Politisch unkorrekt: „Arschgeigen-Experten“ im Polizeiruf
Noch nie haben so viele Bürger öffentlich gegen die vermeintliche politische Korrektheit verstoßen wie zur Zeit: Im Netz darf jeder pöbeln und seinen Vorurteilen freien Lauf lassen.
Noch nie haben so viele Bürger den seriösen Medien jede Verletzung der politischen Korrektheit übel genommen wie zur Zeit: Unentwegt setzen sie Journalisten auf die Anklagebank.
Wo lassen all die guten Menschen – Gutmenschen ist politisch unkorrekt – nur Dampf ab? Im Fernsehen! In der Fiktion!, oft dokumentarischer als die Medien-Wirklichkeit. Kommissar Meuffels sagt im Münchner Polizeiruf „Wölfe“, in dem es um die Rückkehr der Wölfe geht:
Ich sehe diese Arschgeigen-Experten schon dasitzen, einer vom Agrarverband und so ein bezopfter Naturfreund, der dagegen hält.
Ein seriöser Journalist darf so etwas maximal denken, US-Serien wie House of Cards schätzen und jeden Sonntag den Tatort oder Polizeiruf schauen.
Was wäre, wenn Google unsere Volontäre ausbildete?
Volontäre kritisieren die Qualität ihrer Ausbildung, wie eine Studie der Universität Ilmenau in Thüringen belegt, an der gut zweihundert Volontäre teilgenommen haben. Diese Studie und die Charta der Journalistenschulen sind Thema der Kress-Kolumne JOURNALISMUS, die komplett hier zu lesen ist.
„Journalisten werden für eine Zukunft in der Vergangenheit ausgebildet“, schrieb ein Volontär in seinen Fragebogen. Kathrin Konyen aus dem Bundesvorstand des Deutschen-Journalisten-Verbands (DJV), der die Umfrage in Auftrag gegeben hat, kommentiert die Ilmenauer Studie:
Während die Vermittlung von klassischen journalistischen Fähigkeiten einigermaßen zufriedenstellend ist, hat die Ausbildung offenbar den Anschluss an die veränderten Anforderungen im Journalismus verpasst.
Selbst diese Interpretation, das Handwerk werde ausreichend vermittelt, ist reichlich optimistisch: Drei von zehn Volontären geben an, weder zu lernen, wie ein Journalist recherchiert, noch Recherche trainiert zu haben.
Nun mag man einwenden: Nicht die Volontärin soll bestimmen, was sie lernen muss, sondern Chefredakteur und Verleger – nach der alten Weisheit: Lehrjahre sind keine Herrenjahre. Aber diese Hybris kann sich keiner mehr erlauben: Die Volontäre sind heimisch in der digitalen Welt, während ihre Ausbilder noch elektrische Schreibmaschinen kennen und Klebe-Umbruch. So denken Volontäre offenbar intensiver an die Zukunft als viele ihrer Chefs, die eigentlich die Zukunft systematisch vordenken sollen. Eine Volontärin schreibt ihre Verwunderung in den Ilmenauer Fragebogen:
Die Journalistik hinkt Jahre hinter der Realität des Mediensystems hinterher.
Was die Thüringer Wissenschaftler herausgefunden haben, bestätigt der Hamburger Medienprofessor Weichert, der von der Arroganz der Ausbilder spricht, die sich vom alten Denken nicht lösen wollen. „Leider gibt es viele Kollegen, die noch nicht verstanden haben, dass journalistische Ausbildung neu gedacht werden muss.“
Journalismus muss allerdings nicht neu gedacht werden, aber er ist schwieriger geworden. In Zukunft muss ein Journalist das Handwerk beherrschen, so wie es Generationen vor ihm gelernt haben, aber er muss auch die sich stets wandelnde Technik beherrschen, muss immer wieder neu lernen, muss sich an den Lesern ausrichten, und er muss unternehmerisch denken, ohne die Unabhängigkeit seiner Profession zu gefährden. Das ist ein Dilemma, das ist das Dilemma der Ausbildung in den Verlagen:
- Es reicht nicht mehr, dass eine Volontärs-Mutter ihre Schützlinge behütet, ihnen das Porträt-Schreiben erklärt und oft vergeblich kämpft, wenn beim Engpass in einer Lokalredaktion die Volos nicht zu Kursen geschickt werden.
