Journalisten tragen keine Krawatte (Zitat der Woche)
Wie komme ich in einen Londoner Privatclub, wo sich die Reichen und Mächtigen treffen?
Plan A ist ganz simpel: Ich gebe mich als Blumenlieferant aus. Eine umgedrehte Cap, ein Bouquet und eine kurze Jeans später habe ich mein Einwegticket ins Shoreditch House zusammen – einen Privatclub in Ostlondon, der dermaßen auf Medienleute ausgelegt ist, dass es dort ein Krawattenverbot gibt. Niemand, der im Medienbereich arbeitet, trägt schließlich eine Krawatte.
Der Trick funktionierte nicht.
Aus Oobah Butlers Beitrag in Vice (siehe auch Perlentaucher vom 14.2.17)
Wie sich „Brand Eins“ aus der Asche von „Econy“ erhob (Journalismus-Geschichte)
Gabriele Fischer war stellvertretende Chefredakteurin des Manager Magazin, als sie den Spiegel-Verlag überzeugte, ein neues, ganz neues Wirtschaftsmagazin zu gründen:
Ein Magazin für Leute, die aufbrechen; die etwas unternehmen; die Wirtschaft noch als Abenteuer begreifen und nicht ständig über Steuerlast und Bürokratie klagen. Ein Magazin für die Mutigen eben – und gegen die Bremser,
so schrieb sie im ersten Editorial von Econy; Vorbilder gab es in den USA mit Fast Company und Wired.
Nicht einmal drei Monate brauchte sie von der Idee bis zum ersten Heft. War dies einer der Gründe, warum Econy keine Freunde fand im Verlag und in der Spiegel-Redaktion? Ein Schnellschuss, ohne lange Debatten über Sinn, Unsinn und Ziel – und dann noch mit einer winzigen Redaktion: Das kann nichts Rechtes geben, dachte die Spiegel-Redaktion, die gerne monumental denkt. Auf jeden Fall schmunzelte sie über ein Magazin, das mit drei, vier Redakteuren 220 Seiten anständig füllen wollte.
Aber selbst das war wegweisend: Eine kleine Redaktion sucht die Themen und dafür die besten Autoren.
So werden bald die meisten Zeitungen und Magazine arbeiten, wenn sie es nicht heute schon tun: Kleine Teams, die strategisch denken, mit wenigen Redakteuren, die recherchieren, was nur unabhängige Redakteure recherchieren können, und Freien, die gut bezahlt werden und Qualität liefern.
Der Respekt vor den Freien, deren gute Bezahlung und eine exzellente Textredaktion – damit fing Econy an; das bietet Brand Eins immer noch. Wenn Manager heute sparen wollen, sparen sie meist am falschen Ende: Sie senken radikal die Etats für die Freien. Das führt zu einem fatalen Qualitätsverlust: Weniger Redakteure, kaum Geld für Freie – wie soll das funktionieren?
Gabriele Fischer stellte weder Layouter ein noch einen Art-Direktor, sondern nahm einen wenig bekannten Freien: Mike Meire war ein junger Grafiker, der mit völlig neuem Blick auf zu bedruckendes Papier schaute. Auf seinen Fotos saßen Manager nicht hinterm aufgeräumten Schreibtisch, sondern schaukelten, leicht verwischt, auf einer Schaukel; die Leser blickten nicht in Superbüros, sondern aus dem Fenster auf eine Brache mit Bagger. Eigentlich war es einfach: Die Fotos zeigten die Welt und die Menschen, wie sie wirklich sind; sie nahmen den Personen die Rollen, in die sie gezwängt sind – aber ohne sie bloßzustellen.
Mike Meire war ein Glücksfall, er entwickelte ein völlig anderes Design, das Abschied nahm von allem, was üblich war – und das dann mit vielen Preisen gekrönt wurde. Die Entscheider in den Medienagenturen, die Gabriele Fischer auf einer Roadshow einfing, waren begeistert – ein neuer Stil im Journalismus! In kurzer Zeit waren alle Anzeigen-Seiten für ein komplettes Jahr verkauft. Das müsste eigentlich die Erfüllung eines Manager-Traums sein – aber nicht beim Spiegel.
