Alle Artikel der Rubrik "Friedhof der Wörter"

„Dunkeldeutschland“ ist ein Unwort (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 29. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Hell und dunkel, weiß und schwarz, Himmel und Hölle – diese Wörter haben die Menschen schon immer fasziniert und ihr Denken bestimmt. In der deutschen Sprache springen die Gefühle, die diese Wörter auslösen, in die Vokale hinein: Das helle fröhliche „e“ in hell, das tiefe unheimliche „u“ in dunkel.

Der Gegensatz von hell und dunkel drängt sich selbst kritischen Geistern auf, wenn sie die Menschen verwirrt und sie sich nach einfachen Erklärungen sehnen – wie unser Bundespräsident. Angesicht der brennenden Flüchtlingsheime und der Bürger, die sich vor Fremden fürchten, sortierte er: „Es gibt ein helles Deutschland, das sich leuchtend darstellt, gegenüber dem Dunkeldeutschland.“

Diese schlichte Ordnung der Welt in Hell und Dunkel, in Gut und Böse, hat nicht unser Bundespräsident erdacht, sie ist so alt wie unser Denken überhaupt. Immer wenn Gesellschaften wanken, haben solche Philosophien Konjunktur, wie sie der Perser Mani im dritten Jahrhundert begründet hat: Die Welt gehört zum Reich der Finsternis, aber die Guten, die Kinder des Lichts, erlösen sie.

Diese Philosophie, die jedem zugänglich ist, mögen die Religionen und Ideologien, das Christentum ebenso wie der Kommunismus, Augustinus wie Karl Marx. Nur in friedlichen Zeiten finden auch Philosophen Gehör, die skeptisch sind, die den Menschen sehen, wie er ist: Manchmal gut, manchmal böse, meist widersprüchlich. Der Mensch ist weder hell noch dunkel, er ist grau.

So sind auch die Gesellschaften. Es gibt kein Helldeutschland, selbst das Wort braucht keiner: Wer im Internet danach sucht, wird nicht fündig. Es gibt auch kein „Dunkeldeutschland“, zumal dieses Wort belastet ist: Westdeutsche nutzten es, wenn sie durch die DDR reisten und sich über die wenigen Straßenlaternen wunderten.

Nach der Revolution demütigten Westdeutsche so die Ostdeutschen, so dass 1994 „Dunkeldeutschland“ sogar in die Auswahl zum Unwort des Jahres kam. Wörter haben auch ihre Geschichte: Der Bundespräsident, der aus dem Osten kommt, wird dies wissen.

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Quelle:

Der Bundespräsident sagte am 26. August beim Besuch einer Flüchtlingsunterkunft im ehemaligen Rathaus Wilmersdorf in Berlin  laut Tagesschau: (Er lobte) die „vielen Freiwilligen, die zeigen wollen, es gibt ein helles Deutschland, das hier sich leuchtend darstellt gegenüber dem Dunkeldeutschland, das wir empfinden, wenn wir von Attacken auf Asylbewerberunterkünfte oder gar fremdenfeindlichen Aktionen gegen Menschen hören“. Gauck bezeichnete Rechtsextremisten und Ausländerfeinde als Hetzer, die das weltoffene Bild Deutschlands beschädigten.

Thüringer Allgemeine, 31. August 2015, Friedhof der Wörter

Die Auflösung der Rechtschreib-Fragen: E-Mail ist richtig, und Email etwas Glänzendes auf Metall

Geschrieben am 24. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Die Auflösung der Testfragen; diese Schreibweise  ist richtig;

  1. b) „E-Mail“ ist richtig.
    Einzelbuchstaben werden laut Duden generell mit Bindestrich angekoppelt – wie auch bei T-Shirt und U-Bahn.
  2. c) „Du“, grobgeschrieben oder „du“ bei der Anrede? Beides geht.
    Die Großschreibung gilt aber als höflicher.
  3.  a) Wie bedankt man sich: „im Voraus“ ist richtig.
    Voraus ist zwar ein Adverb und wird deshalb kleingeschrieben. Bei „im Voraus“ ist es aber substantiviert, folgt einem Artikel „in dem – im“ und wird deshalb großgeschrieben. Korrekte Schreibweise ist mit einem „r“.
  4. a) Eine Ehe wird „annulliert“:
    Die Bezeichnung geht auf das spätlateinische Verb annullare zurück und wird deshalb mit zwei „n“ und zwei „l“ geschrieben.
  5. c) Die Geldbörse wäre eine Alternative, wenn nach der Rechtschreibreform neben Portemonnaie auch Portmonee erlaubt ist.