- Es reicht nicht, die Volontäre zu den Schulen zu schicken: Training und Theorie müssen verzahnt werden mit der Praxis in den Redaktionen. Das wird torpediert, wenn die Volontäre in ihrer Redaktion empfangen werden mit dem Schulterklopfen: Jetzt wird wieder richtig gearbeitet, vergiss lieber schnell das theoretische Gequassel-
- Es reicht nicht, die Volontäre ein paar Wochen in die Online-Redaktion zu schicken, sie Zeitungs-Artikel ins Netz transportieren oder der Polizei hinterherhecheln zu lassen.
Wie würde Google Journalisten ausbilden? Oder ein anderer der digitalen Konzerne? Dabei ist nicht entscheidend, was sie lehren, sondern vor allem wie sie lehren, wie sie miteinander arbeiten, wie sie führen, mit Fehlern umgehen – kurzum: wie sie mit Phantasie und Neugier die Welt neu erschaffen, ohne beliebig zu werden und nur nett zu sein (auch die digitale Welt ist eine harte Welt).
Ausbilden wie Google – das können Konzerne wie Springer, Gruner und Burda leisten, und sie tun es auch. Journalistenschulen, die nicht an Redaktionen angebunden sind, können es nur mühsam simulieren; Redaktionen könnten es leisten, wenn die Chefs es wollen und auch mal Geld in die Ausbildung und Ausbilder investieren, viel mehr Geld als heute.
Die meisten Volontäre müssen die Chefredakteure nicht zum Jagen tragen. Sie sind schon auf der Pirsch. Die Ilmenauer Studie belegt: Zwei von drei Volontäre wollen mehr über wirtschaftliches Handeln lernen und es auch trainieren, nicht zuletzt um im Überlebenskampf zu bestehen außerhalb einer Festanstellung. Die meisten Chefredakteure und Manager übersehen die Chance für die Verlage: Wer, wenn nicht die jungen Journalisten, wird in der Lage sein, neue Geschäfte auszudenken, auszuprobieren und zu verwirklichen?
In der Ilmenauer Volontärs-Studie beklagen die Volontäre:
- Wir werden nicht auf Management-Aufgaben vorbereitet.
- Wir trainieren nicht den Umgang mit Sozialen Medien.
- Wir wissen zu wenig über unsere Leser (und erst recht die Nicht-Leser).
- Wir lernen nicht, welche digitalen Werkzeuge es gibt und wie man sie nutzt.
Wenn Verlage nicht lernen, auszubilden wie Google es täte, wird es irgendwann Google selbst tun.
Luther, Journalisten und die Kunst, Unverständliches zu übersetzen
Politiker, Wissenschaftler und Bürokraten reden gern unverständlich – und protestieren, wenn Journalisten Unverständliches und Gestelztes übersetzen. Zu Luthers Zeiten riskierte einer, der die Bibel allzu frei übersetzte, den Ausschluss aus der Kirche und das Ende seiner Existenz. Luther brauchte also auch Mut, wir würden es heute Zivilcourage nennen, wenn er seine Methode durchzog, die Bibel verständlich ins Deutsche zu übertragen.
Doch beim Übersetzen geriet Luther schnell, aber durchaus gewollt ins Interpretieren und Kommentieren. Dies kennen auch heute Journalisten, wenn sie frei eine Politiker-Rede wiedergeben und heftig gescholten werden – zurzeit vorzugsweise von AfD-Politikern wie Frauke Petry, etwa nach dem „Schießbefehl auf Flüchtlinge“ im Mannheimer Morgen, oder nach Alexander Gaulands Boateng-Vergleich in der FAS.