Als die Druckmaschine für die zweite Ausgabe lief, verkündete der Verlag schon das Aus – angeblich weil der Verkauf der ersten Ausgabe die Erwartungen nicht erfüllt habe. Die Gründe lagen wohl tiefer: Die Philosophie von Econy war nicht die Philosophie von Spiegel und „Manager Magazin“. In Redaktion und Verlag bezogen sie einen Satz aus dem Fischer-Editorial durchaus auf sich und ersetzten „Zeitung“ mit „Der Spiegel“: „Wer morgens seine Zeitung liest, könnte glauben, diese Gesellschaft sei erstarrt und festgefahren.“
Im Spiegel herrschte die „Saturiertheit“, von der Professor Volker Lilienthal gerade zum 70-Jahr-Jubiläums schrieb – und die Lilienthal noch nicht als beendet ansieht. Lilienthal spricht auch vom persönlichen Wohlstand der Redakteure als Mitbesitzer des Verlags: Auch der, in Form von hohen Tantiemen, drohte geschmälert zu werden durch Verluste von Econy, die weder zu erwarten waren und wohl nie eingetreten wären.
Spiegel-Redakteure wissen kaum noch etwas vom Leben einfacher Menschen, auch davon schreibt Lilienthal. Und genau von diesen Menschen, die unterhalb der Spiegel-Wahrnehmung liegen, handelte Econy. Kurzum: Es ging um Geld, auf das die Redakteure nicht verzichten wollten, und um eine Veränderung, die man sich vom Hals halten musste. „Nicht für Bremser“ stand auf einer Werbetafel für Econy und „Ich bin kein Erbsenzähler“ auf einem T-Shirt. Das reichte.
Wer wissen will, warum sich der Spiegel heute noch schwer tut mit Veränderung, gar Aufbruch, der schaue auf das Ende von Econy: Die Angst vor der Veränderung sitzt neurotisch tief.
Was Gabriele Fischer nach dem Aus durchmachte, war ein Albtraum:
Zuerst kaufte ein anderer Verlag Namensrechte und Redaktion, aber rechnete nicht mit einer selbstbewussten und unabhängigen Chefredakteurin Fischer. Man trennte sich schnell, der neue Verlag machte mit neuer, durchaus renommierten Chefredakteurin und neuer Redaktion weiter – und scheiterte. Fischer war die Seele von Econy; und eine Seele kann man nicht kopieren.
Dann kam das Management-Buyout ohne großes Geld, aber mit großen Plänen. Der neue Name war der Name, der schon vor Econy auf der Liste stand – und der nichts mit „Marke 1“ zu tun hatte, was Spiegel-Anwälte abschreckte, sondern mit der Adresse der Redaktion: Brandstwiete 1.
Vom Ende her betrachtet, sieht die Story von Brand Eins wie eine einzige Erfolgsstory aus. „restart“ stand auf dem Titel der ersten Ausgabe: „Die Lust am Neubeginn“. Dieser Neubeginn war allerdings näher an „Schweiß, Tränen und Mühen“ als an Lust, und der Erfolg lag nicht griffbereit.
Auch das Platzen der Dotcom-Blase, das Ende der New Economy – ein halbes Jahr nach der ersten Brand Eins-Ausgabe – verhinderte nicht den Erfolg. Warum? Econy und Brand Eins waren der Spiegel der New Economy, ihr Sprachrohr. Aber beim Verglühen der New Economy gingen nur Firmen zugrunde, die im nicht selten kriminellen Übermut alle Regeln verletzt hatten; aber nicht zugrunde ging der Gründer-Geist und die Haltung, Mut zur Veränderung zu haben: Dafür stand Gabriele Fischer, dafür stand ihr Magazin – das war entscheidend.
Die Chronik des Neubeginns hat Gabriele Fischer auf zwei Seiten des ersten Hefts aufgeschrieben. Die komplette Chronik dieses einzigartigen Journalistinnen-Lebens wäre ein Buch wert, nicht umweht von Weihrauch, sondern als Lehrbuch für Menschen, die an den Journalismus glauben; als Mutmacher für Manager und Redakteure, die den Journalismus für eine demokratische Gesellschaft retten wollen; und als spannenden Roman, den nur das Leben schreiben kann.
