Alle Artikel der Rubrik "Aktuelles"

Der am intensivsten gelesene Online-Beitrag der New York Times: Fast eine Million Stunden für ein Liebes-Quiz

Geschrieben am 10. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.

Welche Artikel faszinierten die Online-Leser der New York Times am meisten? Mit welchen Reportagen und Nachrichten verbrachten sie meiste Zeit? Vorne liegt in diesem Jahr eine Liebes-Geschichte – mit 36 Fragen zur Liebe „No. 37: Big Wedding or Small? / Quiz: The 36 Questions That Lead to Love“

Die Leser verbrachten rund 900.000 Stunden in dieser Geschichte. Die 36 Fragen hat der Psychologe Arthur Aron entworfen. Sie sind in drei Kapiteln versammelt. Einige Beispiele zu Kapitel 1:

  1. Wen in der Welt wünschst Du Dir als Dinner-Gast?
  2. Möchtest Du berühmt sein? Und wie?
  3. Überlegst Du vor einem Telefonat, was Du sagen möchtest? Warum?
  4. Was bedeutet für Dich ein perfekter Tag?

Beispiele aus dem Kapitel 2:

  1. Wenn eine Kristallkugel die Wahrheit über Dich preisgibt, über Dein Leben, die Zukunft oder anderes mehr: Was möchtest Du wissen?
  2. Wenn es etwas zu tun gibt, wovon Du schon lange träumst: Warum hast Du es nicht getan?
  3. Was ist die größte Leistung Deines Lebens?
  4. Was schätzt Du am meisten in einer Freundschaft?

Beispiele aus Kapitel 3:

  1. Wann hast Du das letzte Mal geweint vor einem anderen Menschen? Und allein?
  2. Was ist zu ernst, um darüber einen Scherz zu machen?
  3. Wenn Du heute Abend stirbst ohne Möglichkeit, mit irgendjemanden zu sprechen: Was bedauerst Du, nie jemandem erzählt zu haben? Und warum hast Du es bis heute nicht erzählt?
  4. Dein Haus brennt. Wenn Du alles Persönliche gerettet hast, hast Du die Chance, noch etwas zu retten: Was wäre es? Und warum?

Auf dem vierten Rang der am längsten gelesenen Geschichten ist noch eine Liebes-Geschichte: Mandy Len Catron, Schreibtrainerin an der Universität in Vancouver, erzählt, wie sie sich verliebte:

„Vor mehr als zwanzig Jahren hatte der Psychologe Arthur Aron (das ist der Wissenschaftler der 36 Liebes-Fragen) Erfolg damit, dass sich zwei Fremde in seinem Labor verliebten. Im letzten Sommer wandte ich dieselbe Technik für mein eigenes Leben an…“ Die Geschichte endet wenig romantisch: „Liebe überfiel uns nicht. Wir haben uns verliebt, weil wir uns beide für die Liebe entschieden haben.“

Catron arbeitet, wie der Autorenhinweis preisgibt, an einem Buch über die Gefahren von Liebesgeschichten.

Die Liste der 50 am intensivsten gelesenen Artikel ist eine Mischung aus ambitionierten Investigativ-Projekte (wie „Inside Amazon“, die Arbeitswelt des Versand-Giganten – Platz 3), großen aktuellen Nachrichten (German Wings-Absturz auf Platz 11 und 30) und Service (wie das Liebes-Quiz); dabei sind die großen Themen wie Rassismus (Massaker in der Emanuel- Kirche von Charleston, Platz 21) und Terrorismus (Anschläge in Paris auf Platz 18)– aber auch die Geschichte von George Bell: Ein einsamer Mann, der einsam starb (Platz 8)

**

Quelle:

http://www.nytimes.com/interactive/2015/12/09/upshot/top-stories.html?_r=1

 

Müssen Redakteur ständig online sein? „Absolut unnötig“ schreibt ein Leser

Geschrieben am 9. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.
Always on