Oft reicht ein Wort – wie bei Luthers Übersetzung einer Passage des Paulus-Briefs an die Römer. „Allein durch den Glauben wird der Mensch gerecht“, schreibt Luther, das Wort „allein“ steht allerdings nicht im Originaltext. Die Theologen schäumen, aber Luther rechtfertigt sich: „Es steht so nicht in der Bibel, aber es gehört eben im Deutschen hinein um der Klarheit willen.“
Luther musste auch Wörter finden und erfinden. Auch vor Luther gab es eine Reihe von deutschen Übersetzungen wie die von Johannes Mentelin, ein gutes halbes Jahrhundert vor Luther. Viele Wörter in Mentelins Text kannte Luther nicht wie „Trom“, das Luther nach langem Nachdenken mit „Balken“ umschrieb, oder „agen“, das er mit Splitter übersetzte: „Du siehst den Splitter (agen) im Auge deines Bruders, aber nicht den Balken (trom) in deinem Auge.“
Journalisten lest viel! Erweitert Euren Wortschatz! Das wäre Luthers Rat an Volontäre wie gestandene Redakteure: „Wer dolmetschen will, muss einen großen Vorrat von Worten haben“, ist im „Sendbrief vom Dolmetschen“ zu lesen. Luther schätzte zudem eine Sprache mit Gefühl – eben „auf dass es dringe und klinge ins Herz, durch alle Sinne“.
* Die komplette Kolumne JOURNALISMUS! „Hummeln im Arsch: Die Sprache der Journalisten“ bei kress.de:
http://kress.de/news/detail/beitrag/135792-hummeln-im-arsch-die-sprache-der-journalisten.html
INFO
Die Ausstellung „Luther und die deutsche Sprache“
Die gut besuchte Ausstellung ist die letzte von sechs Ausstellungen der Wartburg vor dem Lutherjahr 2017, in dem die Ausstellung „Luther und die Deutschen“ von Mai bis November 2017 zu sehen sein wird. Das Welterbe Wartburg ist die meistbesuchte Lutherstätte.
Die Sonderausstellung „Luther und die deutsche Sprache“ ist bis zum 8. Januar 2017 auf der Wartburg zu besichtigen (im Sommer von 8.30 bis 17 Uhr); der Katalog kostet 12,95 Euro.
Das Selbstverständnis von Sportjournalisten: Sieben Thesen
In meiner Diplomarbeit habe ich vor knapp 10 Jahren das Qualitätsverständnis von Sportjournalisten untersucht. An eine Aussage eines Sportjournalisten werde ich mich stets erinnern, denn sie war und ist kennzeichnend für den Sportjournalismus. Frage: Wie wichtig ist Ihnen Objektivität? Antwort: „Ich bin objektiv, ja, aber mit Begeisterung für den eigenen Verein“
„Axel“ kommentiert so meine nacholympische Journalismus!-Kolumne bei kress.de über Medienhengste, das ewige Duzen und die Angst des Journalisten vor dem Sportler.
Bei großen Sportereignissen werden – aus Sicht der meisten Kritiker – Sportreporter ihrem Ruf als Schmuddelkinder des Journalismus gerecht. Nicht nur die Verhunzung der Sprache, die schiefen Bilder, die endlose Folge der Phrasen und Plattitüden beklagen die Kollegen Kritiker, sondern auch das ewige Geduze und die große Nähe zu den Sportlern, ob jubelnd im Sieg oder zersetzend in der Niederlage – treu dem Boulevard-Motto: Wer mit uns im Aufzug nach oben fährt, der fährt auch wieder runter; dabei ist die Fahrt abwärts meist ein Sturz ins Bodenlose.
Der FAZ-Redakteur Steffen Haffner klagte schon vor einem Jahrzehnt über den Sport im Fernsehen:
Mit Journalismus hat das meist nichts mehr zu tun. Die Moderatoren sind selbst Showstars geworden, die gleich Marktschreier das teuer gekaufte Produkt ihres Senders hochzujubeln haben.
Wer stundenlang Olympia schaut, spürt die Angst der Reporter vor den Sportlern: Kommen sie ihnen zu nah, wird ihnen PR unterstellt und Kotau vor ihren Sendern, die zig Millionen für die Rechte bezahlt haben. Bleiben sie distanziert, gelten sie als gefühlsarme heimatlose Gesellen, die den Stolz der Deutschen vor dem TV-Gerät nicht teilen wollen.
Welches Selbstverständnis haben Sportjournalisten? Ist es der Opportunismus des Boulevards: Läuft es gut, siegen die Moderatoren immer schön mit; geht’s schlecht aus, wissen Journalisten, woran es gelegen hat?
