„Dies ständige Geduze“ – Was ist ein gutes Interview (2)?
Ute, Du feierst nun Deinen 60. Geburtstag. Ist das ein Datum, bei dem man als Künstlerin nachdenklich wird oder die Krise bekommt?
So fragt der Interviewer die Sängerin Ute Freudenberg, die vor 60 Jahren in Weimar geboren wurde (12. Januar 1956). Wenn sich Journalist und Sängerin kennen, ist das im Gespräch normal. Aber bleibt das „Du“ auch in der gedruckten Fassung stehen? Die in Weimar erscheinende TLZ druckte das Du durchgehend in einem ausführlichen Interview:
Wenn Du Dich an Deinem Geburtstag morgens an den Frühstückstisch setzt und vielleicht ein bisschen zurückblickst, gibt es da etwas, was Dir spontan einfällt als der große Punkt oder entscheidende Moment in Deinem Leben?
Kein Du – so wäre die Antwort, weil der Leser eine Distanz zwischen Journalist und Interview-Gast erwartet. Fehlt diese Distanz, geht der Leser davon aus, dass keine kritischen Fragen gestellt werden oder in der Autorisierung wegfallen.
Vielleicht ein Du – wenn es um Unterhaltung geht – wie im Freudenberg-Interview -, wenn der Leser kein kritisches Interview erwartet, vielleicht sogar die Nähe zur beliebten Sängerin schätzt; auch im Fernsehen ist in Unterhaltungs-Shows das Du nicht ungewöhnlich.
Der ARD-Journalist Christoph Maria Fröhder hatte allerdings in einem Spiegel-Interview die sprachliche Verlotterung in Tagesschau und Tagesthemen angeprangert:
Mich nervt diese sprachliche Verlotterung! In den Beiträgen wimmelt es von Grammatikfehlern. Da ist die Anmoderation des Sprechers identisch mit den ersten zwei Sätzen des Films. Und dann dieses ständige Geduze! Jeder Korrespondent wird mit Vornamen aufgerufen. Es ist dem Zuschauer gegenüber unhöflich, es ist ärgerlich.
Occyp-Eye: Wie Manager ihre Redakteure überwachen können
Der Daily Telegraph ist eine englische Zeitung mit etwa einer halben Million Auflage. Redakteure fanden vor wenigen Tagen kleine Boxen der Firma „OccupEye“ unter ihrer Schreibtisch-Platte. Mit dieser Box werden Wärme und Bewegung gemessen: So kann das Management feststellen, ob ein Redakteur an seinem Platz oder wie lange er abwesend ist. Als Buzzfeed die Überwachung öffentlich machte, begründete das Management die Überwachung mit der Energie-Wende: So könne man feststellen, wie viel Energie ein Raum braucht; je weniger Leute anwesend sind, umso weniger muss gekühlt oder geheizt werden.
Nach dem Buzzfeed-Bericht wurden die Geräte wieder entfernt.
**
Quelle: http://www.buzzfeed.com/jimwaterson/telegraph-workplace-sensors#.mxJlDOyG
Vorbildlich: Ein Chefredakteur entschuldigt sich wegen „rassistischer“ Grafik
Die Republik scheint nach den Silvester-Übergriffen in Köln im Ausnahmezustand zu sein, was die Medien und die Politik betrifft. Da reicht ein falsches Bild, ein falscher Satz, und der Sturm bricht los in den Netzwerken, die schnell nicht mehr sozial sind. Da hilft nur eines: Schnell reagieren, auch am Wochenende, so wie es Wolfgang Krach tat, einer der beiden SZ-Chefredakteure. Er entschuldigte sich für zwei Illustrationen, die Leser zum Teil vehement als „rassistisch“ kritisiert hatten. Krach nutzte dafür den Facebook-Auftritt der Süddeutschen Zeitung. Er war schnell und verhinderte so einen langen Shitstorm.
Gut , dass Sie sich entschuldigen. Besser ist noch, wenn Sie wirklich verstehen, warum diese Grafik sowohl rassistische als auch sexistische Stereotype bedient und ab jetzt doppelte Vorsicht walten lassen. Sie sind ein Qualitätsmedium. Ihre Stellungnahme bestätigt das. Viele Kommentare hier lassen mich allerdings an der Qualität ihrer Leser_innen zweifeln.
Die Reaktion von Krach ist vorbildlich; hier im Wortlaut:
Am Wochenende haben wir sowohl in der gedruckten Ausgabe der „Süddeutschen Zeitung“ als auch auf SZ.de ausführlich über die Ereignisse der Silvesternacht von Köln und die sexuelle Gewalt berichtet, die dort vielen Frauen angetan worden ist. Wir haben dabei unter anderem zwei Illustrationen verwendet.