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Thüringer Allgemeine 22. August 2015

Die missglückte Rechtschreibreform: Geht auch Portmonee? Ein Test

Geschrieben am 24. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Gibt es eine Reform, die seit zehn Jahren in Kraft ist und kaum mehr Befürworter findet, geschweige denn Freunde? Ja, die Rechtschreibreform. Es gibt nur einen Gewinner: Den Duden. Es gibt viele Verlierer: Die Liebhaber der deutschen Sprache, zudem Deutschlehrer, Schüler und Eltern.

Die Thüringer Allgemeine hat die Einführung vor zehn Jahren zu einem Test genutzt. „Kennen Sie die neuen Regeln?“ fragt sie ihre Leser:

  1. Statt eines Briefes verschicken viele heute elektronische Post. Wie aber wie sie geschrieben?
    a) Email
    b) E-Mail
    c) EMail
  2. Wird jemand gesiezt, schreibt man „Sie“ statt „sie“. Wie ist die Regelung beim Duzen?
    a) Auch das wird großgeschrieben: „Du“.
    b) Das wird klein geschrieben: „du“.
    c) Es geht beides.
  3. Wenn man sich bei jemandem für etwas bedankt, das er noch gar nicht getan hat, geschieht das…
    a) im Voraus.
    b) im Vorraus.
    c) im voraus.
  4. Wenn man eine Ehe rückgängig machen möchte, dann will man sie…
    a) annullieren.
    b) anullieren.
    c) anulllieren.
  5. Eine Geldbörse ist ein..
    a) Portemonnaie.
    b) Portmonee.
    c)Es geht beides.Die Lösungen gibt es einen Blogeintrag weiter.

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Thüringer Allgemeine 22. August 2015

Geschliffenes Deutsch: Journalisten und ihr Sprachgefühl (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 23. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Was ist richtig: Das Dorf an der Grenze wurde geschleift? Oder: Das Dorf wurde geschliffen? Fügen wir diese Frage einem Test hinzu, den man sinnvoll zum Trauer-Jubiläum der Rechtschreibreform veröffentlichen könnte.

Leser beschweren sich gerne über Schludrigkeiten in unserer Zeitung, die in der Eile des journalistischen Geschäfts geschehen und die auch der Gegenleser in der Fülle der Wörter überliest. Freuen wir uns über jeden Leser, der wirklich schwere Fehler entdeckt – wie den Weimarer Professor Siegfried Freitag. Er fragt in einem Brief an die Thüringer Allgemeine: „Ist hier Sprachgefühl ein wenig verloren gegangen?“, und meint schwere Fehler  in meiner Serie „Die Grenze“.

Dort habe ich Dörfer „geschliffen“ statt „geschleift“. Aber richtig ist: Diamant werden geschliffen, Dörfer werden geschleift. Selbst der Duden achtet noch auf den Unterschied, obwohl er sich bei anderen Wörtern schon beugt wie bei „gewinkt“ (richtig) und „gewunken“.

Dörfer, die geschliffen wurden, wären nicht vom Boden der DDR verschwunden, sondern hätten den Wettbewerb zum schönsten Dorf gewonnen: Solch feinen, aber gewichtigen Unterschied nennt Professor Freitag zu Recht „Sprachgefühl“.

Brigitte Grunert schreibt die Sprach-Kolumne des Berliner „Tagesspiegel“. Sie entdeckte, wie die Grünen-Politikerin Claudia Roth im Wahlkampf auch übers Schleifen stolperte – und das Gegenteil von dem sagte, was sie sagen wollte. Als sie sich über den Plan der FDP aufregte, Steuern zu senken, meinte sie:

„Wenn es eine Entlastung der Besserverdienenden geben soll, dann kann das nur heißen, dass der Sozialstaat geschliffen werden soll.“

Das bedeutete: Der Sozialstaat wird leuchten wie ein geschliffener Diamant, wenn Politiker die Steuern senken. Das Gegenteil wollte sie sagen.