Ein Vorschlag wäre, TV-Interviews direkt nach einem Spiel oder Olympia-Gold mit einem Warnhinweis zu versehen, wie wir ihn aus der Medikamenten-Werbung kennen: „Zu Risiken und Nebenwirkungen von Sportler-Interview fragen Sie Intendanten und Leitende Redakteure.“
Sportjournalisten sollten sich als Profis profilieren. Deshalb dieser Entwurf einer Charta für das Selbstverständnis von Sportjournalisten:
- Habe Respekt vor Sportlern wie Publikum (vor dem TV und hinter der Zeitung)!
2. Sei Stellvertreter des Publikums, das sich freut und leidet – aber aus der Distanz des Journalisten! Meide Euphorie und Verachtung!
3. Erkläre dem Publikum, was es sieht – verständlich, fachkundig und gut vorbereitet!
4. Lass Dich von Funktionären nicht vereinnahmen, sondern kontrolliere und kritisiere!
5. Schätze unsere Sprache, die unendlich schön ist und reich!
6. Meide Phrasen, Klischees und dumme Fragen!
7. Habe keine Angst vor dem Schweigen!
Interviews mit Despoten: Auf die eigene Haltung kommt es an (Gespräch mit Dieter Bednarz)
Politiker in Europa wollen die Gespräche mit der Türkei abbrechen: Mit Diktatoren niemals! Gilt das auch für Journalisten? Franz Josef Wagner, Kolumnist der Bildzeitung, meint: „Gott, für ein Interview lächelte ich selbst mit dem Teufel.“ Auch Dieter Bednarz, Nahost-Experte des Spiegel, interviewt jeden: „Ich hätte keine Scheu, morgen auch nach Nord-Korea zu reisen, wenn ich dort einen Termin bekommen könnte. Wichtig ist doch, die richtigen Fragen zu stellen.“
Wohl kein anderer Reporter hat so viele Interviews mit Despoten geführt wie Bednarz. Im Kress-Gespräch, veröffentlicht in meiner Journalismus!-Kolumne, geht er auf die Haltung ein, die ein Reporter mitbringen sollte:
Wer sich so mit dem Land auseinandersetzt, geht natürlich mit einer eigenen Position in einen solchen Termin, kommt als kritischer Frager und scheut auch den Schlagabtausch nicht. Auf diese eigene Haltung kommt es – neben Fachwissen – an…. Meine einzige Sorge ist mitunter, dass eine zu harte Frage, womöglich wie bei Motakki gleich als Einstieg, zum Abbruch des Termins führt.
Bednarz hatte das Interview mit dem iranischen Außenminister Motakki mit der Frage begonnen: „Herr Außenminister, Sie sind der oberste Diplomat der Islamischen Republik Iran. Sie vertreten eine Nation, die sich einer Kulturgeschichte von über 2500 Jahren rühmt. Beschämt es Sie nicht, dass in Ihrem Land Menschen gesteinigt werden?“ Manutschehr Motakki hatte die Frage auch bei der Autorisierung nicht gestrichen.
Für Bednarz sind solche Interviews auch ein Grund, warum er Journalist geworden ist:
Mich interessieren politische Entwicklungen sowie Menschen und deren Schicksale. Das gilt nicht nur für die Mächtigen, sondern auch für Oppositionelle. Eine großartige menschliche Bereicherung waren die zwei Stunden Interview mitten in der Nacht, die mir Ahmadinedschad-Gegenspieler Mehdi Karroubi, der unter Hausarrest stand, gewährt hat. Und wenn Sie zweieinhalb Stunden mit einem wie dem ägyptischen Staatschef Sisi reden, dann bekommen Sie schon eine Ahnung davon, wie diese Person tickt und welche Botschaft sie zum Beispiel an die Bundesregierung übermitteln will. Wenn das Gespräch gut geführt wird, dann erschließt sich das auch dem Leser und ist ein Gewinn für ihn.
„Ein Journalist scheut den Schlagabtausch nicht“ ist das Gespräch überschrieben, das in voller Länge bei kress.de nachzulesen ist.
Interviewer bei Despoten: Stichwort-Kastraten oder Diplomaten, die mit dem Teufel lächeln?