Neben dem Editorial der ersten Hefts steht ein ungewöhnliches Porträtfoto von Gabriele Fischer: Sie wird am Rande von der Blüte einer Blume angelächelt, obwohl ihr sichtbar nicht zum Lächeln zumute ist; das Bild könnte aus einem Familienalbum stammen. Heute steht neben dem Editorial eine strenge, vielleicht zu strenge Frau, mehr Ikone als Familienalbum: Das Gesicht halb im Licht, halb im Schatten – wie eine Metapher zur Geschichte von Brand Eins.
Brand Eins war die letzte nennenswerte Gründung eines Magazins mit Anspruch, danach kamen nur noch Cicero“, mittlerweile auch verkauft wie ehedem Econy, kamen Landlust und Barbara („kein normales Frauenmagazin“) und kam eine endlose Folge von Plagiaten, die bei den TV-Zeitschriften oft schon über keine Redaktion mehr verfügen. Könnte die Ideenlosigkeit der Verlags-Manager dem Journalismus und der Gesellschaft mehr zusetzen als Google, Facebook & Co?
Es ist großartig, etwas geschaffen zu haben. Weil es auch Spaß macht, Widerstände zu überwinden. Und weil uns nur dann die Zukunft gehört“,
steht am Ende des Editorials vom Juni-Heft 2016 mit dem Schwerpunkt „Einfach machen“. Der schönste Satz der Fischer-Editorials steht allerdings im ersten Heft:
Etwas, das alle Restart-Geschichten eint: In ihnen steckt ein Teil des alten Menschheitstraums, man könne alle seine Erfahrungen bewahren – und noch einmal von vorne beginnen. Vielleicht ist es das, was Menschen treibt, trotz Niederlagen und Rückschlägen nicht aufzugeben.
Das „vielleicht“ in diesem Satz hat Gabriele Fischer in ihrem Leben gestrichen.
Die komplette Kolumne bei kress.de:
Zum 70-Jahr-Jubiläum: Die Saturiertheit der Spiegel-Redakteure
Volker Lilienthal ist Professor für „Praxis des Qualitätsjournalismus“ in Hamburg. In der Süddeutschen Zeitung gratuliert er dem Spiegel, dem ersten Magazin Deutschlands, zum Siebzigjährigen; er habe beigetragen „zur Modernisierung der Bundesrepublik, zur Rationalisierung ihrer Institutionen und zur Liberalisierung der Lebensverhältnisse“. Im letzten Absatz geht er auf das mangelnde Engagement der Redakteure ein, denen der Spiegel-Verlag mehrheitlich gehört:
Was es fürs achte Jahrzehnt ganz bestimmt braucht, ist neues Engagement in einer Redaktion, die in ihrem institutionellen und persönlichen Wohlstand auch die Schattenseiten des Saturierten kennengelernt hat: deren Elitenorientierung vor allem, bis man kaum noch etwas weiß vom Leben einfacher Menschen. Diese Entfremdung wird von manchem Populisten beklagt, und teils zu Recht.
„Ohne gute Medien wird es der Gesellschaft schlechter gehen“ (Zitat der Woche)
„Journalisten müssen als Vertrauensleute aufgeklärter Bürger eingreifen“, schreibt Stefan Plöchinger im Journalist-Aufmacher „Was 2017 zählt: 2016 und die Folgen — fünf Lehren aus einem schwarzen Jahr für die Auseinandersetzungen, die uns Journalisten noch bevorstehen“. Und weiter:
Das Mediensystem, wie wir es kennen, ist inhaltlich wie finanziell an einem Scheidepunkt. Vielen Titeln geht es nicht gut, und ohne gute Medien wird es der Gesellschaft schlechter gehen, deshalb geht es gerade um viel. Journalismus wird die kommenden Jahre nur überleben, wenn die Bürger ihm vertrauen können. Vertrauen kostet Zeit, Arbeit, Geld. Darin zu investieren, ist das wichtigste Zukunftsprojekt für jedes Medienhaus, jeden Journalisten.
