Alle Artikel der Rubrik "Aktuelles"

Polizisten und Behörden sollen die Wahrheit sagen, erklärt Thüringens Innenminister

Geschrieben am 19. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Es gibt bisweilen seltsame Pressemitteilungen aus Ministerien, das ist eine davon:

„Thüringens Innenminister Holger Poppenhäger spricht sich für bessere Kommunikation aus“ lautet die Überschrift zu einem Treffen des Innenministers mit Vertretern des Bundes der Kriminalbeamten (die namenlos bleiben), der Deutschen Polizeigewerkschaft (die namenlos bleiben) sowie der Gewerkschaft der Polizei (die namenlos bleiben). Dann folgen drei Sätze, die bemerkenswert sind:

  • Der Innenminister und die Vertreter der Gewerkschaften waren sich einig, dass für die Pressearbeit in den Polizeiinspektionen das Thüringer Pressegesetz sowie der Pressekodex des Presserates maßgeblich sind.
  • Öffentlichkeitsarbeit erfolgt dann, wenn sie geboten ist, der Vorfall von öffentlichem Interesse ist und die allgemeinen Persönlichkeitsrechte dabei gewahrt bleiben.
  • Landesbehörden sind dabei grundsätzlich gegenüber Journalisten zur wahrheitsgemäßen Auskunft verpflichtet, so lange keine Ermittlungsergebnisse gefährdet oder persönliche Angaben ohne öffentliches Interesse preisgegeben werden.

Was ist bemerkenswert:

1. Ein Minister muss hervorheben, dass seine Beamten die Wahrheit sagen sollen.

2. Der Minister beruft sich auf den Pressekodex, der Journalisten zur Wahrheit verpflichtet – und der nicht für den Staat geschrieben wurde, sondern für die Kontrolleure des Staates.

3. Nach so viel bewunderswerter Offenheit und Wahrheitsliebe tritt der Minister gleich den Rückzug an: Die Polizei entscheidet, was geboten ist, sie entscheidet, was von öffentlichem Interesse ist, und sie entscheidet, was Ermittlungen gefährdet. Bleibt dann doch nur der Wild-Unfall auf der Kreisstraße übrig?

Immerhin stellte der Minister klar, dass er keinen politischen Einfluss nehme und der Polizei keinen Maulkorb mehr umbinden wolle. Hintergrund des Treffens und der Presseerklärung ist die Empörung über einen Maulkorb-Erlass des Ministers, den Kai Christ öffentlich gemacht hatte, der Vorsitzende der Gewerkschaft der Polizei (GdP) in Thüringen: Die Polizei solle nicht über Einsätze in Asylbewerber-Heimen berichten. Das sei politisch nicht erwünscht, hatte der Gewerkschafts-Chef mehrfach erklärt.

 

 

 

 

„Es war einmal ein Buckliger“ – Wie schreiben wir von Behinderten? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.

Wer an die ostpreußische Ostsee-Küste fährt, kann mit ein wenig Glück nach einem Sturm Bernsteine finden. In den schönsten Steinen sind Insekten eingeschlossen, die nicht rechtzeitig mehr den Abflug gefunden haben. „Inklusion“ nennen Wissenschaftler diese Laune der Natur und fanden dafür ein lateinisches Wort: Inkludieren, das ist „einschließen“.

Das „Inkludieren“ war lange Experten vorbehalten in der Mineralogie, Mathematik oder Medizin, bevor es Reiseveranstalter populär machten: „All inclusive“ in Mallorca führt zu hemmungslosem Essen und Trinken.

In den vergangenen Jahren wanderte die „Inklusion“ vom Bernstein, der Mengenlehre und den Inklusiv-Gelagen der Touristen – in unsere Schulen. „Inklusion“ meint den gemeinsamen Unterricht von Behinderten und Nicht-Behinderten. Wie sinnvoll eine solche Wörter-Wanderung ist, wäre eine Debatte wert; aber der Begriff ist bei Eltern und Schulpolitikern eingeführt.

Wahrscheinlich mögen wir das lateinische Wort, weil wir in unserer Sprache unentwegt über „Behinderte“ stolpern. Wir wollen politisch korrekt sein und niemals diskriminierend vom „Spasti“ sprechen, wie üblich in der Jugendsprache der neunziger Jahre. Aber was ist korrekt?

Dürfen wir einen Menschen etwa einen „Buckligen“ nennen? Günter Grass tut es in seiner „Blechtrommel“: „Es war einmal ein Buckliger, der hieß Matzerath und ergoß in der Irrenanstalt auf jungfräuliches Papier sein dreißigjähriges Leben.“ Immerhin bekam Grass den Literatur-Nobelpreis.

Auch Journalisten tun sich schwer, verirren sich in gutgemeinte Klischees wie „Die Frau meistert tapfer ihr Schicksal“ oder „Der Mann ist an den Rollstuhl gefesselt“. Barrieren in der Sprache – so lautet das Thema einer Arbeitsgruppe, wenn sich Lokaljournalisten zu einer Redaktionskonferenz treffen: Sprechen wir von „behindert“ oder „gehandicapt“ oder „eingeschränkt“? Wie reagieren Behinderte selber auf die sprachliche Verunsicherung?

Die Journalisten wollen einen Leitfaden für treffende Begriffe aufstellen. Wir sind gespannt.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 19. Oktober 2015,

Zur Info:

Die Redaktionskonferenz wird veranstaltet von der Bundeszentrale für politische Bildung: „Ganz normal – oder was?“ vom 23. bis 25. November in Warendorf.  In der Ankündigung wird von „absurden Fällen“ berichtet: Ein 13-jähriger Gymnasiast muss die Mädchentoilette benutzen, weil es kein Jungs-Klo an der Schule gibt, das breit genug für seinen Rollstuhl wäre; bei einer Innenstadtsanierung baute man die neuen Straßenlampen, eine hinter der anderen, auf dem Blinden-Leitsystem…

 

 

Das Wörterbuch der Flucht (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.
1 Kommentar / Geschrieben am 11. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.

Flucht ist so alt wie die Geschichte der Menschen – und so alt wie die Geschichte der Deutschen. Das Auswandererhaus in Bremerhaven, das sein zehnjähriges Bestehen feiert, zeigt in eindrucksvollen Ausstellungen: Deutschland ist seit Jahrhunderten geprägt durch Menschen, die fliehen.

Wer im Wörterbuch der Flucht liest, entdeckt den Reichtum unserer Sprache und entdeckt die Schicksale, die sich in den Wörtern verbergen. Diese Gruppen sind im Auswandererhaus versammelt:

Die Glaubensflüchtlinge aus Frankreich im 17. Jahrhundert, etwa die Hugenotten, die nach Thüringen kamen;

die politischen und wirtschaftlichen Flüchtlinge im 19. Jahrhundert, das Historiker als das „Jahrhundert der Flüchtlinge“ werten: Die Liberalen flohen vor Verfolgung, die Armen aus existentieller Not; rund sieben Millionen gingen in Bremerhaven an Bord und hofften in der Neuen Welt auf ein besseres Leben;

Die jüdischen Flüchtlinge in der Nazi-Zeit, aber auch in den Jahrzehnten und den Jahrhunderten davor;

die Kriegs-Flüchtlinge im Osten des Deutschen Reichs, die Rache, Zorn und Unterdrückung der Besatzer am Ende des Zweiten Weltkrieges fürchteten;

die Vertriebenen, denen die Sieger des Kriegs die Heimat nahmen, ob in Ostpreußen, Schlesien oder dem Sudetenland;

die Bürgerkriegs-Flüchtlinge heute, die das nackte Leben retten wollen;

die Wirtschafts- oder Armuts-Flüchtlinge unserer Tage, die den deutschen Auswanderern im 19. Jahrhundert ähneln – aber kein gelobtes Land mehr finden, das auf sie wartet und ihnen ein neues Leben verspricht.