Journalisten, die sich als Medienkritiker verstehen, gehen selten verständnisvoll mit Journalisten um, die keine Medienkritiker sind. Gespalten sind sie in der Einschätzung von Sigmund Gottlieb vom Bayerischen Rundfunk, der mit dem türkischen Präsidenten Tayyip Erdogan ein ARD-Interview führte:
- „Stichwort-Kastrat“ nennt ihn Tomas Avenarius in der Süddeutschen Zeitung: „Gottlieb plaudert sich einfühlsam nickend wie ein Psychotherapeut durch das halbstündige Interview. Avenarius beurteilt wie die Mehrheit der Kritiker den Interviewer als devot und unkritisch ein und reiht Gottlieb ein „mit anderen verständnisvollen Befragern ungezügelter Machtmenschen: Jürgen Todenhöfer bei Baschar al-Assad, Claus Kleber bei Mahmuf Ahmadineschad, Hubert Seipel bei Wladimir Putin“; er kommt zu dem Schluss: „Alles keine Sternstunden des deutschen Fernsehens.“
- „Die Taktik von Gottlieb war gar nicht schlecht“, kommentiert dagegen Michael Hanfeld in der FAZ. „Er trat schon fast übertrieben freundlich auf, fiel nicht mit der Tür ins Haus und fragte eher um die Ecke. Etwa durch den Hinweis, dass Erdogan auf den Putsch ja erstaunlich schnell reagiert habe – ganz so, als habe er nur auf ihn gewartet.“ Hanfeld gibt zu bedenken, dass nach drei Minuten das Interview zu Ende gewesen wäre, hätte Gottlieb mit den ersten Fragen „gleich klare Kante“ gezeigt.
- „Erdogan interessierte mich mehr als der Journalist“, schreibt Franz Josef Wagner in der Bildzeitung. „Die Person Erdogan ist so bestürzend sicher. Er hat überhaupt keine Vorstellung davon, nicht Erdogan zu sein.“ Wagner geht auch auf die Frage ein, ob man überhaupt einen Diktator interviewen solle. „Natürlich. Selbst den Teufel, wenn er in ein Interview einwilligt… Mit dem Teufel lächeln – Gott, für ein Interview lächelte ich selbst mit dem Teufel.“
Die Bildzeitung korrigierte auf derselben Seite Erdogans Irrtümer: „So führte der Türken-Präsident die deutschen TV-Zuschauer hinters Licht.“
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Quellen: SZ, FAZ, Bild, alle vom 27. Juli 2016
Selbstkritik nach dem Amok-Abend: Ich weiß nicht mehr, warum ich Falschmeldungen abgesetzt habe
„Lediglich BBC World und CNN berichteten, dass jemand vor den Schüssen im Olympia-Einkaufszentrum laut rief ,Allah ist groß‘, und zwar auf Arabisch“, mailt mir ein guter Freund, schickt ein Screenshot von CNN, vermutet bewusste Nachrichten-Unterdrückung bei deutschen Medien und argwöhnt: „Es bleibt eine merkwürdige Differenz zwischen nationalen und internationalen Medien in der Berichterstattung. Oder sehe ich da Spuren, die keine sind?“
Ja, sieht er. Christian Jakubetz beschreibt auf Twitter, auch mit bemerkenswerter Selbstkritik, wie Berichterstattung der ausländischen Medien funktioniert. Er habe so viel wie noch nie über Journalismus gelernt, schreibt er:
Ich war gestern Abend und heute Nacht für Stunden bei BBC World und Deutsche Welle TV on air. Jeden zweiten Satz musste ich mit „not confirmed“ beenden. Und obwohl ich mich natürlich bemüht habe, ausschließlich (vermeintliche) Fakten zu schildern, habe ich Falschmeldungen in die Welt gepustet: nämlich die, dass es auch am Stachus zu einer Schießerei gekommen ist und dass drei Männer am OEZ geschossen haben… Jetzt, mit dem Abstand von einer paar Stunden, weiß ich nicht mehr, warum ich diese Meldungen abgesetzt habe, ohne sie gegenzuchecken. Allerdings, ohne dass das eine Ausrede sein soll: Man steht da plötzlich mehr oder weniger unvorbereitet und Radio- und TV-Stationen aus der ganzen Welt wollen von dir im Minutentakt etwas Neues haben.