Plöchinger in der Januar-Ausgabe des Journalist:
http://ploechinger.tumblr.com/post/155304939352/was-2017-z%C3%A4hlt
Ernst-Günther Wöhler, Ex-Vize-Chefredakteur der „Volksstimme“, ist tot
Ernst-Günther Wöhler war einer meiner liebsten Kollegen. Wir arbeiteten drei Jahre zusammen: Er als Stellvertreter, ich als Chefredakteur der Volksstimme in Magdeburg. Er ging mit mir von Bord, um noch einmal mit seiner Arbeit und seinem Leben zu experimentieren: So war er, lebenshungrig, neugierig und einfach ein sympathischer Mensch. Am Samstag, 17. Dezember 2016, ist er nach kurzer Krankheit verstorben, viel zu jung.
Wöhlers journalistische Karriere begann im Roten Kloster, der Elite-Ausbildung der DDR an der Leipziger Universität: Er konnte gut die Ideologie und die Profession unterscheiden und wurde als Diplom-Journalist ein exzellenter Profi. Ihm gelang der Spagat zwischen den Forderungen der SED, die Wahrheit im Sinne der Partei zu biegen, und einer redaktionellen Unabhängigkeit, die zwischen den Zeilen zu entdecken war. Auch weil er diesen Spagat mit Freundlichkeit und Nachdenklichkeit beherrschte, wählten ihn die Redakteure in der Revolution zum stellvertretenden Chefredakteur.
2001 nahm er die Freiheit noch wörtlicher: Er verabschiedete sich aus der Redaktion und gründete das Redaktionsbüro regio.m. In den vergangenen Jahren war Wöhler als Freier auch Deskchef der Volksstimme, bevor er sich im Sommer langsam in den Ruhestand verabschiedete.
Habermas beklagt: Journalisten passen sich zu sehr der Politik an
„Pressefreiheit ist die Freiheit von 200 reichen Leuten, ihre Meinung zu verbreiten“, sagte vor fünfzig Jahren Paul Sethe, der als Herausgeber die FAZ gründete. Wer Verleger sein wollte und die Massen mit seinen Zeitungen erreichen, brauchte teure Druckmaschinen. Das änderte sich mit dem Internet. Endlich wird der Traum der Achtundsechziger wahr: Jeder kann von vielen gelesen werden. Die Demokratie ist bei sich angekommen, Öffentlichkeit endlich verwirklicht.
Und nun? Jürgen Habermas, Philosoph der Achtundsechziger, beklagt in einem Interview, die Bürger bedienten sich der neuen Freiheit nicht im Sinne der Aufklärung, sondern kehrten sie gegen die Freiheit und würden zum „Saatboden für einen neuen Faschismus“.
Im Jubiläums-Heft der Blätter für deutsche und internationale Politik, vor sechzig Jahren gegründet, verdächtigt er etablierte Politiker wie Journalisten, „von Anfang an die falsche Richtung eingeschlagen“ zu haben:
Der Fehler besteht darin, die Front anzuerkennen, die der Rechtspopulismus definiert: „Wir“ gegen das System.
Wer mit Rechtspopulisten öffentlich debattiere, nehme sie ernst, verschaffe ihnen Aufmerksamkeit und mache den Gegner stärker – wie Justizminister Heiko Maas, der sich im Oktober mit Alexander Gauland von der AfD in einer ZDF-Talkshow duellierte.
Es sei Schuld der Medien, dass „nach einem Jahr nun jeder das gewollt ironische Grinsen von Frauke Petry kennt und das Gebaren des übrigen Führungspersonals dieser unsägliche Truppe“. Rechtspopulismus verdiene Verachtung statt Aufmerksamkeit. Im Juli hatte Habermas schon in einem Interview mit der Zeit aus der „Perspektive eines teilnehmenden Zeitungslesers“ die Anpassungsbereitschaft der Journalisten gegenüber Merkel und der Politik beklagt: „Der gedankliche Horizont schrumpft, wenn nicht mehr in Alternativen gedacht wird.“
Medien wie Parteien informierten die Bürger nicht mehr „über relevante Fragen und elementare Tatsachen, also über die Grundlagen einer vernünftigen Urteilsbildung“. Das Argument ist nicht weit entfernt von der Kritik bei den Pegida-Spaziergängen in Dresden.
