Wie organisiert sich eine Redaktion am besten? (Serie 6: Die Zukunft des Journalismus)

Joachim Braun, Chefredakteur der Frankfurter Neuen Presse, fotografiert auf Facebook die „Flure“ in seiner neuen Redaktion serienweise
Ein Blick zurück und in andere Länder lohnt: In den dreißiger Jahren flogen Brieftauben die Filmrollen in die Redaktion; in den angelsächsischen Ländern rund um den Globus gab und gibt es schon immer die klare Trennung von Recherche und Redigieren, Reportern und Blattmachern; in Deutschland gingen Journalisten nach dem Krieg einen Sonderweg, auf dem der Redaktroniker, vornehmlich in Lokalredaktionen, heimisch wurde. Der deutsche Redakteur arbeitete in seiner Denkerstube, in die er über lange Flure kam: Man sah sich nur in den langen Konferenzen.
Weil sich immer mehr Leser im Internet informieren, scheint sich auch bei uns der gemeinsame Zeitungs- und Online-Desk, der angelsächsisch geprägte Newsdesk, durchzusetzen.
Damit lösen Chefredakteure viele Probleme, aber schaffen neue: Die Zeitungsredakteure übernehmen schnell wieder das Kommando, so dass Online weiter Stiefkind bleibt inklusive der sozialen Netzwerke.
Zudem geht es in dieser Folge über die Zukunft des Journalismus auch über die Zukunft der Demokratie: Wer kontrolliert noch den Landrat, erst recht die Bürgermeister in den kleinen Gemeinden, wenn eine ausreichend große Lokalredaktion nicht mehr zu finanzieren ist?
Kleine und mittlere Zeitungen in der Provinz, so sie noch selbständig sind, haben die besten Überlebens-Chancen. Gehen sie in einem Konzern auf, verliert erst das Lokale im Wirbel der Synergien und verschwinden schließlich die Leser
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Der komplette Text: „Die Organisation der Redaktion“ – Teil 6 der Reihe von Paul-Josef Raue zur Zukunft des Journalismus, hier:
Deutsch lernen mit Luther (5): Die und-und-und-Marotte (Friedhof der Wörter)
Luther mochte das „und“, dies unscheinbare, keinen Sinn tragende Wort. Viele Absätze, nicht nur in der Kreuzigungs-Geschichte, beginnt er mit „und“:
„Und als er zu Jerusalem einzog“; „Und als er in den Tempel kam“; „Und als er auf dem Ölberg saß – und, und, und.
Luther hatte eine „Und“-Marotte – und eine „Da“-Marotte“. Wenn er einen Absatz nicht mit „Und“ begann, nutzte er oft das „Da“, ebenso unscheinbar und sinnfrei:
„Da versammelten sich die Hohenpriester und Schriftgelehrten“; „Da ging hin der Zwölfen einer mit Namen Judas“; „Da sie aber aßen, nahm Jesus das Brot, dankte und brach‘s und gab’s den Jüngern“; da, da, da.
Luther war mehr als ein Übersetzer, er war ein Dichter, ein großer dazu. Dichter haben ihre Eigenarten, ihre eigene Meisterschaft, ihren eigenen Stil, der kaum zu erklären ist: Er ist, wie er ist. Wer ihn kopieren will, macht sich lächerlich.
Es gibt allerdings eine Szene in der Leidensgeschichte, in dem Luther dem „und“ eine erkennbare Funktion gibt: Es steigert die Dramatik immer weiter und weiter. Sie beginnt mit einem kurzen Satz: „Aber Jesus schrie abermals laut und verschied.“ Auf das „laut“ hätte Luther sogar verzichten können, den „schreien“ ist immer laut. Geriet Luther der Satz, der Gottes Ende erzählt, doch zu kurz? Oder er wollte den Schrei noch lauter machen, den Schrei der Verzweiflung?
Es folgen zwei Sätze, in denen acht Mal „und“ erscheint: Was für eine Spannung, die ohne das Und-Stakkato ungleich schwächer ausfiele!
Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriss in zwei Stück von oben an bis unten aus. Und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, und die Gräber taten sich auf und stunden auf viele Leiber der Heiligen, die da schliefen, und gingen aus den Gräbern nach seiner Auferstehung und kamen in die heilige Stadt und erschienen vielen.