Die eine zeigt eine Faust im Kopf, die andere symbolisiert einen sexuellen Übergriff auf eine weiße Frau durch eine schwarze Hand (http://on.fb.me/1SbvU9n). Diese zweite Illustration hat bei etlichen unserer Leserinnen und Leser Unverständnis und Wut hervorgerufen; sie kritisieren sie als sexistisch und rassistisch.
Unsere Absicht war, mit den beiden Illustrationen deutlich zu machen, dass sexuelle Gewalt gegen Frauen nicht nur aus physischen Übergriffen besteht, sondern meist im Kopf und im Denken beginnt. In den begleitenden Texten haben wir so differenziert wie möglich über die Ereignisse von Köln, die Angriffe auf die Frauen, die Motive und die Hintergründe der Taten, das Versagen der Polizei und auch über die Instrumentalisierung der Taten durch rechte Demagogen berichtet.
Die zweite Illustration läuft dieser differenzierenden Absicht jedoch entgegen. Sie bedient stereotype Bilder vom „schwarzen Mann“, der einen „weißen Frauenkörper“ bedrängt und kann so verstanden werden, als würden Frauen zum Körper verdinglicht und als habe sexuelle Gewalt mit Hautfarbe zu tun. Beides wollten wir nicht. Wir bedauern, wenn wir durch die Illustration die Gefühle von Leserinnen und Lesern verletzt haben und entschuldigen uns dafür.
Wolfgang Krach, Chefredakteur
Kriminelle Ausländer: Presserat wirft mehr Fragen auf, als Hilfe zu geben
Dürfen Journalisten erwähnen, dass Nordafrikaner und Araber wahrscheinlich an den Übergriffen auf Frauen in der Kölner Silvesternacht beteiligt waren? Der Deutsche Presserat, die moralische Instanz der Zeitungen und Magazine, sagt: „Noch akzeptabel“.
Was bedeutet „noch“? Eigentlich darf man – siehe Richtlinie 12 – die Herkunft von Verdächtigen nicht nennen. Aber es gibt Ausnahmen, so Presserats-Pressesprecherin Edda Eick im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst (epd):
- Es handelt sich um ein Massenverbrechen, das in dieser Dimension so noch nicht stattgefunden hat.
- Möglicherweise steckt eine größere kriminelle Struktur hinter der Tat und die Polizei fahndet mit Täterbeschreibungen.
Nicht erlaubt seien „bloße Spekulation darüber, ob das Motiv für die Taten mit der religiösen Zugehörigkeit etwas zu tun haben könnte; hierfür müsse es konkrete Anhaltspunkte geben“.
Fragen bleiben:
- Dürfen Journalisten bei einer Tat und einem Täter, der eine Frau vergewaltigt, keine Nationalität angeben?
- Oder erst bei der Fahndung?
- Gilt der Polizeibericht, wenn er eine Nationalität erwähnt, als Erlaubnis, diese zu erwähnen?
- Wann wird ein Verbrechen ein Massenverbrechen? Bei fünf, bei fünfzig oder erst bei mehreren hundert Tätern wie in Köln?
- Was sind konkrete Anhaltspunkte für eine religiöse Zugehörigkeit? Wird sie erst konkret, wenn der Täter „Allah ist groß“ gerufen hat oder ein Bekennerschreiben verbreitet?
- Wenn, so Eick, der Pressekodex mit seinem Verbot, die Nationalität zu nennen, die „Belange aller gesellschaftlichen Gruppen, die sich als Opfer tiefverwurzelter Vorurteile fühlen“ berücksichtigt: Wie unterscheidet man zwischen Vorurteilen und Urteilen? Selbst aufgeklärte Muslims beklagen das tief verwurzelte Frauenbild des Islam: Ist das ein Urteil oder Vorurteil oder „Stereotyp“?
Das Sowohl-Als-auch des Presserats macht die Arbeit in den Redaktionen nicht einfacher: „Journalisten dürfen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, Informationen zu verschweigen“, rät der Presserat; andererseits „können auch mit kleinen Meldungen schon starke Ressentiments gegen Minderheiten geschürt werden“.
**
Quelle: epd von Mittwoch, 6. Januar 2016; Gespräch mit Referentin für Beschwerdeführung beim Deutschen Presserat, Edda Eick.