Habermas bringt als weiteres Indiz für den Zerfall der Öffentlichkeit die Wahlmüdigkeit der jungen Leute. „Das klingt so, als sei wieder die Presse schuld“, wirft der „Zeit“-Redakteur Thomas Assheuer ein. „Nein“, zieht sich Habermas zurück, „aber das Verhalten dieser Altersgruppe wirft ein Schlaglicht auf die Mediennutzung jüngerer Leute im digitalen Zeitalter und auf den Wandel der Einstellung zu Politik überhaupt. Nach der Ideologie des Silicon Valley werden ja Markt und Technologie die Gesellschaft retten und so etwas Altmodisches wie Demokratie überflüssig machen.“
Die Forderung nach „Dethematisierung“ verbindet Habermas mit der Forderung an Journalisten und Politiker:
Die Bürger müssen erkennen können, dass jene sozialen und wirtschaftlichen Probleme angepackt werden, die die Verunsicherung, die Angst vor sozialem Abstieg und das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren, verursachen.
** Mehr in meiner JOURNALISMUS!-Kolumne auf kress.de: Gebt Rechtspopulisten keine Bühne
Feuilletonisten: Gralshüter, die nicht verstanden werden wollen
Feuilletonisten schreiben zuerst für andere Feuilletonisten, für Künstler und Kulturmanager, bisweilen auch für Theater- und Ausstellungsbesucher. Feuilletonisten bleiben unter sich, die meisten jedenfalls. In der Redaktion gelten sie als nett, aber schwierig, sie sind Außenseiter. Ein garstiges Vorurteil?
Viele Feuilletonisten stimmten zu, sie schätzen diesen Status des einsamen, aber freien Nachdenkenden, ja sie genießen ihn und wollen Lichtjahre entfernt vom Rest ihrer Redaktion wirken und schreiben. Sie kümmert es kaum, dass nur wenige Abonnenten ihre Rezensionen lesen; sie sind selbstbewusst: Wir schreiben für die wichtigen Leser!
Sie wissen, was Kultur ist, und bauen einen Gral, zu deren Hüter sie sich selbst erwählen. „Der typische deutsche Kulturredakteur möchte von Hinz und Kunz gar nicht verstanden werden“, schrieben wir im Handbuch des Journalismus.
Der weibliche Nachwuchs des Journalismus, weniger der männliche, antwortet im Bewerbungsgespräch auf die Frage nach den Vorlieben: Die Kultur, vorzugsweise. Doch Vorsicht: Die meisten Feuilletonisten schreiben in ihrer eigenen Sprache, schreiben schwer verständliche Texte – eben Tagesliteratur für Eingeweihte, die zwar auch nichts verstehen, aber das Erhabene fühlen.
Wer etwa vom großen Gerhard Stadelmaier das Schreiben lernte, der dürfte für andere Ressorts kaum mehr tauglich sein. Gerhard Stadelmaier, Professor für Theaterkritik, war oberster Theaterkritiker der FAZ, der Texte schrieb, die Germanisten in ihren Seminaren als hermetisch loben würden. Unter Seinesgleichen ist er geachtet und bewundert, auch im Ruhestand, in dem er einen Roman schrieb über die Redaktion der „Staatszeitung“, die der FAZ ähnelt, und die „Verflüssigung der Zeitung“, die an Qualität verliere und an Sprachkraft.
Jan Küveler nennt ihn in der Welt einen der „begnadesten Vertreter“, lobt ihn für seine bildkräftige Sprache, für Formulierungen wie „hirnwütiger Quecksilberbubi“ oder „zentnerschwere Langeweile“. Stadelmaier ist mehrfach preisgekrönt für seine „leichte und doch gewichtige Sprache“; vor einigen Wochen verlieh ihm in Weimar eine Stiftung, die die „Reinheit der deutschen Sprache“ pflegt, den „Deutschen Sprachpreis“.