Always on

Immer vorm „iPhone“? Always on? Der Ruhr-Nachrichten-Autor Daniel Otto bekennt sich zum Motto „Leben, denken, schreiben – alles online“ und sitzt auch am Sonntag zu Hause vor seinem iPhone, als ihn kurz vor 14 Uhr ein Leser erreicht. Er kann ihm nicht sofort helfen und antwortet ihm zwei Minuten später: „Am Montag kümmere ich drum.“

Knapp eine Stunde später schreibt ihm der Leser:

Hallo Herr Otto, eine so schnelle Rückmeldung hatte ich nicht erwartet. Das ist absolut unnötig. Bitte denken Sie auch mal an sich selber, genießen Sie das Wochenende und Ihr Privatleben – schalten Sie Ihr iPhone einfach mal aus. Mein Interesse an der App wird nicht geringer, wenn ich auf die Lösung eines Problems mal ein paar Tage warten muss. Falls Ihre Vorgesetzten Sie zu diesem Daueronline-Einsatz nötigen, dürfen Sie denen meine Mail gerne zeigen. Sie werden das Problem schon lösen.

**

Quelle: Kiwits RN-Newsletter 9. Dezember 2015

 

Wenn Sprachbilder Fieber bekommen: Zum Heulen und Husten (Filmkritik „Bridge of Spies“)

Geschrieben am 8. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.

Auf der Glienicker Brücke in Berlin tauschten Sowjets und Amerikaner im Kalten Krieg ihre Spione aus. Hier spielt  Steven Spielbergs Film „Bridge of Spies“, ein angenehm altmodischer und sehenswerter Spionage-Film mit Tom Hanks in der Hauptrolle. Der Film animierte Dietmar Dath, Kulturredakteur der FAZ, zu einer Kritik, die in einem beispiellosen Bilder-Rausch endet:

Der Konflikt zwischen der sozialistischen und der bürgerlichen Staatenwelt war eine weltweite grippale Bewegungseinschränkung mit Ideenfieber, wirtschaftlichen Gelenkschmerzen und verschleimten Kommunikationskanälen. Zum Heulen und Husten, das Ganze.

Feuilletonisten sind bisweilen verhinderte Dichter, die unsere Sprache biegen und brechen: Von den sechs Hauptwörtern sind alle, vom „Konflikt“ abgesehen, zusammengesetzte Wörter – mühsam gedrechselt mit zu vielen Silben.

Die „Staatenwelt“ ist kürzer und verständlicher, wenn die „Welt“ verschwindet; die „grippale Bewegungseinschränkung“ muss man zweimal lesen, um zu ahnen, was der Dichter sagen will – und „Grippe“ hätte genügt; was das Fieber mit Ideen zu tun hat, die schmerzenden Gelenke mit der Wirtschaft und die Kommunikation mit Schleim erschließt sich nicht einmal beim zweiten Lesen.

So wäre der Satz schlank und verständlich:

Der Konflikt zwischen den sozialistischen und bürgerlichen Staaten war eine weltweite Grippe mit Fieber, Gelenkschmerzen und Schleim.

Der Satz in seiner Schlichtheit entlarvt die Analyse: Der Kalte Krieg war eben keine Krankheit, sondern Politik, also Menschenwerk. Die Bilder sind nicht nur schief, sondern auch mit Antibiotika nicht mehr zu heilen.

**

Quelle: FAZ 25.11.2015

Der Mensch spielt Gott: Warum schafft es Wissenschaft so selten auf die Titelseite der Zeitungen?

Geschrieben am 6. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.

Wäre die Welt eine bessere, wenn die Menschheit mit einem Schlag Krebs besiegen und Demenz für alle Zeit auslöschen könnte?

So fragt Joachim Müller-Jung in einem FAZ-Kommentar nach dem Welt-Gipfel der Gen-Chirurgen in Washington. Themen waren die Eingriffe in unser Erbgut, an Embryonen und Keimzellen, also um die zweite Schöpfung als Menschenwerk, die göttliche Schöpfung korrigierend. „Genchirurgische Werkzeuge sind praktisch Routine im Labor geschrieben“, steht im Bericht über den Kongress – unten auf der Feuilleton-Seite.