Jabubetz Erkenntnisse über die Sozialen Medien sind zwiespältig nach dem Münchner Amok-Abend:
Großartig! Der Hashtag #offeneTür, die unaufgeregten Informationen der Polizei und die Facebook-Funktion, mit der man markieren konnte: Ich bin in Sicherheit.
Hassenswert: All der Dreck, der ausgekotzt wird; Gerüchte (Bombenanschlag mit 250 Toten); die üblichen Hetzer; Journalisten wie vom Münchner Merkur, die kommentierten, wie perfide es sei, ausgerechnet München zum Ziel des bestialischen islamischen Terrorismus zu machen.
Ist das nicht ein Plädoyer für einen Journalismus, der recherchiert, einordnet und zum Auge des Orkans wird, zum Ruhepunkt?
Nach Münchner Amok: Verliert seriöser Journalismus das Rattenrennen mit sozialen Netzwerken?
Die Heute-Sendung des ZDF am Freitag begann, als gerade die ersten Nachrichten vom Amoklauf in München bekannt wurden und noch keiner wusste: Terror oder Amok? Tote und Verletzte? Barbara Hahlweg moderierte Heute und breitete nach einer Viertelstunde ein wenig verzweifelt die Arme aus, als wollte sie sagen: „Nun bitte, Regie, was machen wir denn jetzt?“ Die Geste sollten die Zuschauer eigentlich nicht sehen, aber alle waren verwirrt.
Was soll eine Moderatorin dem Zuschauer mitteilen, wenn die Schaltungen kaum funktionieren, sie nichts weiß und ihre Gesprächspartner noch weniger? Gutes Fernsehen im Auge von Terror und Amok ist live geradezu unmöglich: Es gibt keine Bilder oder nur die aus den sozialen Medien, die kaum einer einzuordnen weiß.
Was soll eine Moderatorin tun? „Im Unterschied etwa zur ARD werden im ZDF auch die Nachrichten in heute nicht von Sprechern, sondern von Redakteuren präsentiert, die für die professionelle Vorbereitung der Nachrichten verantwortlich sind. Journalistische Erfahrung und sachliche Kompetenz kommen dem Zuschauer direkt zugute“, so steht es auf den Internet-Seiten des ZDF.
Aber was nützt all die Erfahrung und Kompetenz in solch einer Lage? „Hektik und künstlich in die Länge gezogenes Gerede stärken die Glaubwürdigkeit nicht, sie schaden ihr“, sagt Claus Kleber, einer der Heute Journal-Moderatoren. Der hat gut reden, mag Barbara Hahlweg gedacht haben, falls sie dies am Morgen danach in der Süddeutschen Zeitung gelesen hat.
Kleber schrieb den langen Beitrag „Was tun, wenn’s brennt?“ allerdings vor München. Die Druckmaschinen für die SZ-Deutschland-Ausgabe liefen schon mit dem Kleber-Artikel, als noch keiner etwas vom Amok in der Olympia-Mall ahnte. Kleber reagierte auf die Vorwürfe, beim Terror in Nizza und dem Türkei-Putsch nur langsam reagiert zu haben – im Gegensatz zu den sozialen Netzwerken.
ARD-Aktuell-Chef Kai Gniffke hatte schon in einem FAZ-Interview auf diese Vorwürfe reagiert: „Was mache ich bei einem Live-Signal, bei dem ich nicht wissen kann, was passiert? … Wir leisten der Gesellschaft keinen Dienst, wenn wir einfach draufhalten und in einen Wettbewerb um das spektakulärste Bild eintreten.“
Ähnlich lesen wir bei Kleber:
Es ist niemandem geholfen, wenn die Öffentlich-Rechtlichen sich auf ein Rattenrennen mit Social Media einlassen… Es muss nicht immer gleich pausenlos gesendet werden. Denn dann steigt tatsächlich die Gefahr, dass in der Bildernot ständig wiederholte emotionale Szenen das Gefühl von Hilflosigkeit verstärken, das Terroristen verbreiten wollen.