Wahrscheinlich werden ihre Anhänger „geschleift“ verstanden haben. Gleichwohl stimmt, was die Berliner Sprachexpertin Grunert schreibt: „Ach, geschliffenes Deutsch ist rar, aber es lohnt sich, die Bemühungen darum nicht schleifen zu lassen.“

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 24. August 2015

Wörterbuch der innerdeutschen Grenze (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 16. August 2015 von Paul-Josef Raue.

Spezialisten neigen dazu, eine eigene Sprache zu erfinde: Wissenschaftler und Ingenieure, Geheimdienstler und Gottesdiener. Auch DDR-Bürger, die an der Grenze arbeiteten, waren Spezialisten.

Sie fanden neue Wörter wie den „Provokationspunkt“, mit dem sie die Stelle bezeichneten, an der ein West-Bürger unerlaubt die Grenze überschritt. Überschreiten war bisweilen ungenau, manchmal schlitterten sie ins Hoheitsgebiet: An der Sprungschanzen in Braunlage, den Brocken in Sichtweite, lag der Auslauf direkt an der Grenze. Hatte der Springer nur einen Weite-Rekord im Sinn, aber nicht die Grenze zur DDR, schlitterte er mit seinen Skiern in einen anderen Staat – auch wenn der von seiner Regierung nicht anerkannt war.

Auf dem Brocken hieß die weithin sichtbare Kuppen des Brockenhauses „Stasi-Moschee“: Da verbanden Sprachschöpfer Witz und Wissen. In der Tat stocherte die Stasi im Leben anderer an einem Ort, der einer arabischen Moschee glich.

„Pansen-Express“ nannte der Grenz-Jargon die Soldaten, die den Hunden ihr Fressen brachten. Widersprüchlich sind die Aussagen, ob die Hunde bewusst wenig zu fressen bekamen, um besonders schnell und hungrig Flüchtlinge erwischen zu können.

Die Grenzer gaben bekannten Wörtern auch neue Bedeutung: „Kairo“ war nicht nur eine Hauptstadt, sondern die Aufschrift einer Ablage bei der Grenzkontrolle. Darin kamen die Pässe von Ex-Flüchtlingen, Journalisten, Politikern, Pfarrer und anderen möglich Subversiven.

An der Grenze fühlte keiner eine Gemütlichkeit wie im heimischen Wohnzimmer, doch gab es einen Teppich, den „Spuren-Teppich“ – wie der mit einer Egge gezeichnete Streifen hieß, in dem Flüchtlinge und Rehe ihre Spuren hinterließen.

„Feindwärts Spuren“ nannte eine Bäuerin an der Elbe die Spuren hinterm Zaun, nahe dem Fluss. Allerdings hockte der Feind der Flüchtlinge eher „freundwärts“.

Hinter dem letzten Zaun begann das „vorgelagertes Hoheitsgebiet“, ein tückischer Streifen für Flüchtlinge wie für West-Besucher, oft fälschlich „Niemandsland“ genannt – aber in Wirklichkeit noch der letzte Streifen DDR.

Sternstunden der deutschen Sprache: Schreib und sprich, dass dich die Menschen verstehen!

Geschrieben am 10. August 2015 von Paul-Josef Raue.

„Faruuazzit“ heißt verflucht, „tuncli“ die Dunkelheit, „samftmoat“ sanftmütig und „friuntscaffi“ die Freundschaft. So steht es im ersten Wörterbuch der deutschen Sprache mit dem Titel „Abrogans“. Das lateinische Wort für „demütig“ ist das erste Wort im Buch und gab ihm den Titel.

Wir verstehen kaum die ersten deutschen Wörter, die wir althochdeutsch nennen, aber sie haben einen Wert bis in unsere Zeit hinein: Sie übersetzen eine Sprache, die nur wenige verstehen, in eine Sprache, die alle verstehen. Das Lateinische war im achten Jahrhundert, als Mönche aus Freising das Wörterbuch schrieben, die Sprache der Mächtigen und der Priester.

Was Mönchen vor vielen Jahrhunderten gelang, ist auch heute – erst recht in unserer Demokratie – eine Aufgabe von Wert: Schreib so und sprich so, dass dich die Menschen verstehen! Nicht die Kirche ist noch der Verursacher der Unverständlichkeit, sondern alle, die ihren Jargon sprechen, um ihre Absichten zu verschleiern oder sich abzugrenzen oder einfach – wie die Liebhaber der Anglizismen – modern zu wirken.