Der Einwanderer und der Auswanderer tauchen in der aktuellen Debatte als Begriff nur noch selten auf, es sei denn im politischen Streit um ein Einwanderungsgesetz oder in der Frage, ob Deutschland ein Einwanderungsland sei.

Asylanten und Migranten sind auch noch Einträge im Wörterbuch der Flucht – und das Bürokraten- und Soziologen-Ungetüm von „Menschen mit Migrationshintergrund“.

So viele Wörter, so viele Menschen und noch mehr in Not.

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Thüringer Allgemeine, 12. Oktober 2015, Friedhof der Wörter

Ein westdeutscher Journalist erlebt die drei Epochen der deutschen Revolution (Teil 2)

Geschrieben am 3. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 3. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles.
Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West - Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. - Klartext-Verlag, 14.95 Euro

Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. – Klartext-Verlag, 14.95 Euro

Fünfundzwanzig Jahre danach wundern sich die Deutschen im Westen, dass die Deutschen im Osten nicht so denken wie sie; und es wundern sich die Deutschen im Osten, dass die Deutschen im Westen sie nicht verstehen. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Westen und halten die im Osten für widerborstig und undankbar. „Das ist doch nicht normal“, sagen die im Osten und halten die im Westen für arrogant und geizig.

Noch schwieriger sind die, die das Sprechen über West und Ost verbieten wollen. Sie argumentieren: Wenn wir nicht mehr über die Trennung sprechen, bauen wir nicht weiter mehr an der unsichtbaren Mauer. Als ob die Wirklichkeit sich an solch gute Ratschläge hält.

Die innere Einheit ist bestenfalls eine fragile Angelegenheit, meint der Berliner Journalist Markus Decker, der sich selbst einen „Ostdeutschen mit westdeutschem Migrationshintergrund“ nennt. Er hat dreißig Westdeutsche interviewt, die in den Osten gezogen sind; selbst über alle, die sich im Osten heimisch fühlen, schreibt er: „Mühelos ist es eigentlich nie“.

Und was für Zahlen! Die Völkerwanderung innerhalb von Deutschland ist beeindruckend:

—— Fast vier Millionen kamen aus der DDR in den Westen; jeder Zehnte ging allerdings wieder zurück;

—— über vier Millionen wanderten nach der Einheit vom Osten in den Westen;

—— Aber auch in die andere Richtung setzte sich vor der Einheit eine halbe Million in Bewegung, meist um die Familie zusammenzuführen.

—— Weit über zwei Millionen wechselte nach 1989 vom Westen in den Osten.

So viele Millionen! Aber die Einheit wartet noch immer. „Merkwürdig, unnatürlich und entsetzlich“ findet ein Engländer den „sogenannten Ossi-Wessi-Konflikt“ und nennt ihn eine Verbitterung: Frederick Taylor kommt aus dem Mutterland der Demokratie, spricht deutsch und schrieb ein dickes Buch über die Mauer und ihre Geschichte. Er erzählt beispielhaft von einer Veranstaltung in Berlin, in der zwei „gebildete Individuen“ aneinander geraten waren:

„Ein Veteran der früheren ostdeutschen Medien behauptete lautstark und der Wahrheit keineswegs entsprechend, dass er noch nie einen Westdeutschen getroffen habe, der auch nur mit einem Cent zum Wiederaufbau des Ostens beigetragen hatte. Woraufhin ein noch bekannterer Medienmann mit einem Schwall von Beschimpfungen reagierte und seinerseits einige farbige Ansichten zum Besten gab über die östlichen Defizite im Umgang mit dem Westen.“

Als Taylor nachher einen deutschen Historiker fragte, der den Streit auch beobachtet hatte, antwortete dieser mit einem verlegenen Lächeln: Herr Taylor, Sie müssen sich wie ein Anthropologe vorgekommen sein beim Studium der Kämpfe primitiver Volksstämme.

Wann hat das angefangen, dieses Misstrauen, dieses Vorurteilen? Wenige Wochen nach den Revolutions-Feiern, dem Klopfen auf die Trabbis, dem Umarmen, dem Glück der Einheit stehe ich geduldig in der Schlange vor einer Eisenacher Metzgerei. Es ist Samstag, ein kalter Wintermorgen mit dem typischen Schwefelgeruch im Eisenacher Tal, der in Nase und Augen beißt, es ist noch DDR.

Ein Mann, knapp fünfzig, in einen Wintermantel mit Pelzkragen gehüllt, kommt in die Metzgerei. Er ist ein Westdeutscher: Jeder konnte damals den anderen an seiner Kleidung und seinem Gang identifizieren. Der Mann geht langsam an der Schlange vorbei zur Theke und legt zwei, drei Hundertmark-Scheine auf das Glas und sagt: „Alles!“ Die Verkäuferin sieht das westdeutsche Geld und packt dem Mann, einem Wirt aus dem nahen Herleshausen, wirklich alles ein. Die Auslagen sind leer geräumt, die Wartenden gehen nach Hause, ohne zu murren.

So hat es begonnen. Erst kam dieser Wirt, dann kamen die Versicherungs-Vertreter und die Verkäufer, die ihre alten Autos zu Neupreisen verkauften, dann die Treuhand und die Unternehmer, die viele arbeitslos nach Hause schickten.

Sicher gab es auch die anderen im Westen – wie den Lebkuchen-Unternehmer aus Bayern, an den sich Katrin Göring-Eckardt erinnert. Er schickte vor Weihnachten 1989 viele Kisten zu einer Kirchgemeinde im Osten. Es waren nicht allein die mit Lebkuchen gefüllten Dosen, die die Menschen rührten, es war die Geste. Göring-Eckardt erinnerte sich später: „Diese Dose gewinnt ihren Wert dadurch, das sich jemand im Westen die Frage gestellt hat: Wie können wir zeigen, dass wir zusammengehören? Man hatte einfach an uns gedacht, und das war schön. Ich weiß, dass viele diese Dose noch heute besitzen.“

Viele aus dem Westen kamen als Idealisten, als Freunde der Revolution in das Land, das immer noch DDR hieß. Viele – als Unternehmer oder in der Treuhand – mussten etwas tun, was unausweichlich war als Konsequenz eines beispiellos verfehlten Experiments, das man sozialistisch nannte. Aber wer urteilt schon gerecht, wenn er nach der Euphorie der Freiheit ohne Arbeit dasteht, mit wenig Geld und noch weniger Zukunft?

Nur – was ist schon normal in einer Revolution? Und erst recht danach?