41 Wörter in einem Satz, nimmt man den vorgeschalteten Satz hinzu sind es 58: Ein Beispiel für lange, aber gut verständliche Sätze, denen die Und-Marotte zusätzlich gut tut. Meisterhaft!
Deutsch lernen mit Luther (4): Wie das Volk seine Sprichwörter macht (Friedhof der Wörter)
Wie erfindet man neue Wörter? Der Philosoph Peter Sloterdijk schenkte der Welt viele neue Wörter wie „thymotisch“ oder „Lethargokratie“, aber die Welt besteht für ihn aus hochgebildeten Menschen und Kulturredakteuren, die die Welt zwar nicht verstehen, aber unentwegt über sie nachdenken; sie freuen sich über jedes Nebel-Wort, in denen sie endlos stochern können, aber niemals klar sehen.
Auch Martin Luther, der Anti-Sloterdijk, erfand neue Wörter, als wolle er das Wörter-Fließband erfinden. Martin Luthers Welt waren die einfachen Menschen: Seine neuen Wörter waren die Wörter, die er beim Einkaufen hörte oder beim Stammtisch in der Wirtschaft. In seinem „Sendbrief“ nennt er die eigentlichen Erfinder der neuen Wörter: „Die Mutter im Hause, die Kinder auf der Gassen, den gemeinen Mann auf dem Markt“.
Bisweilen spielte auch das Volk mit Luther, las seine Schriften und verbog sie, dass es krachte – wie in der Gerichtsszene mit Pontius Pilatus:
Pilatus will sich nicht mit Jesus abgeben, er sucht einen Ausweg. Was macht ein Politiker? Er fragt: Bin ich zuständig? Pilatus schaut ins Organigramm der Macht und findet heraus: Galiläa, im Norden des heutigen Israels gelegen, gehört in die Zuständigkeit von König Herodes.
„Sie waren einander feind“, schreibt Luther über die Beziehung von Pilatus und Herodes. Also schickt Pilatus Jesus zu Herodes, der soll ihn richten. Da aber Jesus nicht ein Wort mit Herodes spricht, schickt er ihn zurück zu Pilatus. „Auf den Tag wurden Pilatus und Herodes Freunde miteinander“, schreibt Luther.
Da wird einer von Pilatus zu Herodes geschickt, und nichts kommt dabei heraus. Was macht das Volk aus dieser Geschichte? „Da wird einer von Pontius zu Pilatus geschickt“: Dies wird sprichwörtlich und hat mit der historischen Wahrheit nichts zu tun. Es ist ein Spiel mit der Sprache, das zeigt, wie sich Sprachbilder von ihrem Ursprung lösen und verselbständigen, bis kaum mehr einer ihren Ursprung kennt.
Deutsch lernen mit Luther (3): Kurze Wörter, nicht unbedingt kurze Sätze (Friedhof der Wörter)
Wie hält es Luther mit kurzen Sätzen? Je kürzer, desto besser?
Kürze propagieren moderne Sprachtrainer, weil in unserer Welt alles schneller wird: Filme haben hektische Schnitte, Bücher abgehackte Sätze, oft nicht einmal vollständig; Comics schätzen Gestammel: Aääh, bäh, brumm; gähn, plopp, urg. Ein Ratgeber für Blog-Schreiber, also Tagebücher im Internet, beginnt mit dem kurzen Satz: „Der kurze Satz gewinnt!“
Nun lebte Luther ein halbes Jahrtausend vor dem Internet. Aber in einem hätte er sich mit den Bloggern und Twitterern verbrüdern können: Schreibt so, dass die Leute Euch verstehen! Dafür braucht man keine kurzen Sätze.
In der Lukas-Geschichte der Kreuzigung bildet Luther immer wieder Sätze mit mehr als zwanzig Wörtern:
Die Männer aber, die Jesus hielten, verspotteten ihn und schlugen ihn, verdeckten ihn und schlugen in sein Angesicht und fragten ihn und sprachen…
Der Satz hat 23 Wörter: Warum stört uns die Länge nicht? Warum klingt er wie ein kurzer, gut verständlicher Satz? Nicht die Zahl der Wörter entscheidet über die Verständlichkeit, sondern vor allem die Zahl der Silben. In der Folter-Geschichte hat die Hälfte der Wörter nur eine Silbe; gerade mal drei Wörter haben drei.