„Abrogans“ zählt zu den Sternstunden deutscher Sprache, ist eine von 107, die in dem Buch „Edelsteine“ beschrieben werden: Von den Merseburger Zaubersprüchen über Luthers Übersetzung der Bibel und Bachs „Matthäus-Passion“ zu Kants „Was ist Aufklärung?“ und Goethes „Faust“.

Wie oft ist die Gegenwart zu nah, um schon ein klares Urteil zu fassen. Dennoch ist die Auswahl der „Sternstunden“ zeitgenössischer Texte sinnvoll: Das Grundgesetz beispielsweise oder Erwin Strittmatters „Notstandsliebe aus der Zeit der Bomben“, die Micky-Maus-Übersetzungen von Erika Fuchs („dem Ingenör ist nichts zu schwör“), aber auch die Herbert Zimmermanns Reportage vom WM-Endspiel in Bern 1954 – auch oder gerade weil der Kommentator in den letzten Minuten komplett die Fassung verlor: „Logik, Grammatik und Aussprache gingen ganz eigene Wege, die aber genau den irrationalen Windungen folgten, in denen sich die Gefühle der Zuhörer bewegten.“ Ergänzt sei: Man muss es hören, nicht lesen.

Andere „Sternstunden“ sind historische, aber keine sprachlichen – wie  der Beipack-Zettel zur ersten Antibaby-Pille in Deutschland: Zwar „eine Revolution der Sozialgeschichte“, aber wegen der ungelenk formulierten Lüge auf dem Zettel keine Sternstunde der Sprache ebenso wenig wie der „2+4-Vertrag“; die Präambel besteht aus einem Satz mit über 400 Wörtern, „der das Verständnis mehr erschwert als fördert“.

So wird, ähnlich wie mit Gaucks Rede auf der Westerplatte 2014, der Sprachliebhaber zum Historiker: „Wie wichtig diese Worte sind“, begründet Walter Krämer die Wahl der Gauck-Rede. Aber da schreiben sie schon ein anderes Buch, das mit der Sprache nur am Rande zu tun hat.

Max Behland, Walter Krämer, Reiner Pogarell (Hg): Edelsteine – 107 Sternstunden deutscher Sprache. IFB-Verlag, 672 Seiten, 25 Euro

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter,  10. August 2015, erweiterte Fassung

Wie doof ist Alpha-Kevin? Ein Jugendwort ist politisch nicht korrekt (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 24. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Verstehen Sie die Sprache der Jugend? Wenn Sie schon im reifen Alter sind und den Kopf schütteln: Seien Sie froh!

Hinter den meist unverständlichen Wörtern verbirgt sich bisweilen so viel Beleidigung und Häme, dass es in den Balken der Moral ächzt, stöhnt und kracht. „Alpha-Kevin“ ist solch eine Schöpfung: Wer so genannt wird, gilt als doof oder gleich als Dümmster der Welt.

Die Wendung ist so beliebt, dass sie glatt die Wahl zum „Jugendwort des Jahres“ gewonnen hätte. Fast jeder Zweite stimmte im Internet für den Alpha-Kevin ab. Doch neben der Zustimmung bekam der Langenscheidt-Verlag, der die Wahl organisiert, reichlich Online-Prügel – und nahm das Wort von der Liste mit der Begründung:

„Wir haben viel von euch gehört und spüren die persönliche Betroffenheit über die Auswahl von ,Alpha-Kevin‘. Es lag uns fern, konkrete Personen zu diskriminieren.“

Haben sich die Kevins beschwert? Jene Jünglinge, denen ihre Eltern den Namen verpassten, nachdem sie „Kevin allein zu Haus“ im Kino gesehen hatten?

Also muss die Kanzlerin ausbaden, dass Kevin beleidigt ist – was, noch einmal bemerkt, Sinn des Wortes ist. Ohne Alpha-Kevin steht „merkeln“ – mit weitem Abstand – an der Spitze.

Da sage noch einer, unsere Jugend sei unpolitisch. Merkeln steht für: Probleme aussitzen und ausschweigen. Die Kanzlerin, seit zehn Jahren im Amt, hat lange gebraucht, um wie Obama, Wulff und der Freiherr von Guttenberg ein eigenes Verb zu bekommen: “Obamern“ stand für intensives Abhören, „wulffen“ für das Spiel mit der Wahrheit oder das Vollquatschen der Mailbox und „guttenbergen“ für abschreiben, anspielend auf seine Doktorarbeit, an der er zu viele Mitschreiber beteiligt hatte.