Die Deutschen haben Erfahrungen mit großen Kriegen und schweren Niederlagen, aber sie haben keine Erfahrung mit Revolutionen. So glauben wir, im Osten wie im Westen, nach dem Knall kommt die neue Zeit, einfach so, vielleicht ein wenig holprig, aber sie kommt. Doch eine Revolution ist keine Bundesliga-Saison, in der nach zehn Monaten der Meister seinen Triumph feiert und der Absteiger seinen Trainer feuert. Revolutionen brauchen Zeit, viel Zeit, und ihr wahrer Erfolg kommt erst spät, für viele zu spät. Deshalb ist der Osten immer noch anders: Die Menschen in Erfurt und Neubrandenburg, in Görlitz und Magdeburg denken, handeln und träumen nicht wie die Menschen in Essen und Braunschweig, in Konstanz und Flensburg.

In diesem Buch „Die unvollendete Revolution“ werde ich die Geschichte der Revolution als eine lange deutsch-deutsche Geschichte erzählen, als meine Geschichte, als mein Erleben – angefangen von den Kerzen in den Fenstern, die ich als Kind für die Brüder und Schwestern in der Zone angezündet hatte. Es sind die Geschichten eines Westdeutschen, den die Zone, die DDR, die Revolution und die nachrevolutionären Wirren in den Bann geschlagen hatte.

Wann hatte ein Deutscher schon mal die Gelegenheit, all dies unmittelbar zu erleben? Die Tyrannei der Unfreiheit und den Rausch der Freiheit und den Kater danach und die Knospen in den blühenden Landschaften? Und dies alles in einem Leben.

Auch eine Revolution hat ihre Zeiten: Das Vorher und Nachher. Unsere Revolution hatte drei Epochen:

> Die erste Epoche war die DDR des Todesstreifens, etabliert als sozialistischer Gegenentwurf zur kapitalistischen Bundesrepublik; beide deutschen Staaten waren entstanden aus dem Erbe des Nationalsozialismus, des Weltkriegs, des Völkermords, der zerstörten Städte, der Millionen Flüchtlinge und Vertriebenen. Es war die Zeit des Stacheldrahts zwischen der sowjetischen und den westlichen Zonen, dem der Mauer folgte, die erste, die wirkliche Mauer. Revolutionen fallen nicht vom Himmel, sondern durchleben eine lange Vorbereitung. Sie erlebte ich – als skeptischer Achtundsechziger – durch einen Freund, der als linker Pfarrer den Sozialismus in der DDR als das bessere Deutschland sah; als Chefredakteur der Oberhessischen Presse in Marburg, das mit Eisenach eine der ersten und durchaus funktionierenden Städtepartnerschaften schuf; als Korrespondent im Bezirk Erfurt, der vieles erlebte und wieder vergaß, aber nachher alles in seiner Stasi-Akte nachlesen konnte.

> Die zweite Epoche war die Revolution, in der sich rasend schnell die zweite Mauer, die unsichtbare, die Trauma-Mauer aufbaute: Verlust des gewohnten Alltags, in dem alles geregelt war; Verlust der gewohnten Arbeit, die planmäßig organisiert war; Verlust des fürsorglichen Staates, der dem treuen Bürger alle Entscheidungen abnahm – und stattdessen eine Dominanz der Westdeutschen in Politik, Verwaltung und Wirtschaft. Ich erlebte sie als Chefredakteur der ersten deutsch-deutschen Zeitung, der Eisenacher Presse,
die erstmals am 18. Januar 1990 erschien, und in der Jahrtausendwende als Chefredakteur der Volksstimme in Magdeburg mit Fremdenhass, Töpfchen-Debatte und Menschen, die kollektiv und aggressiv um Haltung kämpften, um das Erbe der Revolution.

> Die dritte Epoche ist die aktuelle, in der sich die dritte Mauer der Resignation und der Ungeduld aufbaut: Den meisten Menschen geht die Angleichung an den Westen nicht schnell genug, sie beklagen das Desinteresse oder den Überdruss des Westens, weiter in den Osten zu investieren – und sehen den Westen als Fremden. Gleichzeitig brechen die Generationen im Osten auseinander, viel leiser als in den Zeiten der Achtundsechziger des Westens: Die Kinder ziehen fort und kommen erst einmal nicht wieder. Es stagniert die Zustimmung zur Demokratie, es wächst der Unmut, sich mit der Geschichte der Diktatur und der eigenen Geschichte zu befassen – im Gegensatz zu den Jungen, die fragen: Wie war das damals, Vater und Mutter, mit Euch in der DDR? Im Osten steigt, wenn auch langsam, die Abneigung gegenüber dem, was man „Politik“ nennt, und es nimmt die Verweigerung zu, sich zu engagieren.

Aber die dritte Mauer hat viele Durchgänge, sie trennt nicht mehr wirklich, sie bröckelt – und sie gefährdet keinen inneren Frieden. Ungefährlich ist sie trotzdem nicht: Die Demokratie im Osten ist weniger stabil als die Demokratie im Westen. Bis zur Revolution 1989 hat der Osten nur Kaiser und Diktatoren erlebt, unterbrochen von der fragilen Weimarer Demokratie. Der Osten hat zwar bereitwillig die äußeren Formen der Demokratie angenommen: Wahlen und Rechtsstaat, Kontrolle der Macht und Mächtigen sowie Freiheit für Presse, Vereine und Berufswahl, Schule ohne Ideologie und die Freiheit, überallhin reisen zu können.

Doch die Ostdeutschen sind so verwirrt, dass vielen in der Rückschau die Diktatur wärmer, gar kuscheliger erscheint, dass der Zusammenhalt stärker war – ob wirklich oder eingebildet. Sie wundern sich: Die Demokratie ist kühl, sachlich und kennt keine Aufmärsche wie die Diktatur. Die Demokratie muss erst langsam die Seelen wärmen. Im Osten wärmt noch wenig. Denn dieses Feuer muss von den Bürgern selbst entfacht werden; das Holz dafür müssen die Politiker, die Regierungen besorgen. Beide Seiten, Bürger wie Politiker, sind noch überfordert: Ein bisschen weniger Adenauer, ein bisschen mehr Willy Brandt täte gut. Demokratie wagen – wäre dafür ein sinnvolles Motto.

Diese Demokratie-Defizite erlebe ich als Chefredakteur der Thüringer Allgemeine, einer der großen Zeitungen im Osten. Die Beschreibung der drei Epochen wirkt wie ein Holzschnitt. Die Widersprüche und Details folgen in  Buch „Die unvollendete Revolution“, sie sind Gegenstand der Erzählungen und Debatten.

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Aus dem Editorial des Buchs „Die unvollendete Revolution“

Das Journalisten-Buch zu 25 Jahren Einheit: „Die unvollendete Revolution“

Geschrieben am 1. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.
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Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West - Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. - Klartext-Verlag, 14.95 Euro

Paul-Josef Raue: Die Unvollendete Revolution. Ost und West – Die Geschichte einer schwierigen Beziehung. – Klartext-Verlag, 14.95 Euro

„Hören Sie auf, uns zu belehren!“ ist das Editorial meines Buchs „Die unvollendete Revolution“ überschrieben. Die Überschrift nimmt einen Satz auf, den ich in unzähligen Leserbriefen lesen und vielen Gesprächen im Osten hören musste – und der den Westdeutschen traf: „Hören Sie auf, uns zu belehren!“

Schon sind wir mittendrin im Missverstehen: Was der eine als „Belehrung“ empfindet, ist für den anderen einfach eine Erklärung oder eine Tatsache, die man belegen kann – eben nichts, was Missfallen oder gar Aufregung lohnte. 2004 sagte dennoch Hans-Joachim Maaz, der Psychotherapeut aus Halle:

„Auf keinen Fall kann der Westdeutsche der Therapeut sein.“ Ein Therapeut müsse bereit sein, zuzuhören, zu verstehen und sich einzufühlen und nicht von vornherein belehren.