Die Gentechnik wird unser Leben, unseren Alltag und unsere Zukunft fundamental verändern. Warum ist sie – beispielsweise mit einem solch großen Kongress – kein Thema  für den Aufmacher auf der Titelseite der Zeitungen? Kein Thema für die Spitzenmeldung der Tagesschau? Warum hat es Wissenschaft überhaupt so schwer, zu einem Top-Thema zu werden?

Verantwortliche Redakteure arbeiten immer noch wie vor zwanzig, dreißig Jahren: Die entscheidenden Themen werden von den Politikern gesetzt, den wirklichen und denen in der Redaktion. In den Köpfen sind immer noch die Kriterien des Generalanzeigers wirksam: Politik, Politik, Katastrophen und ein wenig Wirtschaft und Sport.

Wissenschaft verändert seit Jahrzehnten massiv unser Leben, aber wird erst zum Aufmacher-Thema, wenn sie von Politiker und Parlamenten aufgegriffen wird. Verbieten oder nicht? Wenn diese Frage im Bundestag ansteht und heftig debattiert wird, werden auch Journalisten hellwach.

„Praktisch alles, was von den Genen gesteuert wird, ist manipulierbar geworden“,

schreibt Joachim Müller-Jung  im Leitartikel der FAZ-Titelseite –  immerhin. Der Bericht zum Kommentar folgt elf Seiten weiter.

Die großen Zeitungen haben die Wissenschaft auf eine Seite im hinteren Teil der Zeitung abgeschoben. Die SZ packt sie ans Ende des Feuilleton-Buchs: Eine exzellente Seite mit Themen, die oft für die Titelseite taugten. Die FAZ versteckt sie im Feuilleton und in eine eigene Beilage einmal in der Woche, meist schwer lesbar, von Experten für Experten geschrieben.

Alles, was das Leben der Menschen verändert, gehört auf die Titelseite der Zeitungen und nicht in die Abstellkammern der sowieso schon viel zu dicken Zeitungen. Die Leser werden es danken.

Advent, Fasten und Entschleunigung: Vier Wochen ohne Push-Nachrichten (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 5. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 5. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

2013-12-18 21.23.31Ein Advents-Sonntag im prall gefüllten Erfurter Dom: Der Prediger erinnert daran, dass die vier Wochen vor Weihnachten früher eine Fastenzeit waren. Er empfiehlt, der Tradition wieder zu folgen – durch zumindest zeitweiligen Verzicht auf Smartphone und Laptop: Die Push-Nachrichten ausstellen, die unentwegt aktuelle Top-Informationen senden, Nachrichten konzentriert verfolgen statt unentwegt auf Sendung zu sein, also mehr Ruhe und Zeit zum Nachdenken.

Entschleunigung heißt das neue Wort, das der in Leipzig geborene Psychologe Jürgen von Scheidt erfunden hat – erst vor rund vier Jahrzehnten. Das Gegenwort, die Beschleunigung, ist um Jahrhunderte älter und war schon lange vor dem Auto, das die Beschleunigung mag, in unserer Alltagssprache angekommen.

Die Vorläufer wie „schlaunen“ oder „schleunen“ sind längst begraben, und selbst „schleunig“ in der Bedeutung von schnell wartet auf seine Beerdigung. Lessing nutzte es noch in seiner „Theatralischen Bibliothek“: Die Lehrerin fragt ihre Schülerin Actrise:

„Wenn Sie von einem Menschen, den Sie zärtlich liebten, verlassen würden: Würden Sie nicht von einem lebhaften Schmerz durchdrungen sein?“
Aber Actrise antwortet: „Ich würde auf das Schleunigste einen andern Liebhaber zu bekommen suchen.“ So redet heute keiner mehr, erst recht keine junge Verliebte.

Jahrhunderte schätzten die Menschen die Beschleunigung und kamen nicht auf die Idee, das Gegenteil zu denken oder ihm sogar ein Wort zu schenken. Sie ahnten auch nicht, wie sich der Mensch in der Beschleunigung selbst überholen wird – bis zur Veränderung der Körperhaltung: Millionen, vor allem in der Wisch-und-Klick-Generation, laufen mit gesenktem Kopf durch die Welt und schauen unentwegt auf den kleinen Bildschirm ihres Telefons.