Wahrscheinlich wirkt eine fassungslose Barbara Hahlweg ehrlicher auf die Zuschauer als kühle Routine. Was soll sie denn sagen, wenn im Sendeablauf der Sport an der Reihe ist und sie, wie die meisten Zuschauer, Spielerwechsel in der Bundesliga nicht mehr für wichtig hält und das Wetter erst recht nicht?
Der Tagesschau-Moderator Jens Riewa, auch wenn er nur „Sprecher“ ist, versuchte eine Stunde später zwar mit Pokerface jedes Gefühl zu verbannen, aber ihm erging es nicht besser: Keine Nachrichten, kaum eine Leitung, die stand, Blaulicht und immer wieder Blaulicht – und so blieb es, als die ARD in den nächsten Stunden dran blieb. Thomas Roth in den Endlos-Tagesthemen am Münchner Abend war routinierter – ein halbes Jahrzehnt New York prägt eben -, aber er konnte seinen Gesprächspartnern auch nicht mehr entlocken als „Wir wissen noch nichts Genaues“, und dass er nicht mehr entlocken, dass er nicht Gerüchte anzetteln wollte, das zeichnete den Profi aus.
Aber verliert trotzdem das Fernsehen, wenn es ermüdende Dauerschleifen fährt, nicht gegenüber den Sozialen Netzwerken? Morgenmagazin-Moderatorin Dunja Hayali schreibt in einem Tweet:
Ich kann den Impuls ,ich will sofort alles wissen‘ verstehen. Mir geht es auch so. Als mich die erste Eilmeldung aus München erreichte, habe ich sofort den Fernseher angemacht. Es war noch nichts zu sehen. Der News-Junkie in mir war enttäuscht, der Newsmacher in mir dachte, richtig so.
Und was sollen die TV-Journalisten nun tun? Dunja Hayali zitiert die Antwort des Münchner Polizeisprechers Marcus da Gloria Martins: „Wir machen unsern Job.“ Und der Job der Journalisten ist: „Saubere, sachliche, anständige, unaufgeregte und zurückhaltende Arbeit. Unbestätigtes als solches benennen, aber dabei auch niemanden in falscher Sicherheit wiegen.“
Cleber schreibt in seinem Essay, dass „schnell“ zu seinen Lehrzeiten der wichtigste Maßstab war und mittlerweile zum fragwürdigsten geworden ist. Und er stellt die entscheidende Frage: Was wird, wenn die Bürger nur noch Soziale Medien wahrnehmen mit ihren Echtzeit-Dramen und nur noch wenige Bürger den recherchierenden Journalismus? Bei aller Begeisterung für Twitter, bei allem Verständnis, den ungeliebten Öffentlich-Rechtlichen eins auswischen zu wollen, darüber sollten wir in weniger aufgewühlten Zeiten in Ruhe debattieren:
Die USA machen uns gerade vor, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft mit dem ‚common ground‘ auch den ,common sense‘ verliert, wenn die gemeinsame Basis an Informationen wegfällt, auf der Menschen ihre unterschiedlichen Schlüsse ziehen können.
Die Frage stellt sich für alle seriösen Medien, ob TV, Presse und Lokalmedien. Was passiert, wenn die seriösen Medien nicht mehr die meisten Bürger erreichen?
Chefredakteure auf der Insel: „Nur Lokaljournalismus wird uns die Zukunft sichern“
Chefredakteure von bedeutenden Regionalzeitungen müssen sich den ganzen Tag Gedanken machen über diesen Leser, das flüchtige Wesen, kommen aber immer weniger mit ihm in Kontakt – weil sie, eingekeilt zwischen Redaktion und Verlag, mehr Manager und Produktentwickler sind, Etat-Verwalter und Anzeigenkundenbespaßer, Repräsentant und Chef, aber nie noch selbst Reporter. Jeder, wirklich jeder Chefredakteur schwärmt bei Gelegenheit von den guten alten Zeiten, als er selbst noch an der Front um die neueste Nachricht kämpfte, und fällt schlecht gelaunt in sich zusammen, wenn er ans nächste Meeting mit den Gesellschaftern denkt.