„Die unvollendete Revolution“ geht der Frage auf den Grund:

o   Warum fühlen sich so viele im Land der Revolution als Verlierer?

o   Warum geben sie den Westdeutschen – aus ihrer Perspektive: den Gewinnern der Einheit – die Schuld an ihrer Depression?

o   Und warum ist die Mauer der Vorurteile und Abneigung zwischen Ost und West – nach einem Vierteljahrhundert Einheit – so hoch wie nie zuvor?

o   Schließlich: Wie geht es weiter?

Reinhard Höppner sprach von der Mauer aus Beton, die durch eine aus Vorurteilen ersetzt worden ist. Höppner (SPD) regierte Sachsen-Anhalt acht Jahre lang mit Duldung der PDS, den Nachfolgern der SED. „Gegen eine Wand aus Vorurteilen hilft kein Passierscheinabkommen. Da brauchen wir das Erzählen der vielfältigen Erfahrungen und den Streit über unterschiedliche Meinungen“, urteilte er über den heftigsten Ost-West-Streit, die Magdeburger Töpfchen-Debatte von 1999, ausgelöst durch den Fremdenhass der DDR-Nachkommen. Von der Töpfchen-Debatte erzählt das Buch ausführlich.

Höppner, der 2014 verstorbene, hat Recht: Wir müssen erzählen von unseren Erfahrungen, den so unterschiedlichen. Nur wer sich erinnert und erzählt, hat die Chance, aus Vorurteilen Urteile zu machen. Wenn Höppners Zitat nicht zu lang für einen Buchtitel wäre, stünde es auf dem Umschlag: „Keiner lässt sich gerne zum Trottel machen, schon gar nicht von einem Wessi.“ In diesen dreizehn Wörtern ist die Stimmung der meisten Ostdeutschen versammelt, die mitten im Leben standen, als die Mauer fiel.

Die meisten Westdeutschen schütteln den Kopf, wenn sie den Satz hören – weil sie einen ostdeutschen Jammerton heraushören oder sie der Osten nicht mehr interessiert.

Mein Buch „Die unvollendete Revolution“ erzählt die Geschichte der deutsch-deutschen Beziehungen von den Westpaketen bis zur Dritten Generation Ost, von den fünfziger Jahren bis in die Gegenwart 25 Jahre nach der Einheit.  Wir haben uns für einen Titel entschieden, der schon einmal auf einem Buchumschlag stand – zum 50. Jahrestag der russischen Revolution im Herbst 1967: „Die unvollendete Revolution“. Hier ein Auszug aus dem ersten Teil des Editorials:

Isaac Deutscher, ein unorthodoxer Marxist, hat das Buch „Die unvollendete Revolution“ geschrieben, entstanden aus sechs Vorträgen, die er kurz vor seinem Tod in Cambridge gehalten hat. Diese Sätze könnten genau so gut für die deutsche Revolution gelten:

„Hat die Revolution die Hoffnungen erfüllt, die sie erweckt hat. Und worin liegt ihre Bedeutung für unsere Epoche und Generation? Ich wünschte, ich könnte die erste dieser Fragen mit einem einfachen und nachdrücklichen Ja beantworten und meine Bemerkungen mit einer ordentlichen triumphalen Geste beenden. Leider kann ich das nicht. Doch würde eine verzagte und pessimistische Schlussfolgerung ebenso wenig gerechtfertigt sein.

Es geht noch immer in mehr als einem Sinn um eine unvollendete Revolution. Ihre Vergangenheit ist alles andere als einfach. Sie ist aus dem Misserfolg und dem Erfolg, aus enttäuschter Hoffnung und erfüllter Hoffnung zusammengesetzt – und wer kann diese Hoffnungen untereinander vergleichen? Wo sind die Waagschalen?“

Die Folgen der russischen Revolution – Stalinismus und zermürbender Alltag für die Bürger – sind kaum mit den Folgen der deutschen zu vergleichen. Aber die Fragen, die sich nach 25 oder 50 Jahren stellen, sind offenbar ähnlich:

Revolutionen sind nicht vollendet, wenn die Menschen siegestrunken die Freiheit feiern. Die meisten Revolutionen beispielsweise rund um die Jahrtausendwende zerbrachen schnell. In Arabien und einigen osteuropäischen Ländern wurden die Schatten der Vergangenheit nach kurzer Dauer wieder lebendig. Dem sogenannten arabischen Frühling folgte schnell ein Winter. Nur – es gibt keine Jahreszeiten in der Geschichte; menschliche Gesellschaften haben einen eigenen Rhythmus.

Die deutsche Revolution ist gelungen, aber – wie alle Revolutionen – nicht vollendet, weil die Einheit noch nicht vollendet ist. Was ist der Grund? Auch für die Antwort auf diese Frage lohnt ein Blick in Isaac Deutschers Rückblick auf die russische Revolution. Er spricht von einem Fiasko, das den Menschen Unbehagen bereitet: All das, was sie glauben sollten und oft auch glaubten, stellt sich als Fälschungen und Mythen heraus. Nur – was ist die Wahrheit? Wer hat gefälscht?

Deutscher spricht von einer „Verschwörung des Schweigens“. Solche Verschwörungen werden auch in einigen Kapiteln dieses Buchs zur Sprache kommen, verbunden mit dem Seufzer: Verschwörungen ist mit Vernunft nicht beizukommen.

Ich beginne mit einem Gespräch im Thüringer Winter, knapp 25 Jahre nach dem Mauerfall. Wir stehen vor einem kleinen Lokal in einem einsamen Tal und trinken Glühwein. Ein älterer Mann mit weißem Hemd und Wanderschuhen spricht mich freundlich auf meinen Leitartikel an, den ich zum dunkelsten Kapitel der Einheitsgeschichte geschrieben hatte: Die Mordserie an Ausländern, verübt von jungen Neonazis, der NSU, aus Thüringen. „Gestatten Sie?“, fragt er, „eines hat mir nicht gefallen in Ihrem Kommentar: Sie schieben uns die Schuld an den Neonazis und der NSU zu.“

Mit „uns“ meint er die Menschen im Osten. Mit „nicht gefallen“ meint er die kollektive Schuldzuweisung, die vermeintliche. „Nein“, antworte ich, „ich habe nur Fragen gestellt: Kann es sein, dass die Revolution von 1989 junge Leute aus der Bahn geworfen hat?“

„Das glaube ich nicht“, sagt der Mann, „wir hatten im Osten doch niemals Nazis. Die waren alle in den Westen gegangen und kamen dort bis in die höchsten Stellen. Nein, mit den Nazis hatten wir nichts zu tun.“ Wir sprechen über die alte Bundesrepublik, über das Schweigen der Eltern, wenn die Kinder im Westen nach der Schuld fragten, wir sprechen über den Auschwitz-Prozess und die Achtundsechziger, die den Stab über ihre Eltern brachen.