Was sie dort lesen, ist übrigens für den Prediger im Erfurter Dom oft Teufelszeug. Er liest bei dem Evangelisten Lukas, der Jesus im Tempel zitiert:

Seht zu, dass ihr nicht irregeführt werdet; denn viele werden unter meinem Namen kommen. Lauft ihnen nicht nach! Wenn ihr aber von Kriegen und Aufständen hört, ängstigt euch nicht.

Geschrieben vor zweitausend Jahren.

**

Thüringer Allgemeine, 7. Dezember 2015, Friedhof der Wörter

Quelle  Jürgen vom Scheidt: Wikipedia

Protest gegen Zensur und Willkür: Eine kurze Geschichte des weißen Flecks in der Zeitung

Geschrieben am 2. Dezember 2015 von Paul-Josef Raue.
Links die Ausgabe der International New York Times mit Aufmacher über Thailand, rechts die Thailänder Ausgabe mit einem weißen Fleck statt Aufmacher.

Links die Ausgabe der International New York Times mit Aufmacher über Thailand, rechts die Thailänder Ausgabe mit einem weißen Fleck statt Aufmacher.

Am gestrigen Dienstag (1. Dezember 2015) ist die Thailänder Ausgabe der New York Times ohne Aufmacher erschienen. Außerhalb von Thailand erschien ein Text von Thomas Fuller „Thai spirits sagging with the economy“ (Stimmung und Wirtschaft in Thailand hängen durch), der sich kritisch mit der Militär-Diktatur befasst,  der stark eingeschränkten Pressefreiheit und dem schwierigen Alltag der Thais. Offenbar haben nicht Redakteure den Text entfernt, sondern die Drucker – ob unter Zwang oder in vorauseilendem Gehorsam, ist nicht erkennbar. Die Erklärung im Blatt:

Der Artikel, der hier stand, wurde von unserer Druckerei entfernt. Die International New York Times und ihre Belegschaft spielte keine Rolle bei dieser Entfernung.

 Der weiße Fleck war ursprünglich eine Demonstration der Macht:  Zensoren nahmen Texte und Bilder aus der Zeitung oder schwärzten Sätze und auch komplette Absätze, weil sie den Mächtigen missfielen. Der weiße Fleck signalisierte die Stärke der Diktatur.
Aus dem Instrument der Mächtigen machten Redakteure in der Demokratie ein Instrument zur Kontrolle der Mächtigen.Die taz brachte ein Interview mit Fragen, aber mit durchgestrichenen Antwort-Passagen, die so nicht mehr lesbar waren – als  SPD-Generalsekretär Olaf Scholz ein Interview bei der Autorisierung grundlegend  veränderte hatte.

 

Ähnlich verfuhr die taz 2013 nach einem Gespräch mit dem FDP-Vorsitzenden Philipp Rösler, der einen Abdruck der Druckfassung des Interviews abgelehnt hatte. Die taz  druckte eine weiße Zeitungsseite nur mit Fragen wie:
Wann haben Sie bewusst wahrgenommen, dass sie anders aussehen als die meisten Kinder in Deutschland?
 Allerdings gab es auch heftige Kritik in den Medien an der Art der Fragestellung. Die Chefredakteurin Ines Pohl meinte denn auch: Die Präsentation war missglückt, aber die Fragen waren in Ordnung.

Ähnlich verfuhr die Zeit auf ihrer Online-Seite, nachdem der DFB ein Interview mit Manager Oliver Bierhoff zurückgezogen hatte: Sie druckte nur die Fragen und ließ den Raum der  Antworten leer.

Joachim Braun, der Chefredakteur des Nordbayerischen Kurier, berichtet:

In einem Interview mit einem bayerischen Ministerpräsidenten (Stoiber)  pfuschten neun Leute bei der Autorisierung herum und veränderten sogar meine Fragen, damit sie besser passen. Ich habe die Seite daraufhin kurzfristig rausgeschmissen und dem Politiker geschrieben, dass ich sauer bin und nie wieder ein Interview mit ihm machen werde. Kurz darauf wurde das Interview erneut autorisiert – fast unverändert zu meinem Entwurf.

