ihrem Gedicht „Und Gott gab uns das Wort“. Sie könnte auch schreiben, sich vor dem Schöpfer des deutschen Worts verneigend: „Und Luther gab uns das Wort“, und fortfahren:

„Und wir wohnen im Wort. Und das Wort ist unser Traum und der Traum ist unser Leben.“

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter (Kolumne), 29. März 2016

 

 

„Spotlight“-Reporter: Journalisten wollen die Welt verbessern, wenigstens ein bisschen

Geschrieben am 26. März 2016 von Paul-Josef Raue.
"Spotlight" gewann 2016 den Oskar für den besten Film. Foto: Paramount Pictures Germany

„Spotlight“ gewann 2016 den Oskar für den besten Film. Foto: Paramount Pictures Germany

Journalisten in Zeitungs-Redaktionen erwarten nicht, reich zu werden. Keiner wird Journalist, um Geld zu machen – das ist kein Job dafür. Es ist ein Job für Leute, die eine herausfordernde und faszinierende Arbeit mögen. Und viele dieser Leute wollen die Welt verändern, damit sie besser wird, wenigstens ein bisschen.

Das sagte Matt Carroll einer jungen Journalistik-Studentin, die angesichts des Chaos in den Zeitungen, der Entlassungen und Synergien, fragte: Kann ich von dem, was ein Reporter verdient, überhaupt leben?

Matt Carroll war einer der Reporter, der den Missbrauch-Skandal in Boston aufdeckte; er ist in dem Oscar gekrönten Journalisten-Film „Spotlight“ der Mann – gespielt von Brian d’Arcy James – , der das Porträt eines Priesters an den Kühlschrank heftet, um seine Kinder zu warnen. 26 Jahre lang war er Reporter beim Boston Globe; heute arbeitet er für „Die Zukunft der Nachrichten“ beim MIT Media Lab und schreibt seinen Blog “3 to read”.

 

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Quelle:

View story at Medium.com

 

 

Wovon Journalisten lernen können: Der Bundespräsident als Geschichten-Erzähler

Geschrieben am 25. März 2016 von Paul-Josef Raue.

Journalisten wissen, dass ihre Leser bei den Geschichten hängenbleiben: Erzählen, erzählen, erzählen! Journalisten sollten Geschichten-Erzähler sein – aber im Vergleich mit den Literaten nur die wirklichen Geschichten erzählen, am besten die, die sie selber erlebt haben.

Bundespräsident Joachim Gauck (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Bundespräsident Joachim Gauck (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Bundespräsident Joachm Gauck, sonst eher fürs Belehrende und die Moral zuständig, hat ein Beispiel für die Kraft von Geschichten gegeben und sich als Geschichten-Erzähler beliebt gemacht bei seinem schwierigen Besuch in China: Ich erzähle meine Geschichte und die Geschichte meines Landes. Ein Diplomat ist, wer Geschichten und Geschichte erzählen kann statt Vorwürfe zu machen und den anderen bloß zu stellen.

Gauck erzählte seine Geschichten aus der untergegangenen DDR, in der er Pfarrer war,  und erzählte die Geschichte der Vereinigung zweier ungleicher Gesellschaften, er erzählte Geschichten vom Unrecht und vom Recht, er erzählte von Menschen und ihren Erfahrungen und stellte sie neben – und nicht über – die Erfahrungen der Menschen in China.

Ich komme aus einem Land zu Ihnen, das vielerlei Erfahrungen gesammelt hat mit Neuanfang, Transformation und Anpassung. Aus einem Land, das vor mancherlei Problem gestanden hat, mit dem sich auch China auseinandersetzen muss. Deutschland hat einen besonderen, einen vor allem selbstverschuldet schwierigen Weg hinter sich. Nach zwei Gewaltherrschaften und insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, in dem es gegen die Gebote der Menschlichkeit verstoßen und schrecklichste Menschheitsverbrechen begangen hat, ist es schließlich – zuerst im Westen, 1990 dann in Gänze – zu einem anderen Land geworden. Einem Land, in dem alle staatliche Gewalt einem obersten Grundwert verpflichtet ist: der Würde des Menschen. So möchte ich Ihnen etwas von meinem Land, von seiner Geschichte und ein wenig auch von meinem Leben berichten. Diese Erfahrungen dränge ich niemandem auf – nicht Ihnen und nicht Ihren Landsleuten. Sie sind ein Angebot besser zu verstehen, was mich, aber auch die deutsche Gesellschaft leitet.

Das ist die Geste, die den anderen nicht in die Ecke stellt, sondern zum Mitdenken auffordert: Meine Erfahrungen drängen ich niemandem auf, sie sind ein Angebot – erst recht wenn ich auch von den Misserfolgen erzähle.

Nicht nur über deutsche Erfolge kann ich Ihnen berichten. Ich habe auch erlebt, was einer Gesellschaft fehlen kann. Mehr als vier Jahrzehnte lang habe ich – als Kind, als Jugendlicher, als Erwachsener – in der DDR gelebt, jenem Staat, dessen Propaganda ihn als den „besseren“ der beiden deutschen Staaten anpries. Doch das war er nicht. Es war ein Staat, der als Teil des kommunistischen Staatenverbundes und abhängig von der Sowjetunion sein eigenes Volk entmündigte, einsperrte und jene demütigte, die sich dem Willen der Führung widersetzen.