Und wir sprechen über den NSU-Prozess und die Mutter von Uwe Böhnhardt, einem der Neonazis im terroristischen Untergrund: Als Zeugin rang sie vor den Richtern mit der Schuld, auch ihrer eigenen – aber nennt auch die Wende, die Schulreform, die ignoranten Lehrer.

„Die Wende war eine schwere Zeit“, sagt der ältere Mann, „wir waren den Jungen keine Hilfe, sie mussten – wie wir Alten auch – schon selber zusehen, wie sie zurecht kamen. Da ist wohl mancher abgerutscht. Woher sollten wir wissen, wie das geht in der Freiheit?“

Wir sollten darüber sprechen, antworte ich, wir müssen zuerst die Fragen stellen und sollten dann die Antworten suchen – nicht nur als Eltern von Terroristen, die vor Gericht Zeugnis ablegen müssen. „Ja“, sagt der Mann, „das geht ja in einer Demokratie. Aber das haben wir nicht gelernt, und das müssen wir noch lernen.“ Die Kälte kriecht unter die Daunenjacke, der Becher Glühwein ist leer. Wir verabschieden uns freundlich. „Aber Sie haben mich beleidigt mit Ihrem Leitartikel“, ruft er mir beim Weggehen zu. Ich nicke nur. Was kann man gegen Gefühle sagen?

Welche Lehre Reporter aus der TV-Serie „Weißensee“ ziehen können: Einfach erzählen!

Geschrieben am 1. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue.
0 Kommentare / Geschrieben am 1. Oktober 2015 von Paul-Josef Raue in Aktuelles, H 32 Reportage, I. Die Meinung.

Die ARD-Serien „Weißensee“ erzählen von der DDR, dem Ende der DDR und von den ersten Wochen nach der Mauer-Öffnung. Die Kritik von Katharina Rhiel in der Süddeutschen Zeitung zeigt, worauf Reporter achten müssen:

> Zu viel ist meist zu viel des Guten. Wer alles, was passiert ist, in die Reportage zwängen will, presst die Helden der Geschichte in Schablonen. „Die Figuren werden zu Trägern historischer Botschaften“ – also: Der Reporter erhebt den Bildungs-Zeigefinger statt einfach zu erzählen.

> Katharina Rhiel verweist auf die hochgelobten und beim Publikum erfolgreichen Serien aus den USA, England oder Dänemark, an „House of Cards“ oder „Borgen“. Sie nennt diese Serien „deshalb so wunderbar, weil sie sich auf ihre Geschichten verlassen. Weil kein großes Erzählkino entsteht, wenn man nebenbei Volkshochschule sein will“.

Das gilt auch für die schreibenden Reporter: Lasst Eure Botschaft zu Hause! Erzählt so, dass sich der Leser sein eigenes Urteil bilden kann!

Missionare im Journalismus sollten Kommentare schreiben statt Reportagen.

 

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Quelle: SZ 29.9.15 „Deutsches Neuland“

Überlebt das „fahrvergnügen“ den VW-Skandal in den USA? (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 30. September 2015 von Paul-Josef Raue.

Volkswagen exportiert nicht nur Autos, sondern auch deutsche Wörter. Vor 25 Jahren, pünktlich zur deutschen Einheit, sahen die amerikanischen TV-Zuschauer einen Werbespot:

There’s a word for this driving experience (Es gibt ein Wort für dies Fahr-Erlebnis): Fahrvergnügen, Fahrvergnügen.

Dies deutsche Wort ist in die amerikanische Sprache eingewandert – und zum Synonym für deutsche Autos schlechthin geworden. Für unsere Ohren hört es sich vergnüglich an, wenn ein Amerikaner durch die weite Landschaft fährt und knödelt: „What a fahrvergnugen!“

Dan Hamilton ist Professor der Johns-Hopkins-Universität in Baltimore, der ältesten in den USA. Er wundert sich über Liebhaber der amerikanischen Sprache, die das Vordringen des Spanischen beklagen: Offenbar reagieren alle Sprach-Gemeinschaften allergisch auf Zuwanderer, ob es Anglizismen sind oder spanische Wörter.

Hamilton stellt fest, deutsche Wörter drängten immer stärker in die amerikanische Sprache: „Deutsch ist zum Alltags-Englisch geworden! Es ist eine Lego-Sprache: Man nehme einfach zwei Wörter wie zwei Legosteine und füge sie zusammen wie Welt und Schmerz – und der Weltschmerz ist entstanden.“

„Fahrvergnügen“ ist solch ein Lego-Wort wie gut zwei Dutzend deutscher Wörter, die Hamilton auflistet:

  • bratwurst,
  • gesamtkonzept,
  • heiligenschein,
  • hinterland,
  • leitmotiv,
  • luftballon,
  • realpolitik,
  • rucksack
  • schadenfreude,
  • wanderlust,
  • weltmeister,
  • wunderkind,
  • zeitgeist
  • und kurze Wörter wie angst, kaputt, kitsch oder mensch.

Zu den beliebten Wörtern zählt auch eines, das selbst bei uns kaum gebräuchlich ist: „sprachvergnügen“. Das Magazin „Time“ hat es aus dem „fahrvergnügen“ abgeleitet, die deutsche Botschaft hat im Internet das „Netzwerk Sprachvergnügen“ gegründet.

So hieß „Time“ die deutsche Sprache wieder unter den Weltsprachen willkommen, kommentiert Sprachpapst Wolf Schneider – „nach fast einem halben Jahrhundert des Misstrauens“.

Ob das „fahrvergnügen“ den VW-Skandal um gefälschte Diesel-Werte überlebt? Wahrscheinlich ist das Wort stärker – und der Amerikaner Lust an der deutschen Sprache.

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Quellen: VW Werbung 1990ß auf Youtube

Die komplette Hamilton-Liste in: Wolf Schneider: Speak German, Seite 25ff

Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 5. Oktober 2015 (hier im Blog erweiterte Fassung)

Die Revolution war nicht die Revolution der Redakteure, gleichwohl begeisterte sie die Freiheit (Interview: 25 Jahre Einheit)

Geschrieben am 29. September 2015 von Paul-Josef Raue.
„Wir feiern 25 Jahre Deutsche Einheit – doch das Land sieht wenig geeint aus. Warum wächst nicht richtig zusammen, was einem Bonmot nach zusammen gehört?“ Mit dieser Frage eröffnet Stefan Wirner ein Interview für den Newsletter der Drehscheibe mit dem Autor dieses Blogs – “ über seinlokalesGrenzgängertum und seine Sicht auf das geeinte Deutschland“. Meine Antwort:

Das ist eine Frage, die im Westen gestellt wird: Warum, liebe Ostdeutsche, seid Ihr noch nicht wie wir? Diese Frage mögen Ostdeutsche nicht, weil ein Unterton mitschwingt: Wir haben Euch eine Billion Euro Entwicklungshilfe gegeben, so dass Eure Straßen besser sind als unsere; wir erwarten auch ein wenig Dank und wollen nicht mehr das ewige Genörgel hören!