Man könnte ihm noch einen Preis verleihen – für den längsten Satz, den wohl je ein Journalist geschrieben hat: 208 Wörter lang (nach der Word-Wörterzählung). Der rekordverdächtige Satz war schon einmal Thema in diesem Blog:
Am 17. Juni 2013 druckte die FAZ die Besprechung einer Trauerfeier im Stil einer Rezension: Walter Jens wurde in Tübingen zu Grabe getragen, und Gerhard Stadelmaier schrieb darüber. Da wenig gesprochen und viel Mozart gespielt wurde, schrieb der Kritiker über Jens‘ Beziehung zu Mozart und verlor sich dabei in einem Satz mit 208 Wörtern und fast 1500 Zeichen! Der Satz taugt für jeden Volontärskurs: Wie zertrümmere ich einen Schachtelsatz? Wer findet den Hauptsatz (in der die Hauptsache stehen soll)?
Die Mühe des Zertrümmerns dürfte allerdings vergeblich sein: Der Satz ist nicht redigierbar.
**
Die komplette JOURNALISMUS!-Kolumne zum Thema: https://kress.de/news/detail/beitrag/136591-208-woerter-ein-sprachpreis-fuer-den-laengsten-satz.html
Das Lesen deutscher Zeitungen ist Arbeit
In Skandinavien sind die meisten Lokalzeitungen ein Fest fürs Auge, die dennoch ausreichend Futter für den Verstand bieten: Zeitungen sind aufgemacht wie Magazine mit großzügigem und frischem Layout.
Warum sind deutsche Redakteure offenbar so verschieden im Vergleich zu skandinavischen?, fragte ich Norbert Küpper, einen der wichtigsten Designer für Tageszeitungen in Deutschland:
In Deutschland ist man Journalist, weil man gerne schreibt. Man geht gerne mit Sprache um, ist sprachlich kommunikativ. Dass man auch visuell kommunikativ sein kann und viele Informationen so noch besser übermitteln kann, wird offenbar noch nicht ausreichend vermittelt. Redaktionssysteme scheinen auch zu kompliziert, um alternative Storyformen zu gestalten – jedenfalls für Redakteure.
Die Abneigung, Design zu schätzen, wurzelt tief in der deutschen Zeitungs-Geschichte und der Philosophie, wie wir Journalismus sehen. Die fünf Gründe:
- Das Lesen deutscher Zeitungen ist Arbeit. Wer seinen Verstand nutzen will, muss sich mühen. Immanuel Kant ist der Vater dieser Vermutung, er schreibt in seinem Essay „Was ist Aufklärung?“: „Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Teil der Menschen gerne zeitlebens unmündig bleiben.“ Das Gegenteil der Faulheit sind Eifer und Mühe; der ideale Zeitungsleser ist also der Eifrige, der im Weinberg der Aufklärung schuftet.
- Schreiben ist Arbeit.Wolf Schneider hat die Idee festgeschrieben: Nicht der Leser muss sich plagen, um Texte zu verstehen, sondern der Journalist, um sie verständlich zu schreiben. Schneiders Idee ist zwar in vielen Köpfen, die Wirklichkeit ist meist davon entfernt: Menschen scheuen Mühe, Redakteure auch, sie überlassen den Lesern die Arbeit und nennen ihr Ergebnis „anspruchsvoll“.
- Die Welt ist wichtiger als der Nachbar. Der Typ des Generalanzeigers, der in die weite Welt schaut, ist noch immer das Ideal vieler Verleger und der meisten Chefredakteure, auch wenn fast alle Leser- und Marktforschungen das Gegenteil belegen: Das Lokale vorn! Selbst den Oberstudienrat interessiert am meisten das neue Konzept für das Stadtzentrum, auch wenn er kritisiert: Dann erfahren die Bildungsfernen nichts mehr von der Regierungskrise in Bangladesch.
- Der Leser ist nicht bereit. Der Chefredakteur, der im Wochenend-Magazin mit mehr Weißraum spielt, bekommt gleich Anrufe und Briefe von Lesern: „Bekommen Sie den Platz in der Zeitung nicht mehr gefüllt? Ich hätte da einige Anregungen“; andere drohen gleich: „Ich bezahle das Abo nicht für leere Seiten“; wieder andere empfehlen: „Schreiben Sie doch darüber ,Raum für Notizen‘, dann hat es wenigstens einen Sinn.“
- Es hat noch keiner so radikal versucht. Der Verleger fürchtet Ärger und Abo-Kündigungen; er kennt die Schilderung von Kollegen, die nach einem Relaunch von den schrecklichsten Stunden ihres Lebens berichten. Der Chefredakteur fürchtet sich vor dem Unmut seiner Redakteure, die weniger Stellen bekämen zugunsten von Layoutern und Infografikern, die er für ein Qualitäts-Layout einstellen muss.