In meinem Blog am 7. Januar hatte ich – ohne Kenntnis des epd-Berichts – vermerkt, es gebe keine Reaktion des Presserats. Auf seiner Homepage schweigt der Presserat auch am 8. Januar noch. In der Rubrik „Aktuelles“ stammt die letzte Meldung vom 3. Dezember 2015.
Kriminelle Ausländer und Flüchtlinge: Muss der Presserat seinen Kodex ändern?
Nach dem Silvesterabend auf dem Kölner Bahnhofsplatz werden Medien hart kritisiert: Dürfen sie sexuelle Übergriffe auf Frauen verschweigen oder verharmlosen, um Fremdenfeindlichkeit nicht zu schüren? Dürfen sie die Herkunft der Täter unterdrücken?
Auf der einen Seite sind Medien wie ARD und ZDF, aber auch die taz, die ihre Zurückhaltung verteidigen. Daniel Bax schreibt in der taz:
Unter dem Druck der rechten Gegenöffentlichkeit aus dem Netz, sind auch seriöse Medien im vorauseilendem Gehorsam dazu übergegangen, die Herkunft von Straftätern offensiv zu benennen – jedenfalls, so lange es sich um migrantische Straftäter handelt.
Auf der anderen Seite kritisieren nicht nur Nutzer der sozialen Medien die Zurückhaltung oder gar Einseitigkeit von Journalisten, vor allem im Fernsehen, sondern beispielsweise auch Spiegel-Redakteur Jan Fleischhauer. Er versteht die Menschen, die den „Nanny-Journalisten“ vorwerfen, „eher einem pädagogischen als einem journalistischen Auftrag zu folgen“.
Das sind die Fakten und Fragen:
- Der Presserat zieht diese Grenze in der Berichterstattung:
In der Berichterstattung über Straftaten wird die Zugehörigkeit der Verdächtigen oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten nur dann erwähnt, wenn für das Verständnis des berichteten Vorgangs ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, dass die Erwähnung Vorurteile gegenüber Minderheiten schüren könnte.
In dieser Richtlinie 12 überwiegt das pädagogische Moment. Der Presserat setzt voraus: Die Leser oder zumindest eine ausreichend große Zahl haben Vorurteile. Daraus folgt er: Der Journalist soll durch Verschweigen bewirken, dass die Leser in ihren Vorurteilen nicht bestärkt werden.
- Wie berichten Journalisten über Debatten, die öffentlich toben, ausgelöst durch die sozialen Netzwerke und einem Aktualitäts-Druck, der kaum Zeit zum Nachdenken lässt? Journalisten haben eine Recherche- und Sorgfalts-Pflicht: Reicht der Hinweis darauf aus, erst spät – vielleicht zu spät – zu informieren und reagieren?
- Gibt es eine Tendenz zur moralischen Zensur in einigen Medien? Hindert diese Zensur an einer intensiven Recherche? Der Vorwurf der Einseitigkeit aus moralischen Gründen trifft vor allen ARD und ZDF. FAZ-Redakteur Michael Hanfeld nennt es das „betreute Fernsehen“.
- Stehen wir vor einer Spaltung der Medien, zumindest im Internet: Die aktuellen, schnellen und vorschnellen, die jede Nachricht sofort raushauen, gegen die seriösen, die auf Sorgfalt achten, den Hintergrund ausleuchten und dem Leser Orientierung geben?
Die Debatte, geführt von Journalisten und in sozialen Netzwerken, sollte der Presserat aufgreifen: Dürfen Journalisten in einer aufgeklärten Gesellschaft zum Vormund ihrer Leser und Zuschauer werden? Sind sie laut Verfassung nicht Treuhänder der Bürger, die selber entscheiden sollen, wie sie Nachrichten bewerten? Hat sich die Öffentlichkeit nicht wesentlich durch die sozialen Netzwerke verändert – und muss nicht der Pressekodex darauf reagieren?
Sieben Tag nach der Silvesternacht in Köln hat sich der Presserat noch nicht geäußert – im Gegensatz zum DJV, der größten Journalistengewerkschaft; ihr Vorsitzender Frank Überall:
Eine nicht durch solide Recherchen gedeckte Verdachtsberichterstattung ist nicht nur unvereinbar mit den Prinzipien des professionellen Journalismus, sondern auch innenpolitisch brandgefährlich.
Barbara Schöneberger und das Übel der Verneinung
Kein normales Frauenmagazin
steht auf der Titelseite direkt unter dem Magazin-Namen „Barbara“: Barbara ist die neue Frauenzeitschrift von Gruner+Jahr mit einer Auflage von 350.000 Exemplaren. Barbara ist die Zeitschrift von Barbara Schöneberger, die einer der schönsten, prominentesten und gefragtesten Moderatorinnen ist, auch Sängerin und bald Wachsfigur im Berliner Kabinett von Madame Tussaud.