Jugend ist nicht politisch korrekt, Jugend spielt mit den Autoritäten, mit Sprache und mit sich selber. Ein aussichtsreicher Kandidat für das Jugendwort des Jahres ist auch „Smombie“ – eine Zusammensetzung aus Smartphone und Zombie.

Wenn Sie also einen Menschen auf der Straße sehen, den Blick auf sein Smartphone gesenkt – dann rufen Sie einfach: Hi, Smombie.

 

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 27. Juli 2017 (geplant)

Wer zwei Sprachen spicht, fährt besser Auto (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 19. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.
  • Lernen Kinder fremde Sprachen besser als Erwachsene? Nein.
  • Sollen Zweijährige schon Englisch lernen? Nein.
  • Sind Autofahrer, die mehrere Sprachen beherrschen, bessere Autofahrer? Ja.

Heute beerdigen wir keine Wörter, sondern Vorurteile über Sprache und über das Lernen von Fremdsprachen. Der Sprachforscher Kees de Bot hat in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung gleich mehrere Mythen über die Sprache zerstört:

  1. Erwachsene und ältere Kinder lernen erfolgreicher fremde Sprachen als Kinder – wenn man ihnen dieselbe Zeit zum Lernen gäbe.
  2. Kinder mit zwei oder drei Jahren sind so mit dem Erlernen der Muttersprache beschäftigt, dass es sinnlos ist, ihnen noch Englisch oder eine andere Sprache beizubringen. Einen Effekt erzielt man allerdings, wenn Kinder zwei Sprachen täglich sprechen.
  3. Auch Erwachsene können eine Fremdsprache lernen, wenn sie ein gutes Ohr und gutes Gedächtnis haben. Ob Jung oder Alt: Wer eine fremde Sprache wie seine Muttersprache beherrschen will, muss sehr fleißig sein und begabt. Maximal 15 Prozent derjenigen, die das unbedingt wollen, schaffen es auch.
  4. Wer eine Sprache lernt, vergrößert sein Gehirn, zumindest den Teil des Gehirns, der für Sprache zuständig ist. Wenn wir die Sprache aber nicht mehr sprechen, schrumpft das Gehirn wieder.
  5. Wer ein größeres Gehirn hat, macht weniger Fehler als Leute mit einem kleinen. Das beweist ein Experiment: Kinder sollen Karten zuerst nach Farben, dann nach ihrer Form sortieren. Zweisprachige Kinder machen weniger Fehler als einsprachige.
  6. Wer ein großes Gehirn hat durch seine Mehrsprachigkeit, fährt besser Auto als der einsprachige. In einem Experiment ließen sich mehrsprachige Autofahrer viel weniger ablenken: Sie kamen nicht aus der Spur.
  7. Ein Dialekt ist wie eine Fremdsprache, aber auch Spezialsprachen sind wie Fremdsprachen. Der Wissenschaftler erzählt ein Beispiel: Wer mit dem Bundespräsidenten spricht, äußert sich anders, als wenn er mit seinen Freunden spricht. „Und das ähnelt dem Sprechen in einer Fremdsprache.“

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 20. Juli 2015

Quelle: Süddeutsche Zeitung „Dialektlernen vergrößert das Gehirn“ (Bayern-Teil, 15. Juli 2015)

 

 

 

Leser fordert: Nutzt die automatische Rechtschreibprüfung und die Zeitung wird besser! (Leser fragen)

Geschrieben am 17. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Einem Leser aus Erfurt sind selbst Fehler im Promille-Bereich zu viele Fehler: „Das entschuldigt im Zeitalter der automatischen Rechtschreibeprüfung kaum die vielen Schreibfehler in unseren Zeitungen und Zeitschriften. Oder nutzen so viele Autoren noch die gute alte mechanische Schreibmaschine?“ Er geht so auf eine Kolumne des Chefredakteurs ein, der sich gegen den Vorwurf verteidigt hatte: In der Zeitung gibt es zu viele Fehler.