Alexander Marinos
, Vize-Chefredakteur der WAZ, schrieb als stellvertretender Chefredakteur des Bonner General-Anzeiger, in einer Umfrage der Drehscheibe:

Ich habe schon wiederholt Interviews nicht abgedruckt, nachdem Interviewpartner oder deren Pressesprecher versucht haben, die Texte im Zuge der Autorisierung komplett umzuschreiben und jeden kritischen Ansatz herauszunehmen – bis in die Struktur der Fragestellungen hinein. Namentlich betroffen waren der damalige Linkspartei-Chef Oskar Lafontaine und der frühere Bundesumweltminister und heutige SPD-Chef, Sigmar Gabriel.

2012 war eine Debatte in den deutschen Medien entfacht worden zu Sinn und Unsinn von Autorisierung, nachdem die New York Times generell ihren Verzicht auf Autorisierung erklärt hatte. Diese Debatte war auch Gegenstand eines Handbuch-Blogs: „Lass ich mein Interview autorisieren? Ja, es wird besser“.

 Weiße Flecken nannten Jugendliche eine Zeitung, die sie 2008 und 2009 recherchierten und produzierten und am Ende in einer Auflage von 30.000 Exmplaren druckten. Weiße Flecken so stellten die Jugendlichen ihr Projekt vor:
Weiße Flecken, das sind Geschichten, die während der NS-Zeit nicht erzählt werden durften. Die Erinnerung an sie ist für immer verloren, wenn die Zeitzeugen, die von Brno bis Zabrze, von Klagenfurt bis Mainz die NS-Zeit hautnah miterlebt haben, nicht von ihnen berichten. Auf Initiative von step21 interviewen Jugendliche die letzten Zeitzeugen, durchstöbern Archive und stellen Fragen, die nie zuvor gestellt wurden.

Die Bildunterschrift – da versagen selbst Profis zu oft

Geschrieben am 28. November 2015 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 28. November 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, K 42 Bildunterschrift.

FAZ Titelseite Frankreich  Das Foto auf der Titelseite der FAZ vom 28. November 2015: Ein unbekanntes Gebäude mit 18 Flaggen in blau-weiß-rot, den französischen Nationalfarben. Dazu die Bildunterschrift:

Ein Volk trauert: In seiner Ansprache erinnerte Präsident Hollande die Franzosen daran, dass die Freiheit jeden Tag verteidigt werden müsse.

Auf dem Bild ist weder das Volk zu sehen noch der Präsident, erst recht nicht redend. Der Leser erfährt nicht, welches Gebäude er sieht. Das ist ein typischer Fehler, der selbst Profis immer wieder unterläuft: Sie setzen beim Leser voraus, dass er weiß, was er sieht – dabei wissen das zwar Redakteure, aber nur wenige Leser.

Auch die Überschrift hilft dem FAZ-Leser nicht, sondern verwirrt: „130 Lachen, die wir nicht mehr hören werden“. Dabei nehmen Leser das Bild und die Überschrift als eine Einheit auf: Steht in der Überschrift etwas anderes, als auf dem Bild zu sehen ist, ist der Leser so verwirrt, dass er in der Regel weiterblättert. Die Text-Bild-Schere oder „kognitive Dissonanz“ ist ein Rausschmeißer: Dann kann der Artikel noch so gut geschrieben sein, der Leser beginnt erst gar nicht mit der Lektüre.

Wie machten es andere:

  • „Viele Pariser Bürger folgten dem Aufruf, Fahnen ins Fenster zu hängen“, steht unter dem Bild bei Deutschlandfunk Online. Die Bildzeile ist besser, aber nicht gut: Wo steht das Haus genau?
  • Spiegel Online nutzt offenbar die von Reuters mitgelieferte Bildzeile: „Patriotischer Trauerflor am Invalidendom: Fahnen an den Fassaden im Pariser Zentrum (Foto: Reuters)“. Auch die Bildzeile ist  auch nicht akzeptabel: Wo ist der Trauerflor? Oder sind die Flaggen der Trauerflor (im Singular?) Ist der Invalidendom zu sehen oder eine beliebige Fassade im Zentrum? Das Foto zeigt offenbar nicht den Innenhof des Invalidendoms, jedenfalls nicht den Innenhof, auf dem die Trauerfeier stattfand. Auch wird nicht genannt, welches Haus im Pariser Zentrum zu sehen ist.