Und was ist das Frauenmagazin – außer dass es unnormal ist? Keine Antwort auf der Titelseite, nur noch eine Nicht-Nachricht:
Ohne Botox, Detox und Sex-Tipps
Profis werden kaum diese Titelzeilen erfunden, gar geduldet haben. Nehmen wir einfach an, Barbara habe selbst Hand angelegt und muss Journalismus noch erkunden (und nimmt dabei gleich ihre Fans als Leserinnen mit).
Nicht-Nachrichten sind selten eine Nachricht: Heute kein Wasserrohr-Bruch! Heute kein Brandanschlag! Heute keine Höcke-Rede!
Leser wollen wissen, was ist; sie wollen nicht wissen, was nicht ist. Wolf Schneider zitiert in „Deutsch für Kenner“ eine Studie von „Psychologie today“: Menschen brauchen 48 Prozent mehr Zeit, eine verneinende Aussage zu verstehen als eine bejahende. Von seltenen Ausnahmen abgesehen gilt der Rat für jeden, der seine Leser ernst nimmt: Meide die Verneinung!
Also statt „Keine Waffenruhe mehr in der Ukraine“: „Wieder Krieg in der Ukraine“ (oder wem „Krieg“ zu weit geht: Wieder Kämpfe in der Ukraine); da muss keiner überlegen, was ihm der Redakteur sagen will.
Also Frau Schöneberger: Nur Mut! Sage Deiner Leserin, was sie ohne Sex erwartet!
Lügenpresse (9) Meine Chronik des Jahres: Wie Regionalzeitungen reagieren

So schickte eine Leserin der Ruhr-Nachrichten eine Seite zurück, auf denen Fakten zu Flüchtlingen aufgelistet wurden
„Psychokrieg mit Todesanzeigen gegen Journalisten, die über Neonazis berichten“, so begann der erste von meinen neun Blogs zur Lügenpresse.
Peter Bandermann ist für mich der Journalist des Jahres: Der Reporter der Ruhr-Nachrichten musste im Internet seine eigene Todesanzeige lesen, von Neonazis ins Netz gestellt; der Spruch am Kopf der Anzeige endet mit der Zeile „Endlich einer weniger. Danke Oh Herr“. So will Pegida, so wollen die Neonazis mit dem „Herrn“ das Abendland retten. Peter Bandermanns Haus wurde mit Farbbeuteln beworfen, er macht trotzdem weiter.
Lügenpresse 2 – Chef der Wügida gibt der Main-Post kein Interview
Pegida ist kein ostdeutsches Phänomen, selbst im christlichen Würzburg rüsten die Neonazis auf gegen die Zeitung.
Lügenpresse 3 – Des Lesers Lust an der Verschwörung
Ein Leser schreibt: „Die Presse lügt nicht, sie schreibt nur nicht die Wahrheit“ und belegt dies mit einer Verschwörungs-Theorie. Die Redaktion in Erfurt widerlegt sie – in der Zeitung
Lügenpresse 4 – Ein Chefredakteur zeigt Haltung
Der Chefredakteur ist Wolfram Kiwit von den Ruhr-Nachrichten, der eine komplette Seite mit Fakten zur Flüchtlings-Devbatte druckt. Eine Leserin schickte die Seite an die Chefredaktion zurück und schreibt quer drüber „Lügenpresse“. Kiwit reagiert in seinem Blog und erläutert die Haltung der Redaktion: „Versachlichen, gründlich recherchieren, Fakten sprechen lassen und nicht auf den Zug eines meist parteilichen Empörungs-Journalismus springen. Wir machen einfach weiter.“
Lügenpresse 5 – Wie sich Spiegel-Reporter von einem Diktator nicht korrumpieren ließen
So arbeitet also die deutsche „Lügenpresse“: Vom Diktator der Ex-Sowjet-Republik Kasachstan lässt sie sich nicht manipulieren, und von prominenten deutschen Ex-Politikern lässt sie sich auch nicht zur Beugung der Wahrheit verführen.
Lügenpresse 6 – Können wir Zeitung machen gegen die Vorurteile der Leser?
Was folgt aus den Vorwürfen der Leser für die Redaktion? Populismus? Nein, aber in Analysen, Kommentaren und Hintergrund-Geschichten soll sie die Erfahrungs-Welt der Leser aufnehmen und einordnen. Dazu gehört vor allem, die Meinungen der Leser ins Blatt zu heben, die Zeitung zum Forum zu machen, auch wenn es bisweilen wehtut.