Viele Westdeutsche vergessen: Es gab vor der Revolution keinen DDR-Bürger, der etwas anderes als Diktatur erfahren hatte – erst die Nazis, dann die sowjetischen Besatzer, dann die SED. Das steckt in der Seele, das können sie mit noch so viel Euros und Autobahnen nicht heilen. Und nach der Revolution mussten die Ostdeutschen komplett ihr Leben und ihren Alltag ändern, nichts, wirklich nichts blieb mehr, wie es vorher war. Und irgendwann konnten die Ostdeutschen all die guten Ratschläge aus dem Westen nicht mehr hören. Kurz: Sie vermissten und vermissen Respekt.

Gerade in der aktuellen Frage der Aufnahme von Flüchtlingen scheint das Land extrem gespalten: Während im sächsischen Heidenau ein Mob das Flüchtlingslager angreift, gehen die Bilder der Münchner um die Welt, die am Bahnhof Flüchtlinge willkommen heißen. Trügen diese Bidler? Oder woher kommen diese Unterschiede?

So extrem gespalten sind wir nicht. Die Angst vor den Fremden ist im Westen ähnlich verbreitet wie im Osten – und in anderen Ländern Europas übrigens noch stärker. Aber Sie bedienen mit Ihrer Frage ein typisch westdeutsches Vorurteil: Der Osten ist braun. Sie können München und Heidenau vergleichen, aber sie könnten auch Erfurt mit Weissach und Remchingen vergleichen: In Thüringen ein herzlicher Empfang und große Hilfe, im Südwesten brennende Asylbewerber-Heime. Aber das Aufrechnen bringt wenig: Wir haben ein gesamtdeutsches Problem und ein noch viel größeres europäisches.

Belegen nicht sämtliche Zahlen, dass die Fremdenfeindlichkeit im Osten um einiges höher ist als im Westen?  In keiner westdeutschen Stadt gab es pogromartige Vorkommnisse wie in Hoyerswerda, Rostock oder zuletzt Heidenau.

Generalisierung ist in der Tat falsch. Die meisten Ostdeutschen sind nicht fremdenfeindlich, auch wenn korrekt ist: Es sind mehr als im Westen. Aber die schiefe Darstellung fängt schon in der „Tagesschau“ und in den Zeitungen an: Heidenau bekommt einen Spitzenplatz in den Nachrichten, während ein brennendes Flüchtlingsheim in Baden-Württemberg hinten im Meldungsblock zu finden ist.  Auch Medien folgen ihren Vorurteilen und Vorlieben. Selbst der Bundespräsident sprach wieder von „Dunkeldeutschland“ – und suggerierte: Der Osten ist der dunkle Teil Deutschlands.

Teilen Sie die Ansicht, dass die Fremdenfeindlichkeit in den neuen Bundesländern ein Erbe der DDR, des selbsternannten „besseren Deutschlands“ ist?

In der Tat wirkt im Osten die SED-Propaganda nach, die den Menschen suggerierte: Wir in der DDR haben aufgeräumt, wir sind die saubere, das nazifreie Deutschland.

Was ist daran korrekt? Im Adenauer-Deutschland wollte man schnell den Wohlstand, kümmerte sich kaum um die Nazi-Vergangenheit, berief Nazis sogar zum  Generalbundesanwalt oder als Bundesminister; es gab mehr Nazis in hohen Ämtern als in der DDR, die allerdings in den Aufbau-Jahren auch auf Nazis nicht verzichtet hat.

Im Westen stellten die Achtundsechziger dann ihren Eltern unbarmherzig Fragen wie: Was habt Ihr gemacht, als die SS die Juden aus Eurer Nachbarschaft vertrieb? Diese Debatten haben die westliche Gesellschaft massiv verändert. In der DDR musste sich keiner die Fragen stellen, der Staat nahm die Antwort ab: Macht Euch keine Gedanken, wir haben alles richtig gemacht – im Gegensatz zum revanchistischen und kapitalistischen Westen! Gleichzeitig sperrte man die Gastarbeiter in Gettos, zwang Frauen aus Vietnam oder Angola, die schwanger wurden, zur Abtreibung oder zum Verlassen der DDR: Also keine Spur von Willkommenskultur in der DDR, sondern nur aufgesetzte Freundschafts-Parolen.

Der Gesellschaft im Osten fehlt die Erfahrung, die Fragen nach dem richtigen Leben in einer Diktatur, gleich welcher, zu stellen. Das war und ist eine Aufgabe für Politiker, Lehrer und Redakteure – auch wenn sie dabei niemals in begeisterte Gesichter schauen: Die Menschen wittern gleich Gefahr, wenn diese Debatte droht. Sie reagieren durchweg mit Abwehr: Ihr wollt unser Leben miesmachen, wollt Jahrzehnte unseres Lebens entwerten  – übrigens ein Vorwurf, den Westdeutsche schnell zu hören bekommen, wenn sie mitreden wollen.

Die Reaktion ist verständlich: Was die Seele bedrückt, wird  als Tabu in die Kulissen geschoben. Aber dieses Tabu taugt nicht in einer offenen Gesellschaft, schadet der Demokratie. So sieht der Magdeburger Psychoanalytiker Jörg Frommer auch ein „kleines 68“ im Osten, sieht die Jungen, die hellwach sind, aber nicht laut aufbegehren gegen die Älteren,  sondern einfach aufbrechen – und machen.

TA Erstausgabw

ERSTAUSGABE TA nach der Wende – als Teil einer aktuellen Serie „25 Jahre Thüringen“ in der Thüringer Allgemeine

Thomas Schmid äußerte in der Welt die Befürchtung, dass bei den anstehenden Einheitsfeierlichkeiten diese Konflikte unter den Tisch gekehrt würden. Fehlt uns eine offene und ehrliche Diskussion über die Einheit?

Ja. Es geht dabei weniger um Offenheit und Ehrlichkeit, also um die Debatte überhaupt: Die meisten im Westen interessieren sich nicht für den Osten, und je weiter sie gen Westen oder Süden kommen, umso erschreckender ist das Unwissen, von Empathie ganz zu schweigen.

Andererseits ist die Diskussion auch nicht einfach zu führen: Die Älteren im Osten haben sich meist abgeschottet, empfinden die Westdeutschen als arrogant und besserwisserisch – und haben sich hinter einer unsichtbaren Mauer angenehm eingerichtet. Bisweilen glaube ich: In dem Leben der meisten Ostdeutschen ist so viel geschehen, dass sie müde geworden sind, dass sie meinen: Es reicht für ein Leben, nun soll es mir einfach nur mal gut gehen.

Sie haben ein Buch mit dem Titel „Die Unvollendete Revolution“ geschrieben. Darin sagen Sie aber auch, selten sei eine Revolution im Abendland so gelungen wie diese. Wie passt das zusammen?

Es ist ein realistischer Blick. Keine der Revolutionen nach Ende des Kalten Kriegs war erfolgreich: Schauen Sie nach Russland, in die Ukraine, in den Balkan, nach Nordafrika. Nur eine gelang wirklich;  dabei hatten wir Deutschen keine Erfahrung mit Revolutionen, aber gleich die erste gelang. Und wir sollten stets bedenken: Diese erfolgreiche Revolution haben die DDR-Bürger hinbekommen, nicht die Westdeutschen;  die schauten nur im Fernsehen zu.