Das „Neue Handbuch des Journalismus“ widmet der Bildunterschrift (oder: Bildzeile) ein eigenes Kapitel:

Als Minimum muss die Bildunterschrift erklären, wer oder was auf dem Foto zu sehen ist, und darf nichts behaupten, was auf dem Foto nicht zu sehen ist… Geben Sie präzise Informationen… Schreiben Sie konkret, nie allgemein… Schreiben Sie stets im Präsens.

Was wäre eine akzeptable Bildunterschrift:

Pariser Bürger hängen die Trikolore, die französische Nationalflagge, in die Fenster so wie hier in der Nähe des Invalidendoms (?). Sie folgen – wie überall in Frankreich – einem Aufruf des Staatspräsidenten nach den Terror-Anschlägen in Paris.

 

 

Jauchs Mängel-Liste: Diese neun Fehler sollte jeder Journalist im Interview vermeiden

Geschrieben am 27. November 2015 von Paul-Josef Raue.

Günther Jauchs Sendung am Sonntagabend, die am 1. Advent ausläuft, „ist eher eine Show als ein politischer Talk – eine beunruhigende Entwicklung für ein öffentlich-rechtliches Format!“, kritisierte der ARD Programmbeirat schon 2012. Diese Mängel-Liste kann sich auch jeder Zeitungs- und Magazin-Interviewer zu Herzen nehmen. Das sollte jeder Profi, gleich in welchem Medium, vermeiden:

  1. Er hakt selten nach,

  2. er setzt sich teilweise über die Antworten seiner Gäste hinweg,

  3. er vertritt eine klar erkennbare eigene Meinung,

  4. er folgt strikt seinem vorgefertigten Konzept,

  5. er hakt eine Frage nach der anderen ab,

  6. er schürt mit seinen Suggestivfragen teilweise Politikverdrossenheit und kommt damit der Verpflichtung zur journalistischen Sorgfalt nicht nach,

  7. er nimmt in den Fragen zumeist auch die Antworten vorweg,

  8. er geht einer ihm nicht genehmen Gesprächsentwicklung und Konfliktsituationen aus dem Weg, in dem er die andiskutierte Gesprächsschiene nicht weiter verfolgt.

  9. Die Diskussion verläuft selten ergebnisoffen, schon die Titel der Sendungen enthalten oft eine polarisierende These.

Positiv sollte man werten:

  • Er fällt durch seine größtenteils einfach formulierten Fragen auf, so dass auch verschiedene Zielgruppen erreicht werden können,
  • er polarisiert.

**

Quelle: Bülent Ürük in Kress-Online 27. November 2015

 

Darf man Terroristen „Kämpfer“ nennen? Mehr als ein Streit um Worte

Geschrieben am 25. November 2015 von Paul-Josef Raue.

Leser empören sich über ein Wort: „IS-Kämpfer“. Sie schreiben Briefe an Redaktionen und protestieren: Das sind keine Kämpfer, das sind Terroristen.

In der Thüringer Allgemeine empfahl ein Leser aus Sömmerda:

Kämpfer ist ein zu positiver Ausdruck für eine Bande von Verbrechern und Mördern. Vor allem bei Jugendlichen wird dadurch – auch durch PC-Spiele, in denen es immer um Kämpfer geht – ein positiver Eindruck erweckt. Benutzen Sie doch bitte den zutreffenden Ausdruck „IS-Terroristen“

Interims-Chefredakteur Thomas Bärsch gibt in seiner Kolumne „Leser fragen“ dem Leser Recht, verweist aber auch auf eine Mitteilung des Oberlandesgerichts Celle in Niedersachsen; das verhandelt gegen zwei Männer, die für den IS gekämpft haben: „Die beiden Angeklagten sollen sich als Kämpfer bzw. Selbstmordattentäter zur Verfügung gestellt haben.“ Der Vorwurf der Staatsanwaltschaft lautet: Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.