Mehr zum skandinavischen Layout und zu „Kvinnheringen“, Europas Lokalzeitung des Jahres, die aus Nordnorwegen kommt, im Blog JOURNALISMUS! bei kress.de
Ein guter Journalist belehrt seinen Leser nicht, manipuliert ihn nicht“ (Stephanie Nannen – Zitat der Woche)
Heute vor zwanzig Jahren starb Henri Nannen, einer der prägenden Journalisten der Nachkriegszeit. „Du musst eine Geschichte erzählen“, erinnert sich Enkelin Stephanie Nannen an ihren Großvater. „Nimm deinen Leser mit auf die Reise und lass ihn mit erleben, mit erfahren, mit schmecken, mit leiden und mit lieben!“
In einem Beitrag für Kress Pro schreibt Stephanie Nannen über die Einsamkeit des Journalisten, der mit seinem Leser ein Zwiegespräch führe:
Gesprächspartner sei nicht die anonyme Masse, sondern der einzelne Leser, der Mann, der im Zug die Zeitung liest, der Arbeiter in der Pause, die Frau, wenn sie am Abend endlich Zeit dazu findet – immer nur ein einzelner Mensch, der beim Lesen so allein ist wie der Journalist beim Schreiben. Diese beiden seien Partner eines Gesprächs. Ob sich diese Szene tausend oder wie beim Stern seinerzeit in der Woche neun Millionen Mal ereigne: In jedem Fall ist der Journalist mit seinem Leser allein.
Und sie nennt den Grundsatz ihres Großvaters:
Ein guter Journalist versuche seinen Leser weder zu belehren noch zu manipulieren.
Der süße Duft der Heimat und das leichte Gift der Kritik – Das Süderländer Tageblatt und die Zeitungs-Zukunft
Was hat die Bahn eigentlich nach dem Unglück von Bad Aibling gemacht, um künftig ähnliche Fehler zu vermeiden und vor allem den menschlichen Faktor ausreichend zu berücksichtigen? Die meisten Zeitungen haben das Thema beiseite gelegt, nachdem der verantwortliche Stellwerks-Leiter als Schuldiger erkannt und angeklagt worden war.
Wer wissen will, dass die nächste Katastrophe nicht verhindert werden kann – der lese bei einer der kleinsten Zeitungen in Deutschland, beim Süderländer Tageblatt. Stephan Aschauer-Hundt ist Chefredakteur ohne Titel und schreibt aus Passion über die Bahn und die Folgen von Bad Aibling und rügt die Regierung:
Der Zugbahnfunk ist wohl nur eine hübsche Nebensächlichkeit. Nach dem Desaster von Bad Aibling redet Berlin die Unterwegs-Erreichbarkeit von Zügen und Stellwerken klein.
Stefan Aschauer-Hundt hat recherchiert: „Sämtliche derzeit installierten Geräte leiden laut Bundesregierung unter Empfangs- und Sendeproblemen.“ Der Artikel ist im Netz gegen Bezahlung zu lesen.
Das Süderländer Tageblatt dürfte – trotz der kleinen Redaktion (oder deswegen?) –eine der stärksten Lokalredaktionen besitzen. Annette Milz stellt in „Talente 2016“ im aktuellen Medium-Magazin Laurina und Florian Ahlers vom Süderländer Tageblatt vor, beide Mitte zwanzig:
Mit der Leseraktion ,Wir sind Plettenberg – wir sind bunt‘ senden sie ein gesellschaftliches Statement in den ländlichen Raum. Zeitungsseiten, eine Beilage und eine Facebook-Seite füllten die Aktion und auch Landes- und Bundespolitiker unterstützten sie. Hunderte von Lesern sendeten ihre Foto… Sie sind froh, im Kleinen ein großes nachhaltiges Stadtgespräch in Gang gesetzt zu haben.