Lügenpresse 7 – CSU-Friedrich als parlamentarische Pegida, eine rechte APO ahnend
Einfach nur ein Zitat aus Bayern: „Die veröffentlichte Meinung und die öffentliche Meinungen sind 180 Grad auseinander.“ Ein Politiker-Zitat.
Lügenpresse 8 – Wenn Leser lügen
Rund acht Prozent der Leser lobten vor zehn Jahren ein Heft des NZZ-Magazin „Folio“ zum Thema Katastrophen – das es nie gegeben hat.
**
Am 30. September reagierte
Thomas Bärsch reagierte mit fünf Punkten in der Zeitung:
1. Unser oberster Anspruch heißt Wahrhaftigkeit
Wer jemanden der Lüge bezichtigt, der beschuldigt ihn, vorsätzlich wahrheitswidrig zu reden oder zu schreiben. Er nimmt zugleich für sich in Anspruch zu wissen, was die Wahrheit ist.Wir Journalisten erheben diesen Anspruch für uns nicht – vor allem aus der Erkenntnis heraus, dass es die eine objektive und unveränderliche Wahrheit oft nicht gibt. Stattdessen haben wir uns die wahrhaftige Unterrichtung der Öffentlichkeit zur Aufgabe gemacht.Wahrhaftigkeit heißt, nach der Wahrheit zu streben. Es heißt nicht, in ihrem vollständigen Besitz zu sein oder dies von sich zu behaupten. Wenn wir berichten, dann im Ergebnis von Recherchen, von Informationen aus verschiedenen Quellen und oft auch auf der Grundlage unserer Beobachtungen – zum Beispiel bei Demonstrationen.
2. Wir reklamieren für uns keine Vollständigkeit
Es gehört zur journalistischen Sorgfalt, dass wir unsere Leser erkennen lassen, was recherchierte Fakten, was Aussagen Dritter und was unsere eigenen Beobachtungen sind. Dabei vermeiden wir es, den Eindruck zu erwecken, der von uns gelieferte Bericht, das von uns gezeichnete Bild spiegele die Wirklichkeit bis ins letzte Detail wider. Vielmehr wählen wir oft aus einer Vielzahl von Fakten und Aussagen aus, die es den Lesern ermöglichen, sich ein möglichst ausgewogenes und umfassendes Bild zu machen und eine eigene Meinung zu entwickeln.Wichtig ist dabei für uns vor allem, dass wir keine Fakten weglassen, die entscheidend für das Verständnis eines Sachverhalts sind oder diesen sogar konterkarieren.
3. Weglassen ist keine Fälschung und keine Lüge
Immer wieder sehen wir uns mit dem Vorwurf konfrontiert, wir würden die Wirklichkeit verfälschen, indem wir Fakten oder auch einzelne Meinungsäußerungen nicht veröffentlichen. Dann ist das Wort „Lügenpresse“ schnell gesagt.Tatsache ist, dass wir Fakten und Aussagen nach ihrer Relevanz für die Beurteilung eines Sachverhalts wichten. Darüber, ob unsere jeweilige Entscheidung richtig ist, wird vor allem in der aktuellen Flüchtlingsdebatte oft gestritten – übrigens auch während der Entscheidungsfindung innerhalb der Redaktion.Entscheidend ist für uns, ob Informationen nachprüfbar oder glaubhaft sind. Wenn es etwa einen Polizeieinsatz in Flüchtlingsheimen gibt, berichten wir darüber.
4. Facebook & Co. sind nicht die Wirklichkeit
Wir berichten nicht über alles, was wir hören oder lesen. Das gilt vor allem dann, wenn es auf Gerüchten beruht, die sich über die sozialen Netzwerke verbreiten. Für uns gilt: dass eine Behauptung oft wiederholt wird, macht sie nicht wahr.Leider beobachten wir eine gewisse Neigung mancher Menschen, Gerüchten und Mutmaßungen zu glauben, dagegen aber von Journalisten recherchierte oder hinterfragte Informationen als Lüge abzustempeln. Stammen diese Informationen gar aus offiziellen Quellen – also zum Beispiel von Behörden –, lässt der Vorwurf der Staatsnähe meist nicht lange auf sich warten.