Auch die Staatsanwaltschaft kommt an dem Wort „Kämpfer“ nicht vorbei; noch schwieriger wird es, wenn wir das Verb bedenken: Welches nutzen wir statt „kämpfen“? Was schreiben wir statt „IS-Terroristen kämpfen um die Stadt XY?“

Das Substantiv „Kämpfer“ können wir noch ersetzen durch „Mörder“ oder „Terroristen“. Das Verb „kämpfen“ ist nur schwer zu ersetzen.

Der TA-Chefredakteur verweist darauf: Der „Kämpfer“ rutscht in der Wendung „IS-Kämpfer“ von einer positiven in eine negative Bedeutung. Und er schlägt den Lesern vor: „Wir in der Redaktion haben uns dennoch darauf verständigt, IS-Kämpfer möglichst sparsam zu verwenden.“

Er hätte auch noch auf Goethes „West-östlichen Divan“ verweisen können. Huri, der Wächter vor dem Paradies der Muslime, kommt dem Dichter verdächtig vor, der Einlass verlangt:

Zählst du dich zu jenen Helden? Zeige deine Wunden an, die mir Rühmliches vermelden. Und ich führe dich heran.

Und Goethe, der Humanist aus Weimar, spielt mit den Worten und lässt den Dichter antworten:

Lass mich immer nur herein: Denn ich bin ein Mensch gewesen. Und das heißt ein Kämpfer sein.

**

Quelle: Thüringer Allgemeine, 21. November 2015, Leser fragen

 

Sozialkitsch? Junge Journalisten und ihr „besorgter Tonfall“

Geschrieben am 24. November 2015 von Paul-Josef Raue.

Richard ist in Jenny Erpenbecks neuem Roman ein emeritierter Professor, der am Berliner Alexanderplatz den Hungerstreik von Flüchtlingen beobachtet. Am Abend sieht er in den Nachrichten den Bericht einer jungen Journalistin, die hörbar auf Seiten der Flüchtlinge steht. Und Richard fragt sich:

Ob der besorgte Tonfall inzwischen ein Prüfungsfach ist für Journalisten?

Auch in Redaktionen ist bei jungen Journalistinnen die Sozialreportage beliebt, wenn sie mit viel Gefühl und eindeutiger Botschaft geschrieben ist. Die älteren spötteln gern und nennen es „Sozialkitsch“ und schätzen einen sachlichen und harten Ton in der Reportage. Die Leser mögen beides, wenn auch nicht im Übermaß.

Zurück zum Roman:

Der Professor denkt über „das protestantische Erbe“ seiner Mutter nach, die mit ihm als Säugling aus dem Osten des Reichs geflohen war: Er will das Erbe abschütteln, den „Grundzustand der Reue“, er erinnert sich an die Mutter, die von den Lagern „angeblich“ auch nichts gewusst hat und fragt:

Was war eigentlich, bevor Luther kam, an der Stelle der Seele, an der sich seitdem das schlechte Gewissen breitgemacht hat? Eine gewisse Taubheit ist seit dem Thesenanschlag einfach nur Notwehr, wahrscheinlich.

(Jenny Erpenbeck in „Gehen, ging, gegangen“)

Seiten:«1...21222324252627...102»

Journalisten-Handbuch.de ist ein Marktplatz für journalistische Profis. Wir debattieren über "Das neue Handbuch des Journalismus", kritisieren, korrigieren und ergänzen die einzelnen Kapitel, Thesen und Regeln, regen Neues an, bringen gute und schlechte Beispiele und berichten aus der Praxis.

Kritik und Anregungen bitte an: mail@journalisten-handbuch.de

Rubriken

Letzte Kommentare

  • Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
  • Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
  • Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
  • Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
  • Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...

Meistgelesen (Monat)

Sorry. No data so far.