Dieser Staat sollte als „Diktatur des Proletariats“ den Interessen der Mehrheit der Bevölkerung dienen, der Ausbeutung ein Ende setzen, der Entfremdung der Menschen wehren und so ein Zeitalter des Glücks und der Zufriedenheit eröffnen. Das Problem dieser Zeit aber war, dass die Mehrheit der Menschen weder beglückt noch befreit war. Und dem ganzen System fehlte eine tatsächliche Legitimation. Eine Wahl durch die Bevölkerung, die frei, gleich und geheim war, gab es nicht. Die Folge war ein Glaubwürdigkeitsdefizit, verbunden mit einer Kultur des Misstrauens zwischen Regierten und Regierenden.

Wer so spricht, ist kein Richter, kein arroganter Moralist: Er spricht von sich und meint den anderen. Am Ende seiner Rede vor Studenten der Shanghai-Universität kommt dann doch der Pfarrer durch, der sich nicht sicher ist, ob alle Zuhörer die Lehre aus dem Erzählten ziehen. Also doziert er für seine Gemeinde vom Nutzen der Geschichten fürs Leben:

Dass sich alle Institutionen des Staates, alle Parteien und Personen der Herrschaft des Rechts beugen, ist zu einem unverzichtbaren Leitgedanken der deutschen Demokratie geworden. Er begleitet, lenkt und begrenzt die Macht der Regierenden.

Es ist ein schöner Satz, auch für Journalisten – und nicht nur formuliert fürs Poesiealbum der Volontäre: Er fasst das, was Demokratie ist, schnörkellos in knapp drei Dutzend Wörtern zusammen. Auf den Internet-Seiten des Bundespräsidenten, die alle Reden versammeln, fehlt dieser Satz. Er stand wohl nicht im Manuskript; Constanze von Bullion hat genau zugehört und ihn für die Leser der Süddeutschen Zeitung notiert.

Constanze von Bullion nennt Gaucks Erzähl-Strategie einen Trick. Es ist Diplomatie und Respekt vor den Menschen.
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Quellen: Reden des Bundespräsidenten (http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Joachim-Gauck/Reden/2016/03/160323-China-Universitaet.html – Stand 25. März, 11 Uhr) und Süddeutsche Zeitung, 24. März „Eine Rede, zwei Interpretationen“

Bürger misstrauen Journalisten schon immer: Die Krise ist nicht neu (Serie „Journalismus der Zukunft“)

Geschrieben am 24. März 2016 von Paul-Josef Raue.
Paul-Josef Raue (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Paul-Josef Raue (Zeichnung: Anke Krakow / TBM)

Haben die Deutschen ihr Vertrauen in die Medien verloren? Ja, aber dies ist schon seit Jahrzehnten so, und es ist typisch für den skeptischen Bürger in einer Demokratie. Um die von den Medien selbst hochgespielte Vertrauenskrise geht es im siebten Teil meiner Kress-Serie Journalismus der Zukunft“. Der Münchner Kommunikations-Professor Carsten Reinemann meint, Journalisten könnten nicht mit Zahlen umgehen, und stellt nach seinen Recherchen fest:

Zumindest bis Ende 2014 hat sich das Medienvertrauen großer Teile der Bevölkerung gar nicht dramatisch verändert. Auch die im Jahr 2015 erhobenen Daten lassen diesen Schluss nicht zu.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommen Professor Kim Otto und Andreas Köhler von der Universität Würzburg, die Umfragen des Eurobarometers auswerten, die von der EU jährlich in Auftrag gegeben werden:

Von einer neuen generellen Vertrauenskrise in die Medien in Deutschland kann angesichts der Langzeitdaten nicht gesprochen werden. Insofern kann die gegenwärtige gesellschaftliche Diskussion über die Arbeit der Journalisten schon fast als hysterisch bezeichnet werden, und es wäre ratsam, Dampf aus der Debatte zu nehmen.

Wer sich in der politischen Mitte verortet, vertraut den Medien im Gegensatz zu denen, die sich politisch extrem einstufen, also weit rechts oder links. „Dass dieser Personenkreis von ,Lügenpresse‘ spricht, ist ein weit bekanntes Muster“, meinen die Wissenschaftlicher.

Umfragen zeigen, dass mehr als jeder fünfte befragte Pegida-Anhänger deutliche Kritik an der Arbeit von Journalisten übt. Dabei steht insbesondere der Vorwurf der Tendenzberichterstattung im Raume.

Auch wer seine wirtschaftliche Lage als schlecht einstuft, misstraut eher den Massenmedien. So fehlt der Mehrheit der Ostdeutschen das Vertrauen im Gegensatz zu den Westdeutschen: 58 Prozent misstrauen im Osten, nur 47 Prozent im Westen. Professor Otto:

Die Menschen in Ostdeutschland sind bekanntlich mit dem Funktionieren der Demokratie grundsätzlich unzufriedener als die Menschen in Westdeutschland. Auch das Institutionenvertrauen ist geringer.

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Die Links:

http://kress.de/news/detail/beitrag/134417-zahlen-und-fakten-zur-vertrauenskrise-der-medien-was-kommt-nach-der-luegenpresse.html

http://de.ejo-online.eu/qualitaet-ethik/medienvertrauen-auf-dem-tiefpunkt

 

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