Auf den Vorschlag der „automatischen Rechtschreibeprüfung“ reagiert der Chefredakteur in seiner samstäglichen Kolumne „Leser fragen“:

Unsere Redakteure nutzen keine Schreibmaschinen mehr, aber sie nutzen auch keine automatischen Rechtschreibe-Programme. Automatische Prüfung bedeutet: Eine Software vergleicht alle Wörter mit denen in einem Wörterbuch. Findet sie das Wort nicht, geht sie von einem Fehler aus und ersetzt es ein durch ein Wort, das ähnlich geschrieben wird.

Eine Zeitung aus Sachsen hatte sich einmal auf einen Automaten verlassen: Der kannte nicht den Ministerpräsidenten Georg Milbradt und verbesserte ihn in: „Georg Milzbrand“.

Der Text wurde so gedruckt, die Zeitung bat um Entschuldigung, der Regierungschef nahm’s gelassen.

Leser einer niedersächsischen Zeitung lasen von „Pennern“ als Bewohner einer Stadt: Der Automat hatte aus den Bürgern von Peine „Penner“ gemacht.

Aus unserer Landeswellen-Moderatorin Nadine Haubold wollte der Automat eine Nadine Raufbold machen. Wir haben es verhindert.

Unsere Sprache lebt, verändert sich, bekommt neue Wörter – und taugt somit nicht für einen Automaten. Wir nehmen gerne zur Kenntnis, wenn die Rechtschreib-Prüfung ein Wort nicht kennt; wir lassen es aber nicht automatisch „korrigieren“.

 

FACEBOOK von Wolfgang Molitor (Stuttgarter Nachrichten) Das Programm bietet an: Eiterpickel für Leitartikel

Wie aus dem traumatischen „Tor für Deutschland“ ein Sprichwort wird (Friedhof der Wörter)

Geschrieben am 11. Juli 2015 von Paul-Josef Raue.

Wenn in Brasilien der Mutter das Milchkännchen auf den Boden fällt, flucht sie: „Gol da Alemanha!“ Wenn der Vater im Zeugnis des Sohnes wieder eine schlechte Note in Mathematik sieht, schüttelt er resignierend den Kopf: „Gol da Alemanha!“

Was in Deutschland kollektiven Jubel auslöste, war in Brasilien ein Schock, der „Schock von Mineirão”, den Namen des Stadions in Belo Horizonte aufnehmend: Dort hatte Deutschland vor einem Jahr 7:1 gegen Brasilien gewonnen – und das auch noch während der Weltmeisterschaft.

Nicht nur Menschen leiden unter schlechten Erfahrungen, die zum Trauma werden wie ein Albtraum, der immer wiederkehrt. Auch Völker können kollektiv leiden – und werden den Albtraum nicht mehr los.

Nach der Halbfinal-Niederlage im eigenen Land wollte die Staatspräsidenten gleich das Trauma bannen und tröstete: „Brasilien wird sich von dem extremen Schmerz erholen!“ Aber einer der Direktoren des Fußballverbands bemühte gar einen Vergleich zum 11. September in New York, der die Tiefe des Schmerzes bezeugt: „Du siehst, wie der erste Turm zerstört wird, dann der zweite…“

„Tor für Deutschland“ ist zum Sprichwort in Brasilien geworden und wird es wohl noch in hundert Jahren sein, wenn kaum einer mehr den historischen Hintergrund erinnert.

Sprichwörter entstehen bisweilen nach verlorenen Schlachten, ob im Fußball oder in wirklichen Kriegen. Wer weiß noch bei uns, woher der Spruch stammt: „Das ist eine Tataren-Nachricht“?

Während des Krimkriegs belagerten Türken, Franzosen und Briten die russische Hafenstadt Sewastopol. 1854 meldete ein Tatare im Dienste der Türken den Fall Sewastopols. Das war eine Lüge, die von den Zeitungen verbreitet wurde: Die Politiker glaubten ihr, die Börse reagierte heftig.

Seit diesem Tag nennen wir eine Lüge eine Tatarennachricht, wenn sie alle glauben und wenn sie große Wirkung erzielt. Eine Tatarennachricht heute ist eine Schreckensmeldung, die alle tief beeindruckt, die wir düster und unbestimmt „die Märkte“ nennen.

Man könnte auch das Internet ein Tataren-Netz nennen.

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Thüringer Allgemeine, Friedhof der Wörter, 13. Juli 2015 (geplant)

 

 

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