5. Meinungs- und Pressefreiheit sind zwei Dinge
Gern wird jetzt von diesen beiden Freiheiten gesprochen. Die erste ist ein Grundrecht, das den Bürgern garantiert, ihre Meinung frei und offen zu äußern – auch gegen den Staat. Der AfD-Fraktionschef Björn Höcke nutzt dieses Recht, wenn er etwa auf Demonstrationen spricht.Die Pressefreiheit dagegen ist das Recht der Presse auf freie Ausübung ihrer Tätigkeit – ohne staatliche Zensur oder jedwede andere Form der Einmischung von außen. Zu dieser Freiheit gehört für uns, dass wir selbst entscheiden, ob und in welchem Umfang wir von der Aktuellen Stunde und der Demonstration am Mittwoch berichten. Schon jetzt können wir versprechen, dass wir dies ausführlich tun werden. Nicht versprechen können wir dagegen, dass unsere Berichterstattung allen passen wird.
**
Zum guten Schluss für alle Chefredakteure, die 2015 wenig zu lachen hatten. Thomas Bärsch ist amtierender Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, der das Schmunzeln nicht verlernt hat; er schrieb am 13. Dezember diesen Tweet
Ist das laute Abspielen von Heino eigentlich noch Ruhestörung oder schon Landfriedensbruch?
**
Im Dezember ist dieser Blog zum Tausender geworden: Über tausend Blog sind seit der Gründung 2012 von 160.000 Besuchern gelesen worden. Es ist ein kleiner Blog geblieben, bewusst auf eine kleine feine Leserschaft von Journalisten konzentriert und auf Leser, die Journalismus als Garanten der Demokratie verstehen.
Ich wünsche allen Lesern, Kommentatoren und Kritikern meines Blogs ein gutes Jahr 2016, in dem sie das Lachen und Lächeln nicht verlernen sollten.
Die „Rauh-Nächte“ zwischen den Jahren: Von Vampiren und Werwölfen (Friedhof der Wörter)
Viele können schon mit dem zweiten Weihnachtstag wenig anfangen: Genug Ente und Marzipan, genug Familie und Stille Nacht. Dabei ist Weihnachten – historisch betrachtet – immer kürzer geworden: Johann Sebastian Bach schrieb noch Kantaten zum dritten Weihnachtstag – wann sollten wir sie heute aufführen?
Für die christlichen Kirchen dauert Weihnachten sogar bis zum Drei-Königs-Fest oder bis zum 2. Februar: Erst dann werden die Tannenbäume entsorgt und die Krippen verpackt. In Armenien, der ältesten christlichen Kirche, aber auch in Russland oder der Ukraine feiern die orthodoxen Kirchen heute noch, wie seit Jahrhunderten, erst am 6. Januar Weihnachten; so lange müssen dort die Kinder auf die Bescherung warten.
Als sich der Kalender noch nach dem Mond richtete, waren die Tage nach Weihnachten bei uns eine ruhige Zeit, in der die Frauen keine Wäsche wuschen, die Männer nur das Notwendigste auf den Bauernhöfen taten und die Kinder nach Sonnenuntergang nicht mehr das Haus verlassen durften. Die Familie saß zusammen, oft mit den Nachbarn. Doch die reine Idylle war dies nicht.
Irgendeiner begann, wenn es draußen dunkelte, von Werwölfen zu erzählen, von Vampiren und von Jungfrauen, die nicht nur den Bräutigam, sondern auch den Tod sehen. Ein anderer hatte die Tiere sprechen gehört, wieder ein anderer ihnen gelauscht – und sei prompt verstorben.
„Rauhnächte“ nannten unsere Altvorderen die Zeitspanne zwischen Winteranfang, als dem kürzesten Tag des Jahres, und dem Fest der drei Könige, wenn die Tage wieder länger werden. Was „rauh“ sei in diesen Nächten, haben Sprachhistoriker nicht geklärt. Es könnte von der „Reue“ abstammen.
Die Tage zwischen den Jahren sind eine gute Zeit der Erinnerung: Man kann das Böse bereuen und das Gute in die Zukunft verlängern.
So lassen wir auch die „Rauhnächte“ auferstehen. In den Buchhandlungen gibt es schon seit Jahren eigene Lektüre für die Zeit zwischen den Jahren – um zur Ruhe zu kommen. Die Unruhe kommt früh genug wieder.