Wir sind unbestritten ein Staat und in ein, zwei Generationen auch ein Volk. Es mag noch einige Unverbesserliche geben, die sich nach der DDR zurücksehnen, die überwältigende Mehrheit fühlt sich wohl in dem neuen Deutschland. Wir haben nicht die Probleme wie die Briten mit Schottland oder Spanien mit Katalonien.

Deutschland ist einfach reicher geworden, an Menschen, an Erfahrung, an Kultur (ein Drittel des deutschen Welterbes liegt im kleinen Osten), an Natur. Viele in Europa und der Welt beneiden uns.

Sie haben die Vereinigung journalistisch begleitet, ja sie journalistisch mitgestaltet. Sie waren Korrespondent in der DDR, gründeten als Chefredakteur der Oberhessischen Presse die Eisenacher Presse, waren Chefredakteur in Magdeburg und Braunschweig und schließlich bei der Thüringer Allgemeinen in Erfurt. Welchen Lokaljournalismus fanden Sie 1989/90 im Osten Deutschlands vor?

Einen ängstlichen – auch wenn die DDR-Redakteure im Lokalteil ein wenig mehr zwischen den Zeilen schreiben konnten als im politischen Teil. So war der Lokalteil der meistgelesene in den DDR-Zeitungen; das war auch der Grund für den Erfolg der gewendeten SED-Zeitungen, während die Neugründungen aus dem Westen durchweg scheiterten.

Die Lokalredakteure schrieben in der DDR vor allem über ihre Funktionäre und Helden der Arbeit, priesen den Sozialismus und waren, im heutigen Verständnis, Pressesprecher der Partei. Da viele DDR-Bürger zwar West-Fernsehen schauen konnten, aber keine West-Zeitungen lesen durften, war der Lokaljournalismus, vor allem der politische, völlig unbekannt – auch bei den Redakteuren.

Das Buch zu 25 Jahre Einheit ist im Klartext-Verlag erschienen.

Als Sie als Westdeutscher Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen wurden, der ersten Zeitung, die sich in der DDR für unabhängig erklärt hatte, gab es jede Menge ablehnende Leserzuschriften, wie man Ihrem Buch entnehmen kann. Was haben Sie da gedacht?

Wenig. Einsam war’s, und da besinnt man sich auf seine Professionalität und verlangt sie auch von den Mitarbeitern.

Sie haben bei der Braunschweiger Zeitung das Konzept Bürgerzeitung entwickelt – mit großem Erfolg. Wie wurde das Konzept später in Erfurt, als Sie bei der Thüringer Allgemeinen waren, angenommen?

Die Ostdeutschen diskutieren gerne. Das taten sie schon in der DDR reichlich, schrieben unentwegt Eingaben; das war auch möglich, wenn sie die Tabus beachteten. So nutzten die Leser der TA sehr schnell die Möglichkeiten, mit ihren Meinungen in die Zeitung zu kommen, auch die Querdenker, Nörgler und Besserwisser. Schon nach wenigen Wochen haben wir die tägliche „Leser-Seite“ eingeführt, auf der – gestaltet wie eine schöne redaktionelle Seite – nur unsere Leser zu Wort kommen. Den Redakteuren war das anfangs unheimlich, bei einigen ist das heute noch so.

Es blieb nicht bei der Leser-Seite, immer wieder beziehen wir unsere Leser mit ein, so dass die Thüringer Allgemeine mittlerweile eine exzellente Bürgerzeitung ist, das beweisen uns auch alle Leser-Untersuchungen: Die Menschen wollen nicht nur wissen, was Redakteure und Politiker meinen, sondern auch wie und was ihre Nachbarn denken und wie sie sich in der Gesellschaft engagieren.

Sie sprechen von einem „Demokratie-Defizit“, das Sie als Chefredakteur der Thüringer Allgemeinen erlebt hätten. Inwiefern?

Die Redakteure waren nach der Revolution, die ja nicht die Revolution der Redakteure war, gleichwohl von der Freiheit begeistert, so wie sie in Artikel 5 des Grundgesetzes festgeschrieben ist. Aber die meisten Redakteure schauten auf den ersten Satz, auf die Meinungsfreiheit. Endlich durften sie kommentieren, was die Druckerschwärze hergab.

Dass aber die Pressefreiheit nicht nur Sonderrechte bietet, sondern auch Pflichten, war weniger bekannt: Die Demokratie zu stärken, die Bürger zu beteiligen und ihnen eine Stimme zu geben, die Mächtigen zu kontrollieren und die Leser verständlich und umfassend zu informieren – vor allem in den Städten und Kreisen – und in die Hinterzimmer der Macht zu leuchten. Nur so lebt die Demokratie.

Die Menschen sind 1989 für Demokratie, die D-Mark, die Wiedervereinigung auf die Straße gegangen. Wie konnte das alles so schnell wieder in ein Ressentiment gegen Demokratie und Marktwirtschaft kippen? War der Westen zu wenig feinfühlig?

Feinfühligkeit war nicht die Stärke des Westens, aber sie war auch nicht vonnöten: Der Westen spielte in der Revolution nur eine Zuschauer-Rolle. Die Menschen im Osten waren die Akteure, die haben nicht für Bananen, die haben für die Freiheit gekämpft, alles andere war hübsches  Beiwerk. Für eine Reise nach Mallorca riskiere ich nicht mein Leben, für die Freiheit, mein Leben selber planen zu können, riskiere ich es schon, wenn ich genügend Mitstreiter finde.

Und da ist auch nichts umgekippt: Nur eine Minderheit im Osten will zurück in die Diktatur; die Hälfte fühlt sich als Gewinner der Einheit, nur – oder immerhin – ein Viertel als Verlierer. Allerdings haben die Ostdeutschen, zum Teil schmerzhaft, die Kehrseite der Freiheit erleiden müssen: Die Demokratie, die sie bekamen, war nicht die des Werbe-Fernsehens, sondern die der „Tagesschau“, in der auch Arbeitslosigkeit und soziale Ungerechtigkeit ein Thema war.

Offenbar laufen Revolutionen nach dem Muster ab: Die Diktatur steigert die Sehnsucht nach Freiheit, die Revolution übersteigt sie, es folgt der Jammer. So war das auch nach der deutschen  Revolution: Sanfte Träume und Utopien prallten gegen die harte Wand der Wirklichkeit. Die Ostdeutschen wollten Freiheit und bekamen Westdeutsche, die mit Buschzulage Verwaltung und Justiz einführten.

Ich zitiere in meinem Buch eine Reihe von Umfragen, die belegen: Es gibt so gut wie keinen Unterschied mehr zwischen Ost und West, wenn  es um die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben geht (sie ist hoch); geht es um die Zuversicht, ist sie im Osten sogar höher als im Westen, vor allem bei den 16- bis 29-Jährigen.

Wenn Sie heute in die Zukunft blicken: Was stimmt Sie dennoch hoffnungsfroh?