Je kürzer ein Wort, desto einprägsamer ist es: „Recht und Schlecht“ geht sofort in den Kopf, eine Wendung aus dem alttestamentlichen Buch der Sprüche.
Aber nicht der Geiz mit den Silben allein schafft attraktive Sätze: In der Folter-Szene finden wir nur einen Nebensatz mit gerade mal drei Wörter. Der Hauptsatz dominiert, in ihm erzählt Luther eine komplette Geschichte und erzeugt mit dem Stakkato der Aufzählung eine Atmosphäre des Schreckens – ohne ein einziges Adjektiv.
Noch ein 24-Wörter-Satz aus der Leidensgeschichte: Wieder nur ein Hauptsatz, sogar mit zwei viersilbigen Wörtern – doch nicht minder verständlich:
Und als es Tag wurde, sammelten sich die Ältesten des Volks, die Hohenpriester und Schriftgelehrten, und führten ihn hinauf vor ihren Rat und sprachen…
Sloterdijks Journalistenschelte in München: Sie brauchen einen Deutschkurs!
Der Philosoph Peter Sloterdijk bezeichnet sich ironisch als „linkskonservativ“. Als er im Münchener Literaturhaus las, erntete er rasch Beifall, als er sich in Medienkritik übte; so berichtet Michael Stallknecht in der Süddeutschen Zeitung. Sloterdijk weiter:
Ebenso dringend wie die Flüchtlinge brauchen die Journalisten einen Deutschkurs. Nichts haben sie gelesen von all den Büchern, die die aktuellen Umbrüche seit Langem voraussagen.
„Unverantwortliche Journalisten“ entdeckt Sloterdijk, weil sie die Migration von Milliarden Menschen ignorierten – „weil sie origineller sein wollen als die klügsten Köpfe dieses Landes.“
Quelle: SZ, 5. März 2016, Seite 17 „Deutschkurs“
SZ-Chefredakteur über die unsozialen Netzwerke: Schnellstgerichtsbarkeit (Zitat der Woche)
Die manchmal in die Nähe der Existenzvernichtung gehende digitale Schnellstgerichtsbarkeit ist eine der unangenehmsten Erscheinungen in der schönen neuen Welt der Allzeit-sofort-Kommunikation.
Kurt Kister in seinem Leitartikel „Moral und Moralisten“ (SZ, 4. März 2016), in dem er auch eine Politiker-Typologie entwirft:
Auf der einen Seite die Moralisten, Fundis und „Gutmenschen“ (meistens links), auf der anderen Seite die flexiblen Pragmatiker, ich-bezogenen Machiavellisten und effizienten Verwalter.
Grammatik-Fallen: Wenn das Subjekt an die zweite Stelle rutscht
Im Wirtschafts-Teil der FAZ ist auf Seite 19 eine Sensation versteckt:
Das Wirtschaftsnachrichtenportal „Business Insider“ hatte Springer im vergangenen Jahr komplett übernommen.
Haben wir da etwas komplett übersehen? Ein kleines Internet-Portal übernimmt einen Milliarden-Konzern? Nein, der Grammatik-Teufel hat zugeschlagen: Springer ist das Subjekt, und das Portal ist das Objekt. So wäre es korrekt:
Springer hatte im vergangenen Jahr das Wirtschaftsnachrichtenportal „Business Insider“ komplett übernommen.
So verständlich es auch ist, mal ein wenig mit der Grammatik zu spielen, die Subjekt-Objekt-Reihenfolge zu verändern kann tückisch sein. Da wäre selbst eine Passiv-Konstruktion besser, wenn auch nicht schön: „Das Wirtschaftsnachrichtenportal „Business Insider“ wurde von Springer im vergangenen Jahr komplett übernommen.“
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Quelle: FAZ 4. März 2016 „Springer sorgt sich um selbst erzeugte Verwirrung
Spotlight – ein exzellenter Film über Journalismus, Recherche, Professionalität und Unabhängigkeit
Spotlight ist ein Film über Journalisten und für Journalisten – der gerade den Oscar für den besten Film gewonnen hat. Erzählt wird die wahre Geschichte des Reporter-Teams „Spotlight“. Es recherchierte für den Boston Globe, dass Hunderte von katholischen Priestern Kinder missbraucht hatten mit Wissen des Kardinals.