In meiner Kress-Kolumne JOURNALISMUS! porträtiere ich die kleine, besonders feine Zeitung:
Die neunköpfige Redaktion verwirklicht schon, was Optimisten als das Modell der Zeitungs-Zukunft sehen: Der süße Duft der Heimat und das leichte Gift der Kritik, eben Jubelarien zum Schützenfest und investigative Recherche übers neue Einkaufszentrum. Das geht – und das funktioniert. Wer mit Stefan Aschauer-Hundt, dem Chef, durchs alte Verlagshaus geht, hört einem Journalisten zu, der ein wenig stolz ist und ein wenig verbittert, der ein wenig Promi ist in einer wohlhabenden Region, aber auch ein wenig Prophet, verkannt im eigenen Land, und sogar ein wenig Märtyrer, der sich für die gute Sache – eben die klare und tiefe Recherche – einsetzt und dafür attackiert wird.
Immer wenn etwas schief läuft in den Tälern, vermeintlich schief läuft, ist die Zeitung schuld, sagt Stefan Aschauer-Hundt. Die Zeitung ist oft der Sündenbock: Wenn sich eine Redaktion oft zwischen die Stühle setzt, wird sie nicht geliebt, aber unverzichtbar.
Stefan Aschauer-Hundt ist der Chef, der sich nicht den Titel „Chefredakteur“ gönnt: Alle in der Redaktion haben eine Stimme, alle reden mit, sagt er. Wenn seine Haare grauer wären, könnte man ihn für einen Achtundsechziger halten, in die Jahre gekommen. Aber die mögen keine Schützenfeste.
„Suchet der Stadt Bestes“, so übersetzte Luther einen Text des Propheten Jeremias. Der passte zur Zeitung in der protestantisch geprägten Stadt. Wenn es sein muss, dann kämpft die Redaktion nicht nur, sondern sie führt den Kampf an, beispielsweise gegen die Landesregierung in Düsseldorf, die vor zwei Jahren die Förderschule in Plettenberg schließen wollte – „mit der Brechstange“, wie Bürger meinten.
„Welche Kraft Lokaljournalismus haben kann, der seine Leser mit ins Boot holt, bestätigt das Ergebnis: Die Schule besteht weiterhin.“ So formulierte Dieter Golombek in der Jury-Begründung des Deutschen Lokaljournalisten-Preises 2014 und fügte an: „Die Zeitung macht das Thema zum Stadtgespräch.“ Genauer und kürzer kann man das Geheimnis des Erfolgs nicht beschreiben.
Die Redaktion nutzt offenbar den Freiraum, den ein eigener Verlag bietet: Sie muss sich nicht in ein Konzern-Korsett pressen lassen, sie bestimmt, ob sie sechs Seiten Lokales fährt oder zwanzig – je nach Thema und Recherche-Stand.
2009 gewann das Süderländer Tageblatt erstmals einen der Deutschen Lokaljournalistenpreise – für eine deutsch-deutsche Geschichte, die einmalig war und das hohe Selbstbewusstsein der Redaktion belegt: Eine „rollende Redaktion“ besuchte vier Mal die Partnerstadt in Thüringen, um die Geschichte der Einheit mit Hilfe von Zeitzeugen zu erzählen. „Wir schufen aus Sicht der Neuen Forums eine Gegenöffentlichkeit zur örtlichen Monopolzeitung, die bis zum heutigen Tag die Anliegen der Bürgerrechtsbewegung sehr verhalten behandelt“, erzählt Stefan Aschauer-Hundt. Sogar der Bürgermeister wurde überführt – „der Beschönigung seiner persönlichen Geschichte“.
Die Chuzpe muss eine West-Redaktion, zumal eine kleine, erst einmal aufbringen: Einer großen ostdeutschen Redaktion samt Leserschaft zu zeigen, was investigative Recherche ist!
Umgerechnet auf die Auflage dürfte keine Zeitung öfter den begehrten Deutschen-Lokaljournalismus-Preis gewonnen haben, der als der wichtigste für Regional- und Lokalzeitungen gilt.
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Die komplette Kolumne bei Kress:
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