**
überarbeitete Fassung des „Friedhof der Wörter“ von Silvester 2012
Gewerkschafts-PR wird zum Weihnachts-Aufmacher der Süddeutschen
Der Aufmacher der Süddeutschen Zeitung in der Weihnachts-Ausgabe ist ein Angstmacher: „Flüchtlingskrise und Terrorgefahr überfordern Deutschlands Polizei“, so der Beginn der Unterzeile. Ob ein Angstmacher die Leser unterm Tannenbaum abholt, dürften die meisten Blattmacher deutlich verneinen: Sie empfehlen den Mittelweg zwischen dem Elend der Welt und der Rührseligkeit der stillen Nacht. Den geht in der SZ Heribert Prantl, der Moralist für besondere Aufgaben (gern auch christlich), auf der vierten, der Meinungsseite: Auch er denkt nach über Angst und Eingreiftruppen, aber er meint nicht die irdischen, in der Polizeigewerkschaft organisierten, sondern die himmlischen, die Engel.
Der Prantl wäre der bessere Aufmacher gewesen: „Engel ist jeder, der Kraft hat, aus dem Ring der Unversöhnlichkeit zu springen.“ Aber ein Kommentar als Aufmacher? Der Angstmacher, den die SZ wählte, ist auch einer, wenn man ihn freundlich beurteilt. Eigentlich ist er ein PR-Beitrag der Gewerkschaft, der wie eine Nachricht präsentiert wird.
Recherche fand nicht statt. Es gibt eine einzige Quelle: Zwei Funktionäre der Gewerkschaft der Polizei, der Chef in NRW und Vizechef im Bund; dazu kommt ein Polizist aus Recklinghausen, der einen „Brandbrief“ geschrieben hat. In die Funktionärs-Erregung stimmt der Redakteur ein: „Die Überlastung hinterlässt Spuren“, wobei der Redakteur durchaus seine eigene Recherche-Überlastung gemeint haben könnte.
Da kommt kein Ministerium, weder Bayern noch Bund, zu Wort, kein anderes Bundesland als NRW rückt in den Blick, keine der privaten Sicherheitsfirmen, die auch ins Visier geraten, wird befragt. Selbst die Grafik zum Text, die den Stellenabbau illustriert, ist schludrig: Gemischt werden Angaben von Gewerkschaft und Statistischem Bundesamt; die Zeitabstände auf einer linearen Zeitachse sind höchst unterschiedlich, mal zwei Jahre, dann drei Jahre, dann neun (!) Jahre, abschließend ein Jahr. Zudem stimmen die Zahlen im Artikel-Text und in der Grafik nicht überein: Während der Text von einem Abbau „bis zu 17.000 Stellen“ spricht, zeigt die Grafik einen Abbau von 22.000.
Die Vergleiche hinken: Was hat die Schließung von Dorfwachen mit Großeinsätzen wie G-7-Gipfel und Bundesliga-Spielen zu tun? Was eine Rufbereitschaft mit „Heiligabend in Uniform“ (so die irritierende Überschrift)? Wahrscheinlich haben die Funktionäre die schiefen Vergleiche geprägt – aber ist es Aufgabe eines Journalisten, sie so zu übernehmen?
Wahrscheinlich haben wir zu wenige Polizisten und zu viele Überstunden – doch darum geht es nicht: Es geht um professionelle Standards des Journalismus, um die rechten Themen zur rechten Zeit, um ausführliche Recherche, um Nachrichten, nach denen man sich richten kann, um klare Analysen, die dem Leser ein eigenes Urteil ermöglichen, um eine klare Sprache – und Kommentare, die als Kommentare zu erkennen sind.
**
Quelle: „Heiligabend in Uniform“, SZ 24. Dezember 2015
Das Wort des Jahres gendert nicht: Gibt es die „Flüchtlingin“? (Friedhof der Wörter)
„Flüchtling“ soll das Wort des Jahres sein. Es ist das Thema des Jahres und wird das Thema des nächsten sein. Aber was ist ungewöhnlich an dem Wort, das ihm eine Jury zu Ruhm und Ehre verhilft?
Maria und Josef waren Flüchtlinge, als sie mit ihrem Baby nach Ägypten flohen: So alt ist die Geschichte der Flüchtlinge – und noch viel älter. So lange gibt es das Wort oder ähnliche in anderen Sprachen. Der Sprachwissenschaftler Peter Eisenberg nennt „Flüchtling“ ein altes Wort und meint: Es ist so alt, dass keiner sein wirkliches Alter kennt.
Die Sprach-Experten vom „Wort des Jahres“ hängen dem „Flüchtling“ ein dunkles Gewand um: „Es klingt für sprachsensible Ohre tendenziell abschätzig“ – wegen der Endung „ling“, auf die auch Wörter wie Eindringling enden, Emporkömmling oder, was Journalisten besonders bedrückt, Schreiberling.
Auch wer nicht besonders sprachsensibel ist, kennt nette „ling“-Wörter. Sollen wir, wegen seiner ling-Tendenz, den Frühling abschaffen? Oder den Liebling, den Säugling und Zwilling, den Pfifferling und Saibling, den Häuptling und Schmetterling?