Wer mit Begeisterung Journalist ist, sollte sich diesen Film ansehen aus vier Gründen:
- Spotlight zeigt, dass Recherche die Basis des Journalismus und der Demokratie ist: Nur so gelangen Nachrichten in die Öffentlichkeit, die von den Mächtigen unterdrückt werden. Die Demokratie lebt nicht nur von Pressemitteilungen aus den Zentralen, sondern von den Recherchen aus den Hinterzimmern der Macht. Für die Bürger sind diese Nachrichten oft wichtiger als die Verlautbarungen der Mächtigen.
Pressefreiheit, die unsere Verfassung garantiert, ist vor allem die Freiheit der Recherche – und daraus abgeleitet auch die Pflicht zur Recherche. - Spotlight zeigt, wie eine gute Recherche abläuft:
Erstens brauchen die Reporter Hartnäckigkeit, denn jede schwierige Recherche verrennt sich immer wieder in Sackgassen und scheint zu scheitern.
Zweitens braucht die Recherche ein Team, das aus unterschiedlichen Charakteren zusammengesetzt ist, das zusammen arbeitet, das sich gegenseitig hilft und beim Streit um die richtige Strategie nie das Ziel aus den Augen verliert. Der investigative Einzelgänger ist selten, er lebt vor allem in den Kriminalromanen von Dashiell Hammett und Raymond Chandler. Recherchierende Reporter sind weder abgebrüht noch ausgekocht, sie brechen auch keine Regeln, sondern gehen – wenn ihnen Dokumente vorenthalten werden – auch mal vor Gericht und klagen die Herausgabe ein.
Drittens ist Recherche erst einmal Lesen in Akten, Lesen in Archivbänden, Lesen in Mails und Briefen von Lesern, auch von denen, die man als Querulanten abgestempelt hatte, Lesen in den eigenen Artikeln, die schon erschienen sind. Die Recherche in Spotlight kommt vom Fleck, als in der Bibliothek die Jahresbände des katholischen Bistums entdeckt werden mit Angaben sämtlicher Priester und der Gemeinden, in denen sie wirkten.
Dann folgt das Kombinieren, die Entdeckung der inneren Logik der Geschichte: Wo ist der rote Faden? Was hängt miteinander zusammen? Mit wem müssen wir sprechen? Wo sind die besten Informanten?
Schließlich braucht man die Gespräche mit Opfern, Anwälten und Tätern, und man braucht Geduld, nach der siebten zugeschlagenen Tür weiterzumachen, und man braucht die Gabe, trotz aller Distanz den Informanten Sicherheit und Vertrauen zu garantieren. Mindestens eine Frau braucht jedes Recherche-Team.
Auf eine Tiefgarage zu hoffen, in der hinter einem Pfeiler ein Informant wartet mit einem dicken Umschlag – das ist weltfremd. - Spotlight beleuchtet den Lokaljournalismus mit seinem Mix aus Nähe und Distanz: Den Anstoß zur Recherche gibt der neue Herausgeber Marty Baron – einem Chefredakteur bei uns vergleichbar -, gerade aus Florida nach Boston gekommen: Er liest in einer Kolumne vom Missbrauch und fragt in seiner ersten Ressortleiter-Konferenz, ob weiter recherchiert werde. Ein nassforscher Redakteur spöttelt: Das ist eine Kolumne, da wird nicht mehr recherchiert.
Es wird recherchiert – auch gegen den Unwillen von Spotlight-Chef Walter Robinson, der Hinweise unterdrückt hatte, um seiner Heimatstadt und der Kirche nicht zu schaden.
In einer Schlüsselszene des Films treffen sich Spotlight-Chef Robinson und ein Freund, der den Kardinal berät: „Das ist doch unsere Stadt. Hier leben Menschen, die die Kirche brauchen und deren Vertrauen zerstört wird. Und diese Priester sind doch nur Einzelfälle, wenige faule Äpfel.“
Dieses Gemeinschafts-Gefühl „Wir Kinder dieser Stadt müssen doch zusammenhalten“ schließt den Fremden aus: „Der neue Herausgeber kommt aus New York und Florida, für ihn ist Boston nur eine Zwischenstation in seiner Karriere. Bald geht er wieder.“
Argumentiert wird mit dem Wohl der Stadt: Doch die Mächtigen verwechseln – nicht nur in Boston – bisweilen ihr eigenes Wohl mit dem Wohl der Stadt. Das Wohl der Stadt ist das Wohl der Bürger, die alles Wichtige wissen müssen.