Kein „dennoch“! Für Revolutionen gibt es keine Generalproben, „Fehler“ entdeckt man erst im Nachhinein: Wer in rund neun Monaten eine Demokratie, Marktwirtschaft, freie Medien und einen Rechtstaat einführt, der müsste eigentlich scheitern. Deutschland ist nicht gescheitert, wir haben vieles richtig gemacht und können das, was nicht rund läuft, verbessern – und sollten es auch tun.

Thüringen zum Beispiel hat, relativ gesehen, weniger Arbeitslose als Nordrhein-Westfalen und auch weit mehr Menschen in Beschäftigung. Die Liste der Erfolge ist lang, die der Defizite ist allerdings auch nicht klein.

Wer uns große Hoffnung verspricht, sind die Jungen, die Dritte Generation Ost – das sind die zweieinhalb Millionen, die zur Wende noch in die Schule gingen. Die sind der Jammerei überdrüssig, sie sind hungrig, viel hungriger als die meisten im Westen, sie wollen raus in die Welt, wo immer sie einen Platz für sich sehen, aber sie schätzen ihre Heimat. Was für eine Chance für unser Land!

Sie sagen, Ihr Buch sei kein Geschichtsbuch, eher aber ein Geschichtenbuch. Ich finde, es ist auch ein Erinnerungsbuch. Welche Rolle wird die Erinnerung zukünftig in einer Welt von Facebook, Google und Smartphones spielen?

Erinnerung ist das halbe Leben oder noch mehr. Da spielt es keine Rolle, ob sie die Geschichten am Lagerfeuer erzählen, in Moritaten, Büchern, Zeitungen oder auf Smartphones. Und die jungen Leute, die Smartphone-Generation,  sind geradezu begehrlich, wenn es um die Erfahrungen der Alten geht. Wenn Sie mit Ostdeutschen sprechen, hören sie von den Älteren oft das Argument: „Macht ein Ende mit der Rückschau, mit den Stasi- und Opfern-Geschichten! Die wollen die jungen Leute einfach nicht hören.“ Aber das Gegenteil ist der Fall, die Jungen wollen wissen, wie das Leben in der Diktatur war – nicht als Vorlage für eine Anklage, sondern als Erfahrung, von der sie lernen wollen in der Freiheit, die sie genießen.

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Quelle: Drehscheibe „Die Ostdeutschen vermissen Respekt“

Formidabel! Wie wir in unserer Sprache Wörter verwandeln (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 27. September 2015 von Paul-Josef Raue.

Wer über die Einwanderung von amerikanischen Wörtern stöhnt, sucht gerne Trost bei unseren Klassikern. Goethe kam zwar nur bis Italien, aber er schwärmte von der neuen Welt:

Amerika, du hast es besser
Als unser Kontinent, das alte,
Hast keine verfallene Schlösser
Und keine Basalte.

Dich stört nicht im Innern,
Zu lebendiger Zeit,
Unnützes Erinnern
Und vergeblicher Streit.

Benutzt die Gegenwart mit Glück!
Und wenn nun eure Kinder dichten,
Bewahre sie ein gut Geschick
Vor Ritter-, Räuber- und Gespenstergeschichten.

Doch war die Sprache in Goethes Zeit nicht geprägt von Anglizismen, sondern von französischen Wörtern. Goethe kommt selten ohne ein französisches Wort daher. Am 14. November 1776 lästert er über das „Flick- und Lappenwerk“ eines Autors, möchte diesem einen Streich spielen und schreibt an Schiller:

Wenn der Spaß Ihren Beifall hat, so führe ich ihn aus; er ist, wie mich dünkt, sans replique.

Wie leicht hätte Goethe einen deutschen Begriff finden können: Ohne Widerrede! In Goethes Brief taucht auch das französische Wort „formidabel“ auf, mit dem sich ein Leser in Erfurt beschäftigt. Er las in seiner Zeitung vom Lutherjahr 2017 als „formidablem Jubiläum“ und fragt:

Hat der Autor den aus „dem Lateinischen entlehnten Begriff, der ,schrecklich‘ bedeutet, vielleicht im falschen Sinnzusammenhang oder als Beispiel ,klassischer Wortwahl‘ verwendet“?

Wörter verwandeln sich gerne, wenn sie nur weit genug von der Quelle entfernt sind. Dem Lateinischen, der Priester- und Fürstensprache des Mittelalters, verdanken wir viele Wörter, einige kamen aber erst über die französische in die deutsche Sprache.

„Formidare“ nutzte Caesar, der Feldherr, wenn er von besonders großem Schrecken berichtete. Die lateinische Bedeutung hielten die Franzosen und nutzen „formidable“ für alles, was grausig und schrecklich ist. Wir übernehmen in die deutsche Sprache fremde Wörter in ihrem ursprünglichen Sinn – um sie dann gerne  zu verwandeln.Erst im späten 17. Jahrhundert wanderte „formidabel“ in unsere Sprache ein. In der „Herrschaft der Männer“, einem Buch von 1705, lesen wir:

In den Moluccischen Inseln haben sich die Weiber so formidabel gemacht, dass sie das recht absolut im Hause zu befehlen haben.

Moluccische Inseln sind offenbar die Falkland-Inseln vor Argentinien.

In Carl Lucaes „Europäischen Helicon“ von 1711 ist von einem Lehrer zu lesen:

Ehemals docierte ein solcher Schmeisser in einer Schule von mönströser Gestalt und war den Knaben höchst formidabel.

„Formidabel“ gebrauchte der preußische Generalfeldmarschall Blücher 1813 noch im alten lateinischen Sinne: „Die Armee war sehr formidabel“, als Goethe schon den Sinn in „beeindruckend“ verwandelt hatte. Der Autor eines Buchs will sich „seinem eigenem Helden formidabel machen“, schreibt er Schiller im Weimarer Herbst 1776.

Preußens berühmtester Gärtner war der Weltreisende Hermann Ludwig Heinrich von Pückler-Muskau; er schrieb 1834 in seiner „Landschaftsgärtnerei“:

Man baut in formidablem Bogen über das bescheidene Wässerchen eine Riesenbrücke.

Da hatte sich formidabel als „beeindruckend“ durchgesetzt. Im Goetheschen Sinn nutzen wir „formidabel“ noch heute; wer es im alten lateinischen Sinne verwendete, würde missverstanden.. Der Schrecken ist längst verschwunden.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 28. September 2015 (hier in erweiterter Fassung)

Für wen schreiben wir? Für uns selber oder für die Leser?

Geschrieben am 26. September 2015 von Paul-Josef Raue.

Journalisten sollten nicht darüber rätseln, was die Leserinnen und Leser wollen, sie sollen ehrlich sagen, was ihnen selber wichtig ist. Für mich ist es das Schreiben und Lesen. Ich mag keine schlecht geschriebenen Artikel, und wenn ich lese, will ich keine Videos dazu sehen.

Jean-Martin Büttner im Newsletter der MAZ, der Schweizer Journalistenschule: Er ist laut Newsletter mehrfach ausgezeichneter Journalist und Redaktor beim Tages-Anzeiger. Er antwortet auf die Frage „Immer mehr konvergent arbeitende Redaktionen mit Journalisten, die mehrere Kanäle bedienen sollen: Verliert das Schreiben als klassisches Handwerk an Bedeutung?“

 

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