So genau wie SZ-Reporter Ralf Wiegand hat noch keiner Chefredakteurs Not beschrieben. „Reif für die Insel“ ist der Titel seiner Reportage über fünf Chefredakteure, die auf der Nordsee-Insel Föhr eine Woche lang den Insel-Boten produziert habe. Stefan Kläsener, der Chef des Flensburger Tageblatt, hat vier der besten deutschen Chefredakteure für seine Insel gewinnen können: Michael Bröcker (Rheinische Post), Jost Lübben (Westfalenpost – dort Nachfolger von Kläsener), Wolfram Kiwit (Ruhr-Nachrichten), Ralf Gansenhanslüke (Neue Osnabrücker Zeitung).
Was sind das für Zeiten, in denen Chefredakteure mal wieder das machen, was sie als das Wichtigste sehen: Lokaljournalismus! Und mal was anderes als Leitartikel schreiben, die im Deutschlandfunk zitiert werden! Ob sie auch in Bad Berleburg, Leverkusen, Castop-Rauxel und Quakenbrück bald mal als Reporter auftauchen? Sie wünschen es sich bestimmt, um „das Gemurmel wieder hören, aus dem die Nachrichten entstehen“ (Wiegand) – aber dann kommt der Produktentwickler und lädt zum unsagbar wichtigen Meeting…
Nur der Lokaljournalismus wird uns die Zukunft sichern,
sagt Michael Bröcker, der Deutschlands große, vielleicht größte Regionalzeitung leitet. So sei es, werte Manager und Produktentwickler!
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Quelle: SZ 22. Juli 2016 „Reif für die Insel“
Demut tut auch Journalisten gut: Interview mit einem Flüchtlingshelfer in Nahost
Wir wissen oft nicht, wer gerade gegen wen ist, und Kugeln tragen keinen Absender. Im Krieg gibt es keine Engel… Die Engel sind die Menschen, die zu überleben versuchen. Die kleinen Kinder, die plötzlich aus Ruinen auftauchen, wo kein Mensch noch Überlebende vermutet…
Wenn du dort bist, wirst du als Helfer zu einem, der funktionieren muss. Der in alle Richtungen schaut, angerührt ist und gleichzeitig ständig auf der Hut sein muss.
So Muhannad Hadi, Leiter des UN-Welternährungs-Programm (World Food Programm), im Interview mit Michael Bauchmüller und Stefan Braun von der Süddeutschen Zeitung. Die Reihe „Reden wir über Geld“ ist eine Perle der Wirtschaftsseiten: Geld, viel Geld, spielt nicht nur in Unternehmen und Konzernen und an den Börsen eine Rolle, sondern überall wo Menschen leben – und sei es in syrischen Ruinen.
Der Appell an die Demut könnte auch ein Appell an Journalisten sein, ihre Redaktionsräume einmal im Jahr zu verlassen und dorthin zu reisen, wo Armut und Not herrschen:
Es ist verrückt, aber das Erleben von Not schenkt einem etwas: dass man das, was man hat, ganz anders schätzt. Und man schaut plötzlich anders auf seine Umwelt…
Wenn du aus einem Flüchtlingslager zurückkommst in ein schickes Hotel, in ein Restaurant, dann denkst du ganz anders über die Leute, die sich gerade am Nebentisch über ein falsches Gedeck, eine versalzene Soße, ein schlecht gebratenes Steak beschweren. Manches wird lächerlich.
Der IS und das Geld ist keine neue Nachricht: Aber was geschieht in den Köpfen und Seelen der Menschen, die gut von diesem Geld leben?
Der IS ist kein Staat, aber er verhält sich wie ein Staat, und er fordert uns heraus. Er hat große finanzielle Ressourcen; eine Familie bekommt in ihrem Herrschaftsbereich bis zu 400 Dollar im Monat, während ein Universitätsprofessor in Damaskus nur 20 Dollar bekommt. Das klingt ganz banal und ist extrem gefährlich…
Wenn eine Mutter ein paar Hundert Dollar vom IS nimmt, dafür dass sie Kinder erzieht, sich an die strengen Regeln hält, überleben will – was für ein Gift verbreitet sich dann in den Köpfen ihrer Kinder? Was für einen Effekt hat das auf künftige Generationen? Was da entsteht, ist eine Katastrophe.
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Quelle: SZ 22. Juli 2016 „Im Krieg gibt es keine Engel“
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