Eine gute Lokalredaktion braucht beide: Den Fremden mit seiner Distanz; er ist nicht Teil eines Netzes von Freunden, die man schon aus dem Kindergarten kennt. Und sie braucht den Einheimischen, der die Stadt und ihre Menschen kennt, der Kontakte hat und sie zu nutzen weiß (oder auch nicht). Beide zusammen sind unschlagbar.
- Spotlight beweist, wie wichtig Unabhängigkeit für eine Zeitung ist. Der Verleger möchte am liebsten Ruhe haben und setzt seine Ruhe gleich mit Ruhe in der Stadt. Die Reporter möchten auch Ruhe haben. Ein Unruhiger, der übrigens in sich ruht, ein Unruhiger wie der Chefredakteur an der Spitze reicht, um die Profis in der Redaktion an ihre Pflicht zu erinnern: Nutzt Eure Unabhängigkeit! Erfüllt Euren Auftrag, der lautet: Seid Sprachrohr der Bürger, nicht Sprachrohr der Mächtigen!
Am Ende gibt die Zeitung den Opfern eine Stimme und rüttelt die wach, die der Kirche vertrauten, obwohl ihre Funktionäre das Vertrauen missbraucht hatten.
Als der neue Chefredakteur zum Antrittsbesuch beim Kardinal erscheint, lächelt der Mann Gottes: „Eine Stadt erblüht, wenn ihre großen Institutionen zusammenarbeiten.“ Marty Baron, der Chefredakteur, lächelt nicht zurück und antwortet trocken: „Eine Zeitung funktioniert am besten, wenn sie alleine arbeitet.“
Der Film zeigt den Wert der tiefen Recherche, und er zeigt ein Defizit des deutschen Journalismus: Nur in den Magazinen wie dem Spiegel und in den nationalen Zeitungen, vorbildlich in der Süddeutschen, wird systematisch recherchiert, in den Regional- und Lokalzeitungen selten oder gar nicht. Wir brauchen solche Recherche-Teams wie „Spotlight“: Vier Redakteure, drei Männer und eine Frau, sind es in Boston.
Eine Kosten-Nutzen-Rechnung ist schwierig: Wer an eine langen und schwierigen Recherche arbeitet, fällt für die Tagesproduktion aus. Ist er erfolgreich, stärkt er das Vertrauen der Leser – und das ist mittlerweile unbezahlbar.
Der Boston Globe druckte nach der ersten Reportage, die den Skandal enthüllte, noch sechshundert weitere. Da stimmte sogar die Kosten-Nutzen-Rechnung.
Auch in Deutschland gab es viele Missbrauchs-Fälle. Erst acht Jahre nach dem Skandal in Boston deckten auch deutsche Reporter systematisch auf, beginnend mit einer Recherche der Berliner Morgenpost im Canisius-Kolleg – die eine professionelle Qualität hatte wie die des Boston Globe.
Leidenschaft! Ohne Leidenschaft ist Journalismus wenig wert (4. Teil der Serie „Zukunft des Journalismus“)
Für Journalisten gilt der Spruch, den US-Präsident Truman prägte und den Politiker gerne nutzen: “If you can’t stand the heat, get out of the kitchen.“ (Hältst Du die Hitze nicht aus, geh raus aus der Küche!). Aber brauchen wir noch diese eitlen, sich selbst inszenierenden, jede Hitze überstehenden Typen?
Wir sind nicht mehr allein im Universum der Information: Jeder, wirklich jeder, kann reden, schreiben, belehren, fluchen – und damit die ganze Welt beeindrucken oder belästigen. Brauchen wir also Journalisten überhaupt nicht mehr, weil ein alter Traum in Erfüllung gegangen ist, eine Utopie verwirklicht: Alle reden mit?
Ja, wir brauchen weiter Journalisten, die recherchieren, einordnen und das Selbstgespräch der Gesellschaft moderieren. Aber welche Journalisten brauchen wir genau? Davon handelt die vierte Folge meiner Serie auf kress.de über die Zukunft des Journalismus und kommt zu dem Schluss:
Wir brauchen Journalisten, die den Menschen helfen, besser leben zu können. Das ist der Wert von Journalismus im Leben der Menschen, der Gesellschaft und der Demokratie. Das scheinen salbungsvolle Worte zu sein, für manche zu hymnisch, zu abgehoben. Aber es gibt keine Freiheit ohne die Pressefreiheit – und keine Pressefreiheit ohne Journalisten mit Leidenschaft, wo immer sie auch schreiben.