Aber das Abschätzige, das Experten vermuten, liegt an einer Eigenheit des Flüchtlings: Das Wort ist männlich und sonst nichts. Die „Flüchtlingin“ ist unmöglich in der deutschen Sprache. Das hat Gründe, komplizierte, die Wissenschaftler erklären können, aber sie alle kommen zu dem Schluss: Es kann keine „Flüchtlingin“ geben.
Das werden selbst die Grünen einsehen müssen und sonstige Gender-Aktivisten; aber sie greifen schon zu einem neuen Wort: Die oder der Geflüchtete. Aber bedeutet das neue Wort dasselbe wie der „Flüchtling“?
Nein, sagt der Sprachwissenschaftler Eisenberg:
„Auf Lesbos landen Tausende von Flüchtlingen, ihre Bezeichnung als Geflüchtete ist zumindest zweifelhaft. Umgekehrt wird auch ein aus der Adventsfeier Geflüchteter nicht zum Flüchtling.“
Übrigens: Das Wörterbuch der Brüder Grimm findet einen Beleg für die „Flüchtlingin“ – ein „J.P.“ schrieb vom „vom Busen einer schönen Flüchtlingin“. Das passt.
**
Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. Dezember 2015
Quelle für Eisenberg: FAZ, 16. Dezember 2015, Aufmacher Feuilleton „Hier endet das Gendern. Flüchtlinge haben ein Geschlecht, aber das Wort braucht keines“
Rubriken
- Aktuelles
- Ausbildung
- B. Die Journalisten
- C 10 Was Journalisten von Bloggern lernen
- C 5 Internet-Revolution
- C Der Online-Journalismus
- D. Schreiben und Redigieren
- F. Wie Journalisten informiert werden
- Friedhof der Wörter
- G. Wie Journalisten informieren
- H. Unterhaltende Information
- I. Die Meinung
- Journalistische Fachausdrücke
- K. Wie man Leser gewinnt
- L. Die Redaktion
- Lexikon unbrauchbarer Wörter
- Lokaljournalismus
- M. Presserecht und Ethik
- O. Zukunft der Zeitung
- Online-Journalismus
- P. Ausbildung und Berufsbilder
- PR & Pressestellen
- Presserecht & Ethik
- R. Welche Zukunft hat der Journalismus
- Recherche
- Service & Links
- Vorbildlich (Best Practice)
Schlagworte
Anglizismen BILD Braunschweiger Zeitung Bundesverfassungsgericht chefredakteur DDR Demokratie Deutscher-Lokaljournalistenpreis Die-Zeit dpa Duden Facebook FAZ Feuilleton Goethe Google Internet Interview Kontrolle der Mächtigen Leser Leserbriefe Luther (Martin) Lügenpresse Merkel (Angela) New-York-Times Organisation-der-Redaktion Persönlichkeitsrecht Politik Politiker-und-Journalisten Pressefreiheit Presserat Qualität Schneider (Wolf) Soziale-Netzwerke Spiegel Sport Sprachbild Sprache Süddeutsche-Zeitung Thüringer-Allgemeine Twitter Wahlkampf Welt Wulff Zitat-der-Woche
Letzte Kommentare
- Daniel Grosse: Die Sendung mit der Maus sollte uns „ja so erwachsenen und klugen“ Autoren und...
- Sportreporter: In meiner Redaktion kommt es vor, dass Lokalsport-Redakteure sonntags für zehn bis zwölf Seiten...
- Udo Heinze: Ich kam Anfang der 70-er von Gesprächen mit der amerikanischen Newspaper-Association zurück. Dort...
- Härtel: Ich bin von den viel verwendeten Anglizismen genervt. Im Berufsleben begegnet mir jetzt „content“, „hashtag“,...
- Oliver Horvath: Männliche Zuschauerinnen sehen wohl aus wie weibliche Zuschauer – wie eine Gruppe eben...
Meistgelesen (Monat)
Sorry. No data so far.
Meistgelesen (Gesamt)
- Der Presserat braucht dringend eine Reform: Die Brand-Eins-Affäre
- Der NSU-Prozess: Offener Brief aus der Provinz gegen die hochmütige FAZ
- Wie viel Pfeffer ist im Pfifferling? (Friedhof der Wörter)
- Die Leiden des Chefredakteurs in seiner Redaktion (Zitat der Woche)
- Wer entdeckt das längste Wort des Jahres? 31 Buchstaben – oder mehr?