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Link:
Journalisten erfinden neue Wörter: Heribert Prantl und die „Dresdner Republik“ (Friedhof der Wörter)
Wörter fallen nicht vom Himmel. Selbst fromme Bürger, die eh einer aussterbenden Spezies angehören, glauben nicht mehr, dass Gott oder ein anderes höheres Wesen in unsere Sprache hineinfährt wie ein Blitz.
Wörter werden gemacht, zum Beispiel von Journalisten, zum Beispiel in der Süddeutschen Zeitung, unserer bedeutendsten nationalen Zeitung. Im Leitartikel der Samstag-Ausgabe erfindet Heribert Prantl gleich zwei neue Wörter und bietet dem staunenden Leser drei Spezialbegriffe an, die dort am besten aufgehoben sind, wo sie hingehören: In die Fachsprachen oder dem Reservat der Bildungshuberei.
Wissen Sie, was „Aberratio“ bedeutet? Oder „ „incidenter“, ohne in einem Lexikon nachzuschlagen? Die Fragen dürften in einem TV-Quiz zu den Millionen-Preisfragen zählen. Also –
Aberratio können zumindest humanistisch Gebildete enträtseln: Das lateinische Wort kreist um den Irrtum. Vor allem Menschen, die gerne ihre Bildung vorzeigen, nutzen die alten Vokabeln und zeigen ihre Überlegenheit, indem sie das Wort für die Ungebildeten gleich übersetzen: ein großer Bohei, ein großer Irrtum.
Heribert Prantl nutzt gleich drei Wörter für einen Irrtum in einem einzigen Satz seines Leitartikels!
- Bohei aus der Umgangssprache – ein Wort, das der Duden erst vor zwölf Jahren auflistete;
- Irrtum aus der Alltagssprache und
- Aberratio, das der Duden den Fachsprachen zuordnet.
Incidenter stammt auch aus dem Lateinischen, zählt zum Bestand der Bildungshuberei, hört sich bedeutend an, bedeutet aber nur „beiläufig“ – also etwas, was man am Rande erwähnt.
Rezivilisierende Wirkung ist eine klassische Neuschöpfung, die allerdings nur schwer zu enträtseln ist. „Zivilisieren“ ist eine Art Integration: Wie bringe ich Fremden unsere westliche Kultur bei? Das „Re“, das Zurück, wäre also die Umkehr der Zivilisation, die Rückkehr in den alten Zustand der Barbarei.
Wer will das? Was soll es bedeuten in dem Satz:
Ein NPD-Verbot schon im Jahr 2003 hätte vielleicht eine gewisse rezivilisierende Wirkung (auf die rechtsradikale Szene) gehabt.
Aber wahrscheinlich ist nur die Wortschöpfung missglückt: Streichen wir das Wort, damit es nicht eines Tages im Duden auftaucht.
Dresdner Republik ist eine neue, eine polemische Schöpfung: So würde die Bundesrepublik sein, wenn Pegida herrschte oder die AfD. Es ist ein fieses Wort: Es suggeriert, dass die Mehrheit der Dresdner und der Ostdeutschen so denken wie eine Pegida-Anführerin, die auf einer Kundgebung zur Gewalt rief:
Wenn die Mehrheit der Bürger noch klar bei Verstand wäre, würden sie diese volksverratenen Eliten aus den Parlamenten, den Gerichten, den Kirchen und den Pressehäusern prügeln.
„Dresdner Republik“ erinnert an „Weimarer Republik“, die zu schwach war und Hitler an die Macht brachte. Wir sollten die „Dresdner Republik“ schnell wieder vergessen.
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Thüringer Allgemeine, erweiterte Fassung der Kolumne „Friedhof der Wörter“ vom 7. März 2016 (geplant)
Quellen:
- SZ vom 27. Februar „Der braune Kern“
- (Festerling) dpa Meldung vom 12. Januar 2016 Siehe: http://www.sz-online.de/sachsen/festerling-provoziert-strafanzeige-3296346.html
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